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"Kvir-Besedy"
Warum Kanykei aus Kirgisistan fliehen musste
Die Aktivistin Kanykei ist eine der bekanntesten trans Frauen in Kirgisistan. Sie wurde in dem zentralasiatischen Land zu einer öffentlichen Person – und sah sich gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen.

Kanykei lebt seit Ende Oktober 2022 in Berlin (Bild: privat)
- Von Konstantin Kropotkin
17. September 2023, 10:34h 21 Min.
In der Schule wurde ihr vorgeworfen, sie sehe wie ein Mädchen aus, an der Universität begann sie, sich offen in Frauenkleidern zu zeigen, und begriff später, dass sie tatsächlich eine Frau war. Nachdem sie sich ihrer Identität bewusst wurde, wandte sie sich dem queerem Aktivismus zu, und ihre Teilnahme an öffentlichen Menschenrechtsaktionen brachte ihr nicht nur Freund*innen, sondern auch Feind*innen. Das ist die Geschichte von Kanykei, einer der bekanntesten trans Frauen in Kirgisistan. Sie wurde in diesem zentralasiatischen Land zu einer öffentlichen Person und wurde gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen.
Sie wählte den Namen "Kanykei" in Anlehnung an eine Figur aus dem kirgisischen Manas-Epos. Die Gattin des Batyrs (eines tapferen Helden) – zugleich intelligent, schön und stark im Geiste. Wichtig ist vor allem, dass Kanykei, wenn man kirgisischen Legenden Glauben schenken darf, eine willensstarke, selbstbewusste Person war, nicht bereit, sich mit Ungerechtigkeit abzufinden.
Für damals war sie eine Feministin, sie sprach von Frauenrechten. Als ich das Buch "Manas der Großmütige" gelesen hatte, blieb mir das Bild von Kanykei in Erinnerung. Mir gefiel sie als Frau, als Persönlichkeit.
Seit dem für sie entscheidenden Jahr 2018 trägt sie diesen Namen. Ihr damaliges Alter verrät sie nicht. Dem Erscheinungsbild nach kann sie jetzt genauso gut siebzehn wie siebenundzwanzig sein. Vor fünf Jahren hat Kanykei nicht nur einen Namen bekommen, sondern auch ein neues Ich:
Mir wurde absolut klar, anstelle eines bloßen Kleiderwechsels werde ich eine Geschlechtsangleichung vornehmen: mich einer Hormontherapie unterziehen, eine rechtliche Namensänderung beantragen – sprich, meine Papiere wechseln. Dabei dachte ich: Es muss einen Namen für mich geben. Nun hatte ich eine großartige Gelegenheit, meinen eigenen Namen zu wählen. Also dachte ich, ich würde "Kanykei" heißen.
Nun wird sie also von ihren Kolleg*innen, Gleichgesinnten und Freund*innen Kanykei genannt. Besonders wichtig ist ihr aber, dass ihre eigene Schwester, die einzige Verwandte, zu der sie inzwischen ein inniges Verhältnis hat, sie bei diesem Namen nennt. Die anderen Angehörigen ihrer großen kirgisischen Familie müssen mit dieser Erkenntnis erst noch klarkommen: Kanykei ist kein Bruder, sondern eine Schwester, sie ist kein Enkel, sondern eine Enkelin, auch ist sie Nichte und Tante.
Das Treffen mit ihrer Schwester war für Kanykei das erste Zeichen dafür, dass sie eines Tages in der Lage sein wird, herzliche Beziehungen zu allen anderen Verwandten aufzubauen.
Ich hatte große Sorgen, als wir beschlossen, uns zu treffen. Der Grund dafür: Wir haben uns seit Beginn meiner Geschlechtsangleichung nicht gesehen. Also von 2018 bis 2021. Die ersten paar Minuten waren sehr rührend. Wir umarmten uns. Ich weinte, sie weinte. Sie entschuldigte sich dafür, dass sie früher nicht imstande war, die Kraft zu finden, für mich da zu sein und mich zu unterstützen.
