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Berlin
20 Jahre Folsom Europe: "Hallo Leute, uns gibt es!"
Diese Woche findet zum 20. Mal das queere Fetisch-Treffen "Folsom Europe" in Berlin statt. Wie hat sich die Szene über die Zeit verändert und vor welchen Herausforderungen steht sie?

Szene aus dem Jahr 2017: Folsom Europe ist das größte Festival für die queere Leder- und Fetischszene auf dem Kontinent (Bild: IMAGO / ZUMA Press)
- Von Michael Freckmann
7. September 2023, 10:12h 5 Min.
Einmal im Jahr reisen queere Kinkster, Fetischist*innen und SM-Liebhaber*innen nach Berlin zur Folsom Europe. Sie freuen sich auf die vielen Partys in Clubs und Bars dort. Für viele steht das Kennenlernen und Wiedersehen mit Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern der Welt im Mittelpunkt. Es ist auch eine Gelegenheit, die eigenen Internetbekanntschaften endlich zum ersten Mal im echten Leben zu sehen. Am Samstag folgt dann das große Straßenfest in der Fugger- und Welserstraße. Man trifft sich etwa im Leder- oder Gummioutfit, sieht Fesselvorführungen oder kann sich über die neusten Trends der Szene informieren.
"Dass du dich in deinem Outfit auf die Straße traust, ist ein politisches Statement, das hat nicht in erster Linie mit Sex zu tun", beschreibt Dirk Becker die Faszination von Folsom Europe, der kürzlich im Querverlag das Buch "Die Lederszene: Ein Ort der Sehnsucht" (Amazon-Affiliate-Link ) geschrieben hat. "Du begreifst dich endlich mal als Teil eines Ganzen. Es geht um Zugehörigkeit. Du merkst, es gibt andere Leute, die ähnlich empfinden. Und das ist dann einfach ein unglaubliches Gefühl."
Rückblickend auf den Emanzipationskampf der queeren Szene fügt er hinzu: "Und wenn wir eins gelernt haben aus den Anfängen der Schwulenbewegung, ist es, wie wichtig Sichtbarkeit ist. Das Signal zu senden: Hallo Leute, uns gibt es!"
Ein Straßenfest als Safe Space

Mitglied des Orgateams: Christian Nowak (Bild: Privat)
So sieht es auch Christian Nowak aus dem Orga-Team der Folsom Europe: "Das Tragen eines Halsbandes oder einer Kette um den Hals ist weniger sexuell exhibitionistisch, sondern vielmehr Zeichen der Gruppenzugehörigkeit und Identität." Früher hätten vorwiegend Männer der Leder- und SM-Szene das Event dominiert. Nun kämen vermehrt junge Erwachsene zur Folsom und freuten sich besonders darauf, ihre Fetische im Safe Space des Straßenfestes ausleben zu können und andere Menschen zu treffen. Besonders der bei Jüngeren beliebte Puppy-Fetisch habe in den letzten Jahren stark zugenommen.
Über den Zeitraum von 20 Jahren hinweg hat sich die Szene und auch das Folsom-Event merklich verändert, bemerkt Autor Dirk Becker. Die Fetisch-Szene habe sich seiner Ansicht nach in dieser Zeit sehr fragmentiert. Viele Fetische hätten in den letzten Jahren eigene Räume erobert und mittlerweile auch alle ihre eigenen Partys etabliert. Folsom Europe sei über die Jahre zudem viel internationaler geworden. Die Menschen kämen aus Australien, Los Angeles oder Kanada extra für die Folsom nach Berlin.
Kritisch sieht Becker, dass es in der Szene seiner Meinung nach auch kommerzieller zugehe. "Ich will nicht verallgemeinern, aber manchmal habe ich den Eindruck, es geht darum, dass man mehrere tausend Euro am Körper mit sich herumträgt." Das finde er etwas schade. "Auch das Thema trans kommt in der schwulen Fetisch-Szene immer noch zu wenig vor", sagt Becker.
Gegründet als Ableger aus San Francisco
Angefangen hat es alles vor 20 Jahren noch etwas kleiner. Der Verein wurde im Oktober 2003 gegründet, und das erste Straßenfest fand dann im Jahr 2004 statt. Es war als Ableger der in San Francisco in der gleichnamigen Straße stattfindenden Folsom Street Fair gedacht. Und auch ganz so reibungslos war der Weg des Berliner Events durch die 20 Jahre hindurch nicht. So gab es in den ersten Jahren eine politische Kampagne gegen die Veranstaltung, befeuert unter anderem von der Boulevardpresse und der CDU (queer.de berichtete). Mit dem damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (SPD), gab es aber auch einen prominenten Fürsprecher. Er schrieb 2005 sogar ein kurzes Grußwort (queer.de berichtete).

Gefesselt durch den Regenbogenkiez: Szene aus dem Jahr 2021 (Bild: IMAGO / Rüdiger Wölk)
Im Orga-Team blickt man stolz auf diese Entwicklung der letzten Jahre zurück: "Dass das Straßenfest jährlich stattfindet, muss nun nicht mehr jedes Jahr politisch erkämpft werden, sondern gehört zur gesellschaftlichen Wirklichkeit im Schöneberger Kiez fest dazu", erklärt Christian Nowak. Zudem gebe es für die regionale Fetischszene auch "starke Synergieeffekte".
Kampf um die "Daseinsberechtigung"
Bei aller Euphorie rund um das 20-jährige Jubiläum muss die queere Fetisch-Szene aber immer wieder um ihre "Daseinsberechtigung" kämpfen, wie Christian Nowak es ausdrückt. Noch bis vor kurzem musste sich die Fetisch-Szene mit Vorurteilen herumschlagen. "Es gab zum Beispiel den Vorwurf der Gewaltverherrlichung und Brutalität, was natürlich im Lichte dessen, dass gerade bei BDSM-Praktiken Einvernehmlichkeit ein Schlüsselelement ist, grotesk erscheint." Häufig gebe es zudem den Vorwurf der "übermäßigen Sexualisierung", mit dem die Szene umgehen müsse.
Auch gibt es innerhalb der queeren Fetisch-Szene ähnliche Schwierigkeiten, wie in der gesamten queeren Community. So kämpft manch ein Kinkster mit dem Druck, der aus bestimmten Schönheits-"Idealen" resultiert. Und der Angst, diesen nicht zu genügen. In einem Bereich, in dem der eigene Fetisch über Outfits vermittelt wird, ist dies oft noch einmal zusätzlich belastend. Dieser Druck habe sich durch die sozialen Medien noch verstärkt, meint Christian Nowak aus dem Orga-Team der Folsom.
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Unerwünscht beim CSD
Besonders die Reibereien zwischen queerer und Fetisch-Community ärgern Autor Dirk Becker. So hatte etwa der CSD Bremen 2021 ein Fetischverbot verkündet (queer.de berichtete). Becker erkennt hier drin eine Kontinuität: "Das ist ein uralter Kampf innerhalb der queeren Community: Wir wollen die "sauberen" Schwulen und Lesben nach vorne schieben, damit die Heteros keine Angst vor uns haben", sagt Becker. "Ich denke, wir machen es uns tatsächlich manchmal unnötig schwer."
Dies sieht Christian Nowak ähnlich, lässt sich davon aber nicht entmutigen. Das Ziel, an dem die Folsom-Orga-Leute weiterhin arbeiteten, bleibe: "Eine Community, in der sich niemand für seinen Fetisch schämen muss, ob in der Szene selbst oder in der gesamten Gesellschaft."

Links zum Thema:
» Offizielle Homepage von Folsom Europe
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