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Sachbuch
Die homosexuelle Identität Albrecht Dürers
In seinem Bildband "Dürer und die Männer" geht Reinhard Bröker der homosexuellen Selbstfindung des deutschen Ausnahmekünstlers auf die Spur. Ein Werk von höchster Brisanz.

Homosexuelle Selbstbekenntnisse Dürers: Coming-out mit stark aussamender Pflanze (1493); in der Kleidung venezianischer Sodomiten (1498); als Dandy im Pelz mit V-Geste (1500)
16. September 2023, 03:12h 8 Min. Von
Seit rund fünfhundert Jahren wird Albrecht Dürer als Leitfigur der deutschen Kultur verehrt, obwohl dieser einen ungarischen Migrationshintergrund hatte – und Männer begehrte. Letzteres wird allerdings bis heute verschämt unter den Teppich gekehrt. Dabei war seine homoerotische Neigung für jene, die ein Auge dafür hatten, nie wirklich ein Geheimnis.
Die Kunstwelt, die jahrhundertelang einen Kult um Dürer machte, schaute jedoch weg, wenn es um dessen Sexualität ging. Was nicht sein durfte, wurde nicht gesehen. So auch nicht von der katholischen Kirche, die in den stürmischen Zeiten der Reformation in Dürer lediglich einen Unterstützer erkennen wollte: einen leidenschaftlichen Christen, der es verstand, die Gläubigen mit seinen realistischen und zutiefst bewegenden Heiligendarstellungen zu fesseln.
Dürers libidinöser Blick auf Männer
Eine Schlüsselrolle kam Dürer auch mit der Entstehung des deutschen Nationalstaats zu – er wurde neben Goethe, Schiller und Wagner zu einer der wichtigsten kulturellen Identifikationsfiguren. Dabei hat Dürers libidinöser Blick auf Männer zumindest die dichterische Phantasie von Richard Wagner angeregt. Das belegt jedenfalls das von Wagner eigenhändig verfasste Libretto seiner Oper "Die Meistersinger von Nürnberg".
Wagner lässt gleich in der ersten Szene die weibliche Hauptfigur den begehrenden Blick Dürers einnehmen. Als sich Eva innerhalb weniger Stunden Hals über Kopf in einen Ritter verliebt und sich gegenüber ihrer Amme zu erklären versucht, gibt sie an, der Fremde habe in ihr ein erotisches Wunschbild angesprochen: "Wie David im Bild. Der, des Kiesel Goliath trafen, das Schwert im Gurt, die Schleuder zur Hand, das Haupt von lichten Locken umstrahlt, wie ihn uns Meister Dürer gemalt!"
Dieser Schilderung zufolge sah Dürers David nicht nur fesch aus, sondern verfügte auch noch über eine unmittelbar elektrisierende Ausstrahlung. Wagner dichtete seine Zeilen im 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit muss sich auch in Deutschland längst herumgesprochen haben, dass der siegreiche David in der italienischen Renaissance ein beliebtes Motiv darstellte, um das homosexuelles Begehren der jeweiligen Künstler zum Ausdruck zu bringen – von Donatello über Verrocchio bis Michelangelo. Doch wo lässt sich Dürers Porträt des jungen David eigentlich bewundern? Das Internet gibt nichts dazu her. In Diskussionsforen zu dieser Frage wird darauf verwiesen, keine Angaben dazu im Dürer-Gesamtverzeichnis gefunden zu haben. Möglicherweise entstammt das Bild lediglich der dichterischen Gedankenwelt Richard Wagners und dient als versteckter Hinweis auf Dürers homoerotische Vorlieben – oder es ist verschollen.
Selbstbewusst homosexuell vor 500 Jahren

Auf dem Buchcover: Das erste bekannte Selbstbildnis eines Künstlers, der sich komplett nackt darstellte
Mit einem entsprechenden Porträt des jungen Davids oder einem Hinweis auf dessen Verbleib kann auch der soeben erschienene Band "Dürer und die Männer" (Amazon-Affiliate-Link ) aus dem Michael-Imhof-Verlag nicht dienen. Aber das ist ohnehin nicht nötig. Dem Autor Reinhard Bröker gelingt auch so eine konsistente, durchgehend plausible und vor allem herausfordernde Abhandlung zu Dürers Sexualität – und dessen Auseinandersetzung mit sich selbst.