Ein Gespräch mit Kanykei zu führen ist, als würde man blind umherwandern, im Dunkeln tappen. Ich weiß wenig über die Lebensweise in Kirgisistan, über das Leben der Menschen, die einst ein Nomadenvolk waren. Noch weniger weiß ich über trans Personen in diesem zentralasiatischen Land.
Kanykei beantwortet meine Fragen mit Geduld und erklärt mir zum Beispiel, dass es in jedem kirgisischen Dorf einen "kyz teke" gibt – einen femininen Mann, einen "queeren Menschen", wenn man es mit moderner, westlicher Terminologie ausdrücken mag. Das Wort hat sie seit ihrer Kindheit verfolgt.
Wenn ich in der Schule schikaniert wurde, nannten man mich "kyz teke". Das war wie ein Schandfleck für mich. Aber jetzt verstehe ich es als "queer". Allerdings bin ich erst nach meiner Transition damit klargekommen, nachdem ich mich dem Aktivismus zugewandt hatte.
Kanykeis Vater und Mutter kamen ums Leben, als sie noch klein war. Sie und ihre Schwester wurden von ihrem Großvater, einem Beamten, und Großmutter, einer Russischlehrerin, großgezogen. Zunächst lebten sie in Naryn, einer kleinen Stadt im Norden Kirgisistans. Später ließen sie sich in der Nähe Bischkeks nieder. Kanykei machte ihren Schulabschluss in einem Dorf im Gebiet Tschüi. Dort lebte sie mit ihren Brüdern, Schwestern, Onkeln und Tanten unter einem Dach.
Mein Vater war der Älteste. Neben ihm gab es noch vier jüngere Brüder. Von ihnen sind zwei verheiratet und wohnen getrennt, und mit zwei anderen sind wir praktisch im selben Haus aufgewachsen. Ich bin mit ihnen groß geworden. Mit meinen Cousins und Cousinen. Ich bin in einem liebevollen Umfeld aufgewachsen. Wir haben die ganze Zeit gespielt. Ich konnte mir etwas auf den Kopf setzen und sagen, es sei mein Haar, eine Modenschau machen. Das hat ihnen Spaß gemacht. Aber je älter ich wurde, desto ernster wurden manche Dinge genommen, und meine Verwandten fingen an, mich dafür zu schelten. Ich konnte nicht verstehen, wieso: Ich will lange Haare, ich will Schleifen, will Kleider tragen – wieso muss ich dann ganz andere Sachen anziehen? Wenn die Klamotten gewaschen und im Freien aufgehängt wurden, nahm ich das Kleid meiner Schwester und rannte damit weg, weit vom Haus. Gegenüber von unserem Haus war eine Schule, und weiter weg, hinter dem Fußballplatz, standen Bäume. Ich ging dorthin und zog mich um. Es war im Vorschulalter – ich war etwa fünf.
Kanykei wurde sich ihrer Andersartigkeit gegenüber anderen Kindern bewusst, als sie eingeschult wurde. Es war eine traumatische und langanhaltende Erfahrung, abgelehnt zu werden; so zog es sich durch die gesamte Unter- und Mittelstufe. Vielleicht war das der Grund, warum sie damals wenig Interesse am Lernen hatte.
In der Schule wurde ich oft gemobbt. Mir wurde vorgeworfen, dass ich wie ein Mädchen aussehe, dass ich wie ein Mädchen laufe, dass ich einem Mädchen zu sehr ähnele. Ich konnte einfach ausgegrenzt werden, mir wurde gesagt, ich sei ein schräger Vogel und ich dürfte nur allein oder mit Mädchen herumlaufen. Es gab Zeiten, in denen ich nicht mehr zur Schule gehen wollte. Als Kind betete ich, lieber Gott möge mich bitte "normal" machen, sodass ich wie alle anderen sein würde, dass ich mich nicht einsam fühlen würde. Damals schien es, dass es auf der ganzen Welt nur mir so ging.
