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Interview
Netta: "Die LGBTI-Community ist meine Familie!"
Ihr Eurovision-Sieg machte Netta weit über die Grenzen von Tel Aviv hinaus bekannt. Wie ihr Bezug zu queeren Menschen ist, wie sie auf den ESC zurückblickt und warum sie Nicole Scherzinger mit Cola vollgeschüttet hat, erzählt sie im Interview.

Netta (Barzilai) gewann 2018 den 63. Eurovision Song Contest für Israel (Bild: Levi Eran)
17. September 2023, 05:09h 6 Min. Von
Der 12. Mai 2018 stellte das Leben von Netta Barzilai, die den meisten unter ihrem Künstlernamen Netta bekannt ist, für immer auf den Kopf. Denn ihr Sieg beim 63. Eurovision Song Contest machte sie über Nacht weltweit zum Star. In Deutschland schaffte es ihr Song "Toy" auf einen stolzen 19. Platz der Singlecharts.
Anfang September spielte sie nun vier Shows in Amsterdam, London, Köln und Berlin und geht im November auf große US-Tour. Unser Reporter Fabian Girschick traf sie am 4. September im Rahmen ihres Hauptstadt-Stopps zum Interview im Lido und konnte ihr einige Geschichten entlocken, die sie so wahrscheinlich noch nie öffentlich erzählt hat.
Willkommen in Berlin, was magst du am meisten an der deutschen Hauptstadt?
Zunächst einmal muss ich sagen, dass ich hier schon öfters mit meiner Mutter unterwegs war. Wir verlieren uns regelmäßig in Kunstgeschäften und haben auch schon an einer Graffiti-Tour teilgenommen, im Rahmen derer uns die beeindruckende Geschichte von Graffitis erzählt wurde. Berlin erinnert mich auch sehr an Tel Aviv, da beide Städte eine hohe Komplexität und multikulturelle Bevölkerung haben. Ich finde es sehr schön zu sehen, wie florierend es sein kann, wenn sich diese Menschen gegenseitig akzeptieren und miteinander ins Gespräch treten. Ich finde, Berlin ist eine sehr liberale Stadt, und ich bin gespannt, wer alles zu meiner Berliner Show kommen wird.
Hast du Berlin heute (also am Tourtag) auch schon besichtigt? Oder was hast du den ganzen Tag über getrieben?
Ich hatte heute Morgen ein Content-Shooting und danach habe ich mich mit meinem wundervollen Team von Universal Music getroffen. Zudem habe ich ein tolles Bad genommen, da ich dringend meine Schönheit und meinen Glamour für die Show heute Abend gebraucht habe und meinen Kopf freibekommen wollte. Anschließend bin ich dann in ein asiatisches Restaurant gegangen, da ich die asiatische Küche liebe. Aber wirklich Zeit, um die Tour-Städte zu erkunden, habe ich nie. Das erlaubt mein Zeitplan schlichtweg nicht. Und ich bin auch nicht Beyoncé und kann es mir einfach nicht leisten, ein paar Tage in meinen Tour-Städten dran zu hängen.
Was magst du am Tour-Leben denn am meisten?
Clubsandwiches im Hotelzimmer. (lacht) Nein, was ich tatsächlich am meisten liebe, ist es, meine Fans nach den Shows zu treffen und sie zu fragen, wie sie auf mich aufmerksam geworden sind. Ich weiß, dass viele Menschen mich vom Eurovision Song Contest kennen. Aber in den USA kennen mich die meisten zum Beispiel von TikTok, insbesondere durch meine Show "Netta''s Office", die ich während der Covid-Pandemie gemacht habe. Man muss aber zugeben, dass das Tour-Leben nicht immer einfach ist. Die viele Liebe, die man von den Fans nach den Shows bekommt, kann einen auch überwältigen. Gleichzeitig weiß ich aber auch, dass es meine Bestimmung ist, andere Menschen glücklich zu machen und sie mit meiner Musik zu berühren.
Kannst du dich an den witzigsten Moment mit einem Fan erinnern?
