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Kinostart

Transition als poetische Kraft

Für seinen außergewöhnlichen Film "Orlando, meine politische Biografie" wurde der Philosoph und trans Aktivist Paul B. Preciado auf der Berlinale mit einem Teddy Award ausgezeichnet. Jetzt ist die experimentelle Doku im Kino zu sehen.


"Power to the people": Szene aus "Orlando, meine politische Biografie" (Bild: Salzgeber)

Ein junger Adliger im 16. Jahrhundert, der bei Königin Elisabeth I. hohes Ansehen genießt und von ihr einen Landsitz erhält, lernt während des Frostjahrmarkts eine geheimnisvolle russische Gräfin namens Sasha kennen, in die er sich verliebt, die ihn jedoch nach einer kurzen leidenschaftlichen Affäre verlässt und zurück nach Russland geht. Der junge Adlige beschäftigt sich daraufhin mit seinem Landgut und schriftstellerischen Arbeiten, bis er sich – um einer ihn zunehmend belästigenden Verehrerin zu entfliehen – nach Konstantinopel versetzen lässt.

Dort fällt er in einer durch revolutionäre Unruhen blutigen Nacht in einen tagelang andauernden Schlaf, aus dem heraus er/sie als Frau erwacht, schließlich nach England zurückkehrt, wo sie gerichtlich um ihren Titel und ihre Ländereien streiten muss und dann die Jahrhunderte durchlebt, in denen sie immer weiter an ihrem Gedicht "The Oak Tree" schreibt, bis zu dessen Veröffentlichung im Jahr 1928, das Jahr, in dem auch der für die damalige Zeit thematisch höchst ungewöhnliche Roman mit ebendieser Geschichte erschienen ist: "Orlando" von Virginia Woolf, die zu dieser Geschichte, mit der sie die herkömmlichen Rollen und Geschlechterverhältnisse von Mann und Frau grundsätzlich in Frage stellt, durch ihre Liebesbeziehung zu der Schriftstellerin und Gartengestalterin Vita Sackville-West inspiriert wurde.

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25 queere Orlandos zwischen 8 und 70 Jahren


Poster zum Film: "Orlando, meine politische Biografie" startet am 14. September 2023 im Kino und ist aktuell auch beim Queerfilmfestival zu sehen

Der Philosoph und trans Aktivist Paul B. Preciado hat mit "Orlando, meine politische Biografie" einen filmischen Brief an Virginia Woolf geschrieben, um mit ihr, die seine Biografie, wie er feststellt, schon vor seiner Geburt geschrieben habe, einen Dialog zu führen, der somit nach ihrem biologischen Tod stattfindet, denn: "Das Leben beginnt, bevor wir geboren werden, und endet natürlich lange, nachdem wir sterben."

Die Idee der Verwobenheit der individuellen Biografie in der weit über das biologische Leben des Einzelnen hinausgehenden Geschichte durchzieht den gesamten Film und ist Teil seiner politischen Perspektive, die die individuelle Selbstfindung und Entfaltung als untrennbar verbunden mit den Bedingungen und binären Normen des Gesellschaftssystems betrachtet.

Preciado als im Film immer wieder hörbarer Briefschreiber lässt sich selbst und die 25 trans und nicht-binären Menschen im Alter zwischen 8 und 70 Jahren, die in seinem Film zu Wort kommen, in die Geschichte, die Woolf erzählt, eintauchen. Alle von ihnen schlüpfen in die Rolle Orlandos. Sie verkörpern und erzählen ein Stück der Orlando-Geschichte und zugleich etwas von ihrer ganz persönlichen Geschichte. Der Film verbindet Roman-Elemente, Motive und Passagen mit Aspekten der realen Biografien der realen Personen so, dass die Unterschiede nicht selten verschwimmen: Die biografische Reflexion und die Fiktion der Romanwelt verschmelzen miteinander, was ebenfalls wesentlich für die Philosophie des Films ist, der den Zuschauer*­innen trans und nicht-binäre Identitäten präsentiert, die in langem Kampf errungen wurden.

Ein durch und durch poetisches Werk

Hier widerspricht Preciado dezidiert auch der in Woolfs Roman steckenden Vorstellung eines im Schlaf geschehenden Transitions-Prozesses: "Du konntest es nicht wissen: Wir riskieren jedes Mal unser Leben." Den Kampf, den Transition zumeist bedeutet, zeigt der Film besonders in einer kleinen Szene in einer Arztpraxis als Sinnbild der Psychiatrisierung des Uneinsseins mit dem einem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht. Gefolgt wird diese Szene von einem geradezu disco-like aufgedrehten Song über "Pharmakoliberation", die Befreiung durch synthetische Hormone.

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Preciados Film ist nun allerdings weder larmoyant noch anklagend noch marktschreierisch. Er ist ein durch und durch poetisches Werk, dessen feinsinnige Sprache nicht weniger wichtig als die Bildgestaltung ist. Er stellt seine Protagonist*innen, also die 25 in die Rolle von Orlando eintauchenden Personen, mit Wort und Bild als poetische Wesen vor, die eine jenseits der Binarität sich bewegende Sprache für sich und ihre Welt gefunden haben. Mit schlichten Mitteln und gleichzeitig permanenter Illusionsbrechung, bei der wir durch explizite Hinweise (zum Beispiel "In diesem Film werde ich Virginia Woolfs Orlando sein") und Szenenkonstellationen (etwa sichtbare Filmkameras und Studioaufbauten) ständig darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir uns in einem Film bewegen, gelingt es Preciado, die Menschen und damit auch ihre Orlando-Geschichten zum Leuchten zu bringen.

So scheinbar einfach wie der Film einerseits gestaltet ist, so anspruchsvoll und durchaus sperrig ist er allerdings auch: durch seinen außergewöhnlich dichtungsnahen Sprachfokus, durch seine Langsamkeit, durch seine konsequente Verweigerung von gechillter Illusion oder Eindeutigkeit und durch seine, wenngleich facettenreich gestaltete Aneinanderreihung von Orlando-Personen und Geschichten. Preciados Film, der auf der Berlinale unter anderem mit dem Teddy für den Besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, ist somit nichts für Leute, die zum Thema Trans mal eben eine unterhaltsam-flotte Geschichte ansehen möchten. Er ist das Ergebnis intensiver Auseinandersetzung und verlangt eine solche auch von den Zuschauer*innen, wenn sie das Ganze nicht einfach an sich abgleiten lassen wollen.

Infos zum Film

Orlando, meine politische Biografie. Experimenteller Dokumentarfilm. Frankreich 2023. Regie: Paul B. Preciado. Mitwirkende: Oscar-Roza Miller, Janis Sahraoui, Liz Christin, Elios Levy, Victor Marzouk, Paul B. Preciado, Kori Ceballos, Vanasay Khamphommala, Ruben Rizza, Julia Postollec, Amir Baylly, Naëlle Dariya, Jenny Bel'Air, Emma Avena, Lillie, Arthur, Eleonore, La Bourette, Noam Iroual, Iris Crosnier, Clara Deshayes, Castiel Emery, Fréderic Pierrot, Nathan Callot, Pierre et Gilles, Tristana Gray Martyr, Le Filip, Miss Drinks, Tom Dekel, Virginie Despentes. Laufzeit: 98 Minuten. Sprache: französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln. FSK 12. Verleih: Salzgeber. Kinostart: 14. September 2023. Der Film ist aktuell auch beim Queerfilmfestival zu sehen
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