Es ist schwer zu sagen, ob die Familie ganz auf ihrer Seite war. Kanykei sagt, sie sei in einem liebevollen Umfeld aufgewachsen. Ihr Großvater und vor allem ihre Großmutter, die inzwischen verstorben ist, haben ihr viel Verständnis entgegengebracht. Andererseits konnten Erwachsene in ihrem Streben, Traditionen aufrechtzuerhalten, die Komplikationen eines queeren Coming-of-Age kaum nachvollziehen.
Es gab Zeiten, in denen ich mich beschwert habe. Aber selten. Ich konnte meine Gefühle nicht beschreiben. Ich konnte sie nur grob umreißen. Meine Großmutter sagte zu mir immer: "Du bist ein Mann. Wenn du geschlagen wirst, schlägst du auch zu." Sie hat mir beigebracht, mich zu verteidigen, weil ich sehr schwach war. Vor allem hatte ich Angst. Ich hatte sogar Angst, allein zu schlafen.
Was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Diese umstrittene Maxime findet im Leben von Kanykei ihre Bestätigung. Trotz aller Schwierigkeiten entwickelte sie sich laut Selbstaussagen von einem ängstlichen Kind zu einer recht selbstbewussten Person. Nach der Mittelstufe, als nur noch diejenigen zur Schule gingen, die ein Abitur anstrebten, empfand Kanykei eine gewisse Freude, zur Schule zu gehen. Damals fand sie Freund*innen auch unter Jungen, wurde in ihrer Schulklasse zu einer ernst zu nehmenden Figur.
In der zehnten Klasse war ich Schulsprecherin. Meine Schwester unterstützte mich. Sie sagte: "Willst du nicht mal kandidieren?" Mir gefiel das Lernen nicht, aber ich liebte es, Veranstaltungen zu organisieren und Aktivitäten zu entwickeln. Das habe ich aus ganzem Herzen getan.
Kanykei war sich sicher, dass sie nicht in ihrem Dorf bleiben wird. Für sie war klar, wohin sie gehen würde. Natürlich wollte sie nach Bischkek, in die Hauptstadt des Landes. Dort hatte sie ihren Hochschulabschluss gemacht.
Es war nicht meine Entscheidung. Für meine Großmutter, für meine Schwestern war es sehr wichtig, dass ich studiere. Die Studienrichtung empfahl mir meine Schwester, und zwar den Fachbereich Internationale Beziehungen und Weltwirtschaft. Spezialisiert habe ich mich auf Außenpolitik.
Dass sie nicht in ihrem Beruf arbeiten wird, wurde Kanykei in ihrem dritten Studienjahr klar, als sie ihr Hochschulpraktikum ablegte und dabei die Funktionsweise der öffentlichen Dienste in Kirgisistan besser kennenlernte. Kurz vor ihrem Abschluss schloss sie sich einer LGBTI-Organisation an, begann dort ehrenamtlich zu arbeiten und übernahm dann mal kleinere, mal größere Projekte. Kanykei erzählt, sie habe eine Zeit lang ernsthaft darüber nachgedacht, nach Russland zu ziehen, zum Beispiel nach Moskau, das für eine queere Person viel besser geeignet schien als Bischkek. Etwa zur gleichen Zeit wurde ihr klar, dass Crossdressing, nämlich das Anziehen von Frauenkleidern, für sie mehr als nur ein Spiel war.