Überraschend ist dabei weniger die mit zahlreichen Indizien belegte These, dass Dürer tatsächlich Männer begehrte. Mit viel größerer Brisanz kommt Brökers Annahme daher, Albrecht Dürer sei selbstbewusst homosexuell gewesen – auch wenn vor rund fünfhundert Jahren lediglich der vage Begriff des gesellschaftlich geächteten "Sodomiten" existierte.
"Er wollte für die, die es sehen wollten und konnten, als schwuler Künstler sichtbar, aber nicht für jeden erkennbar sein", schreibt der Autor in seiner Einleitung. Seine Homosexualität habe Dürer "in decodierbaren Zeichen" deutlich gemacht. Bröker veranschaulicht sie anhand zahlreicher Abbildungen. Dazu zählt etwa die "besonders stark aussamende Pflanze" Eryngium, die der 22-jährige Künstler in einem frühen Selbstbildnis in Händen hält und die Bröker als "erotisches Attribut" interpretiert. Zusammen mit der Inschrift "My sach die gat als es oben schtat" (Meine Sachen werden von oben bestimmt) wird sie "zu einem Bekenntnis seiner Homosexualität, die Dürer als ein von Gott gegebenes Schicksal erlebt": das Coming-out des Künstlers, das sich allerdings schwierig gestaltet und mit Rückschlägen gespickt ist. Auf Drängen seines Vaters willigt er kurz darauf dann doch zur arrangierten Ehe mit Agnes Frey ein, flüchtet allerdings nur wenige Monate später aus Nürnberg und begibt sich auf eine längere Reise nach Oberitalien.
"In der Mode der sodomitischen Männer"
In seinem 1498 entstandenen "Selbstbildnis mit Landschaft" zeigt sich Dürer mit tief ausgeschnittenem Dekolleté als bestimmten Typus von Mann, ganz "in der Mode der sodomitischen Männer" aus Venedig, so Bröker, um sich "im homosexuellen Kontext als Gleichgesinnter" zu offenbaren. Dürer sei dabei von dem Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer spezifischen Subkultur getrieben gewesen, "mit spezifischen Treffpunkten und Interaktionsmodellen". Dazu zählten etwa Handschuhe als Erkennungsmerkmal, die man fallen ließ, "um eine Begegnung und ein Gespräch mit einem Unbekannten zu provozieren, ohne ihn selbst ansprechen zu müssen."
In seinem "Selbstbildnis im Pelzrock" geht Dürer noch einen Schritt weiter, inszeniert sich als Dandy und nutzt den Pelz im Sinne eines Fetischs, als "ein Symbol homosexueller Sinnlichkeit". Zudem formt er mit der rechten Hand Zeige- und Mittelfinger zur V-Geste als "Erkennungszeichen für die Bereitschaft zu aktivem oder passivem Penetrationssex".
Dürers sexuelle Faszination für männliche Protzerei

Lust, Missbrauch, Gewalt: Jüngling mit Henker (1493)
Sexuell konnotiert sind zudem zahlreiche Werke Dürers, in denen das Schwert zur Metapher für männliche Geschlechtsteile wird: "harte, zur Penetration fähige Schafte, die die strammen Soldaten mit sich tragen". Zunächst einmal bringen sie Dürers sexuelle Faszination für männliche Protzerei zum Ausdruck. Bröker zeigt uns zudem, wie Dürer mit Hilfe von Linien auf spezifische Sexpraktiken verweist – etwa, indem er den Schwertgriffknauf eines lüstern dreinschauenden Henkers mit dem Mund seines männlichen Opfers auf eine Horizontale bringt und damit auf einen vor der Exekution erzwungenen Oralverkehr verweist. Das Buch wird so zu einer – mitunter auch grausamen – Schule des Sehens. Dem 1496 entstandenen "Männerbad", dem bekanntesten homoerotischen Motiv Dürers, ist ein eigenes und durchaus erhellendes Kapitel gewidmet.