Nicole Scherzinger von den Pussycat Dolls kam eines Tages nach meiner Show in Los Angeles in meine Garderobe, was mich sehr nervös gemacht hat. Dabei habe ich ihr aus Versehen ein Glas Cola über ihr komplettes Outfit geschüttet und sie anschließend gesäubert. Das war sehr witzig, da sich das total natürlich anfühlte, sie zu säubern und zu berühren. Aber um noch eine weitere Geschichte mit einem "normalen" Fan zu erzählen: Kurz nach dem ESC bin ich auf dem Tel Aviv Pride aufgetreten und habe mich hierfür in meinem Hotelzimmer fertiggemacht. Im Korridor des Hotels kam dann ein fünfjähriger Junge auf mich und meine Crew zugelaufen und schrie die ganze Zeit zu seiner Mutter: "Mama, schau mal, die Königin, die Königin!" Für ihn war ich tatsächlich "die Königin", obwohl ich nur beim ESC gewonnen habe. Das war wirklich sehr witzig.
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Was viele vielleicht nicht über dich wissen, ist, dass du als Kind mal in Nigeria gelebt hast. Hast du Erinnerungen an diese Zeit?
Ich weiß noch, dass es für mich sehr traurig war, als wir wieder aus Nigeria weggezogen sind. Denn anschließend begann für mich in Tel Aviv eine sehr schlimme Zeit. Ich erinnere mich noch an vieles, die Gerüche, meine Freund*innen, deren Lieblingsfarben, die Streitereien, unsere Halloween-Kostüme. Und das nicht durch Fotos oder Videos, sondern weil ich in Nigeria eine wirklich sehr glückliche Kindheit hatte.
Wie du vorhin bereits erwähnt hast, kennt dich ein Großteil der Menschen durch den ESC. Wie blickst du heute auf deine Teilnahme zurück?
Schaust du dir manchmal Fotos von dir aus der sechsten Klasse an und denkst, dies und das hätte ich gerne anders gemacht? Come on! Die Vergangenheit ist die Vergangenheit, und ich bin sehr stolz auf mich selbst. Und ich habe mein Bestes gegeben. Die Zeiten waren die Zeiten, und ich hatte zuvor noch keine Erfahrung mit Bühnen dieser Art. Also habe ich einfach das Beste gegeben, was für mich in diesem Moment möglich war.
Was denkst du denn, warum der ESC so beliebt bei der LGBTI-Community ist?
Ich denke, die Community weiß vor allem die "Lautstärke" dieser Show zu schätzen, und dass sich die Leute einfach so zeigen, wie sie sind. Viele präsentieren sich auf eine entschuldigungslose, divenhafte Art und Weise. Die Community wünscht sich ja immer, einfach frei zu sein, und die Performances der Teilnehmenden repräsentieren sehr viel Freiheit. Der ESC ist einfach sehr gay! Gleichzeitig muss man für den ESC teilweise aber auch Opfer bringen. Ich zum Beispiel war ein großer Jazz-Geek und konnte mich nie wirklich zu 100 Prozent mit Popmusik identifizieren. Aber glücklicherweise wird der ESC auch hinsichtlich der Musikrichtungen offener, und das liebe ich.
Und wie ist deine eigene Verbindung zur LGBTI-Community?
Oh, ich hasse die Gays. (lacht) Die LGBTI-Community ist meine Familie, sie unterstützt und inspiriert mich. Ich kann aus ihr viel schöpfen und deren Energie spiegelt sich in meinen Songwriting-Prozessen wider. Es gibt eine tiefe Verbundenheit zwischen der LGBTI-Community, die ich mir auch nicht gänzlich selbst erklären kann, aber sie fühlt sich sehr, sehr natürlich an. Es ist sehr klar, wo das Licht ist, wo die Liebe ist, wo das Glück ist und wo die Kunst passiert. Ich möchte einfach im Licht stehen – und ich möchte, dass meine Freund*innen auch im Licht stehen.
Hast du denn irgendwelche Tipps für Leute, die stark mit sich zu kämpfen haben?
Ich könnte mir selbst niemals ausmalen, wie es ist, schwul oder trans zu sein. Denn ich habe das selbst nie gefühlt. Ich kann verstehen, wie sich der Schmerz anfühlt, Ablehnung zu spüren, aber mehr auch nicht. Ich sehe mich deshalb nicht in der Lage, Tipps zu geben. Aber ich möchte gerne all diesen Menschen sagen, dass ich an ihrer Seite stehe, und weiß, dass es bei dem Einsatz für die LGBTI-Community um Leben und Tod geht. Es gibt keinen anderen Weg, als dass Menschen die Freiheit feiern. Wir können nicht zurückgehen. Falls ihr struggeln solltet, bleibt stark! Es wird besser werden, das sehe ich bei meinen Freund*innen.