Ich erinnere mich gut an diesen Moment. Meine Freunde und ich gingen in das Schwimmbad "Delfin" in Bischkek. Meine Freunde sind aus der Szene, sie sind schwul. Ich war damals Teil der schwulen Kultur. Ich war Crossdresserin, meine Freunde wussten das und unterstützten mich dabei. Wir sind zusammen ins Schwimmbad gegangen, da muss man doch oben ohne auftreten. Es war ein Gemeinschaftsbad, zur Abendzeit. Wir zogen unsere Badehosen an, wir gingen schwimmen, und plötzlich fühlte ich ein großes Unbehagen. Ich merkte plötzlich, dass ich keinen BH anhatte: Was mache ich hier bloß ohne BH? Ich begann eine starke Dysphorie wegen meines Körpers zu empfinden. Ich schaute mich um; um mich herum schwammen sowohl Männer als auch Frauen. Es wurde mir langsam peinlich, dass ich oben ohne war. Ich eilte hinaus, duschte, zog mich an und setzte mich hin. Von da an fing ich an, über meinen Körper nachzudenken. Plötzlich hatte ich Gefühle, die ich zuvor nie erlebt hatte.
Wie können trans Personen in Kirgisistan sich selbst verstehen? Kanykei tat, was junge Menschen überall auf der Welt tun. Sie begann, im Internet nach Informationen zu suchen. Ihrer Erfahrung nach gibt es nicht viel auf Kirgisisch zu lesen, aber sie spricht, wie die meisten ihrer Landsleute, gut Russisch, und hier haben sich russischsprachige Plattformen und Websites sowie virtuelle Kommunikation mit anderen trans Menschen als nützlich erwiesen. Mit offiziellen Erläuterungen war Kanykei nicht ganz zufrieden: Transgeschlechtlichkeit wurde dort immer wieder als Krankheit bezeichnet.
Es hieß, man sei ein kranker Mensch. Aber natürlich glaubt man sich selbst. Ich bin selbstsicher, ich sage mir, dass ich ein völlig gesunder Mensch bin. Krank sind wahrscheinlich diejenigen, die sagen, dass trans Menschen krank sind. Viel mehr Infos und Unterstützung, die ich brauchte, habe ich von der Trans-Community bekommen.
Laut Kanykei fangen in Kirgisistan viele trans Menschen von allein mit Hormontherapie an, also ohne einen Arzt aufzusuchen. Zum Teil ging sie diesen Weg auch. Erst einen Monat nach Beginn der Hormontherapie besuchte sie einen Endokrinologen. Geschlechtsangleichung begann sie an ihrem Geburtstag, dem 3. November 2018.
Ich habe die erste Pille genommen. Man erwartet ein Wunder, dass man so große Brüste bekommt, dass die Haare auf den Armen verschwinden. Aber nein, das passiert nicht. Die Versuchung ist groß, die Dosis zu erhöhen. Nicht eine, sondern zwei Pillen zu nehmen. In den ersten sechs Monaten betreffen die Veränderungen eher den psychoemotionalen Zustand. Ich lebte damals mit meinem Partner zusammen, und ich bin ihm für seine Unterstützung sehr dankbar. Mir ging alles auf die Nerven! Nicht die ganze Zeit, aber plötzlich dann doch. Wir sind beim Essen, und von der Art, wie er isst, bin ich so genervt! Dann sagte ich zu ihm: "Kau nicht so, sondern so!"
Nach etwa einem Jahr ging es wieder. Mit Dankbarkeit erinnert sich Kanykei an Sanschar Kurmanow, einen trans Mann, der mehrere Jahre lang einer der Leiter des kirgisischen queeren Vereins Labrys war und sich jetzt international für trans Menschen und ihre Probleme einsetzt. Dabei merkt sie an, dass sie Sanschar sogar mitten in der Nacht anrufen durfte, wenn sie ein starkes Bedürfnis hatte, sich auszusprechen.
Zum Teil ging sie denselben Weg wie Sanschar. Als sie für sich selbst eintrat und ihre Rechte verteidigte, gelangte Kanykei an einen Punkt, an dem sie begann, im Namen anderer zu sprechen.