Nicht alle werden Brökers Argumentation folgen, die er Kapitel für Kapitel in detektivischer Kleinarbeit und in klarer, gut verständlicher Sprache aufbaut. Vor allem nicht die hartgesottenen Dürer-Experten, die von ihrer Leitfigur bislang ein geradezu gegensätzliches Bild pflegten. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass sich bei dem einen oder anderen schwulen Leser eine reflexhafte Abwehr einstellt. Kein Wunder – handelt es sich mitunter um eine Melange aus Sex und Gewalt, die durchaus als Zumutung empfunden werden könnte. Lässt man sich aber darauf ein, erfährt man nicht nur etwas über die Kunst und das homosexuelle Leben in der Renaissance, man lernt auch etwas über das hier und heute. Und über sich selbst.
Von Albrecht Dürer zu Tom of Finland
Bröker nimmt uns mit auf eine sehr modern anmutende Reise der homosexuellen Identitätsfindung. Dabei zeigt er nicht nur, wie inspirierend und in kulturellem Sinne schöpferisch der schwule Lebensstil und der Genuss von Sexualität sein können, sondern scheut auch nicht den Blick in den Abgrund: gesellschaftliche Ausgrenzung, Ächtung und Verfolgung, eine grassierende Doppelmoral, harte Bestrafung und sexueller Missbrauch. Ganz zu schweigen von der Hölle der Selbstzweifel oder der Furcht, sich beim Sex mit einer tödlichen Krankheit anzustecken.
Vieles, was uns Bröker anhand von Dürers jahrhundertealter Bilder aufzeigt, spiegelt sich in der schwulen Erfahrungswelt von heute – letztendlich auch die Utopie einer Gesellschaft, in der Menschen respektvoll miteinander umgehen. Das Buch enthält nicht nur zahlreiche Abbildungen von Werken Dürers und seiner Zeitgenossen, sondern zieht in seiner reichen Bebilderung eine Linie zu zeitgenössischen schwulen Künstlern wie Tom of Finland oder Marc Martin. Die weit verbreitete These vom schwulen Lebensstil, der erst im 19. Jahrhundert erfunden wurde, wird sich damit nicht länger aufrechterhalten lassen.
Die Dürer-Expert*innen verstummten
Wer einmal mit der Lektüre angefangen hat, legt sie so schnell nicht mehr zur Seite. Die Liste der Quellenangaben ist umfangreich. Dass Reinhard Bröker kein ausgewiesener Dürer-Experte ist und keinen Lehrstuhl für Kunstgeschichte an einer Universität hat, wird man ihm in Debatten möglicherweise ankreiden, auch wenn er ein Studium in Germanistik, Philosophie und Geschichte absolviert hat. Gegenüber dem Thema Homosexualität wird ohnehin meist abgeblockt – dagegen hilft mitunter auch eine exquisite Recherche nicht. "Ich habe des Öfteren versucht, mich mit Kunsthistorikern, die über Dürer gearbeitet haben, per Email auszutauschen", so Bröker. "Kaum hatte ich meinen Ansatz einer homoerotischen Lesart dargelegt, verstummte mein Gegenüber." Das klingt nach der üblichen Praxis des Straightwashing in der Kunstgeschichte – oder auch nach latenter Homophobie, wie sie bereits eine Autorin des Sammelbandes "Queerness in der Kunst der frühen Neuzeit" beklagt hatte.
Bröker erfuhr jedoch auch Unterstützung und Ermutigung – unter anderem von Matthias Mende, dem ehemaligen Leiter der Grafischen Sammlung in Nürnberg. Letztlich wird die Dürerforschung, die sich bislang nur zaghaft mit der Sexualität des Ausnahmekünstlers auseinandergesetzt hat, über Brökers Arbeit nicht einfach so hinwegsehen können. Mehr als sieben Jahre hinweg hat er in nächtlichen Stunden an seiner These über den "eindeutig zweideutigen Blick Dürers" gearbeitet. Es hat sich gelohnt.
Reinhard Bröker: Dürer und die Männer. Eindeutig zweideutig. 176 Seiten. 169 Farb- und 24 SW-Abbildungen. Michael Imhof Verlag. Petersberg 2023. Hardcoverausgabe: 32,95 € (ISBN 978-3-7319-1122-7)

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