Ich hatte eine Facebook-Seite. Da hatte ich über tausend Follower*innen und Leser*innen. Ich schrieb dort meiner Meinung nach radikale Dinge. Ich schrieb über die Gewalt, der LGBTI-Menschen ausgesetzt sind. Ich habe immer für Offenheit plädiert, ich habe geschrieben, neue Leser*innen kamen. Das ging so weit, dass mir sogar Leute aus dem kirgisischen Parlament folgten.
Kanykei traut sich nicht einzuschätzen, ob ihre Arbeit auf die Gesetzgebung in Kirgisistan eine Auswirkung hatte – sie stellt lediglich fest, dass das öffentliche Interesse an der queeren Community gestiegen war. Zu beachten ist auch, dass Diskriminierung in Kirgisistan gesetzlich untersagt ist und kirgisische LGBTI-Aktivist*innen einige gerichtliche Erfolge vorweisen können. So hat beispielsweise 2019 eine trans Frau einen Prozess gegen lokale Medien gewonnen, die sie geoutet und damit Mobbing im Internet verursacht hatten.
Es gibt jedoch auch andere, weniger optimistische Fälle. Im selben Jahr wurden Ermittlungen gegen einen Polizeibeamten, der verdächtigt wurde, Geld von einer trans Frau verlangt zu haben, ohne Grund verzögert. Die Kreisstaatsanwaltschaft, die Generalstaatsanwaltschaft und der Staatliche Ausschuss für nationale Sicherheit weigerten sich, auf Beschwerden einzugehen.
Ich habe andere trans Frauen gesehen, die sich nicht einmal auf die Straße trauen, weil sie angeblich nicht den Normen, den Standards einer Frau entsprechen. Ich habe mich selbst sozialisiert. Auf der Straße könnte man mich für eine cis Frau halten, solange ich nicht selber zugebe, dass ich trans bin. Zudem bin ich offener geworden, was meinen Aktivismus angeht. Man weiß, dass ich eine trans Frau bin. Das bringt natürlich auch Risiken mit sich.

Kanyke mit dem Plakat "Stolz, trans zu sein" am 8. März 2019 (Bild: privat)
Spätestens 2019 wurde Kanykei nicht nur zu einer privaten, sondern auch zu einer öffentlichen Person in Kirgisistan. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits Erfahrungen mit der Arbeit in LGBTI-Organisationen gesammelt, und da sie sich unterstützt fühlte, nahm sie am 8. März desselben Jahres an einem der Solidaritäts- und Gleichstellungsmärsche teil. Das war ein besonderes Datum in der Regenbogen-Geschichte Kirgisistans: Am 8. März 2019 nahmen mit Erlaubnis der Behörden zum ersten Mal neben Feminist*innen auch queere Menschen öffentlich am Marsch teil.
2019 marschierte ich mit einem Plakat "Stolz, trans zu sein". Es war ein Ausdruck meines Stolzes auf meine Transgeschlechtlichkeit: egal, was du mir sagst, ich bin ich und werde so bleiben. Ich sah aus wie eine typische kirgisische Frau: langes Kleid, offenes Haar. Der 8. März ist ein wichtiges Datum für die LGBTI-Bewegung, für die feministische Bewegung. Wir waren ziemlich viele. Es gab Drohungen. Da waren Leute in Zivilkleidung, sie haben Fotos von uns gemacht. Ständig kamen derbe Männer auf mich zu und sagten auf Kirgisisch: "Nimm dein Plakat weg, oder willst du Probleme?". Ich sagte, dass ich es erst dann wegnehme, wenn der Marsch vorbei ist. Ich ging mit dem Gedanken, dass ich nichts zu verlieren habe. Ich hatte keine Angst.
Kanykei zeigt Bilder auf ihrem Handy. Der Marsch in Bischkek sieht aus wie ein frohes Fest. Für diejenigen, die die Hintergrundgeschichte nicht kennen, ist es ein CSD wie in jeder europäischen Metropole: Menschen mit Regenbogenfahnen, Lächeln und Umarmungen.
Sie spricht von dieser Zeit nicht ohne Nostalgie: jedes neue Jahr schien besser zu sein als das vorherige. Seit 2017 hat Kirgisistan das Verfahren zur Änderung der Geschlechtszugehörigkeit vereinfacht: Trans Personen konnten ohne demütigendes Prozedere neue Papiere erhalten.
"Seit 2017 hatten wir das Recht, Papiere zu wechseln. Das Verfahren wurde vereinfacht. Ohne Bürokratie – ohne diese hundertfünfzig Büros, in die man gehen muss. Stattdessen nur noch ein paar Stellen: Ein Ausschuss, der einem eine Bescheinigung ausstellt, dass man wirklich eine trans Person ist, musste sein Okay geben. Mit dieser Bescheinigung konnte man dann alle seine Papiere wechseln lassen.
Von all dem erzählt sie nun in Berlin, wo sie als Geflüchtete lebt. Was hat sie dazu gebracht, ihr Heimatland zu verlassen?
Sie sagt, der Wandel zum Schlechteren habe sich 2020 mit dem Aufstieg des rechten Politikers Sadyr Schaparow abgezeichnet. Der Chef der Partei Mekentschil hat sich als konsequenter Gegner des Parlamentarismus gezeigt. Vor drei Jahren brachte er eine Reihe von Verfassungsänderungen auf den Weg. Kritiker*innen dieser Anpassungen verwiesen auf die gefährliche Konzentration der Exekutivgewalt in den Händen des Präsidenten sowie auf den drohenden Autoritarismus. Die Trans-Сommunity spürte die negativen Auswirkungen der neuen Regierung, als das Gesundheitsschutzgesetz verschwand.
Kanykei notiert, dass die Änderung des Grundgesetzes halb verschwiegen wurde und de facto unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgte. Jetzt, im Jahr 2023, müssen trans Menschen, um sich in Kirgisistan Papiere zu beschaffen, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen, sich bei den Behörden beschweren, Ablehnungsnotizen erhalten und dann vor Gericht gehen.
Nach 2020 gab es einen Fall, bei dem eine trans Person ihren Geschlechtsstatus doch ändern konnte. Aber das ist ein sehr langes bürokratisches Prozedere."
Damals dachte Kanykei, dass es sich nur um eine vorübergehende Störung im System handelte, aber jetzt scheint die Lage sich generell geändert zu haben. Im August 2023 verabschiedeten die kirgisischen Behörden das Jugendschutzgesetz. In Absatz 4. wird "Propagieren von nicht traditionellen sexuellen Beziehungen" als "schädlich für Minderjährige" eingestuft. Das neue Gesetz verbietet auch die "Verleugnung von Familie und traditionellen sozialen Werten" (queer.de berichtete). Es ist leicht zu erraten, was mit diesen vagen Formulierungen gemeint ist, wenn man die Erfahrungen mit der Gesetzgebung in Russland ins Auge nimmt, wo "LGBT-Propaganda" seit 2013 gegenüber Minderjährigen und seit 2022 auch bei Erwachsenen verboten ist.
Für Kanykei kam das neue Gesetz erwartet und unerwartet zugleich.
Im Frühjahr dieses Jahres wurde das Thema bei uns in Kirgisistan einmal aufgegriffen. Die Diskussionswelle war sehr klein. Einige Medien schrieben über den "Schutz von Kindern vor schädlichen Informationen", einschließlich "LGBT-Propaganda unter Minderjährigen". Aber das Gesetz wurde sehr rasch verabschiedet, es durchlief alle drei Lesungen rasant, und der Präsident unterzeichnete es. Alles geschah schnell und unauffällig. Ich denke, dass die Regierung keine Einmischung seitens lokaler LGBT-Vereine oder internationaler Organisationen wollte.
Bereits 2013 gab es eine Initiative zum Verbot von "LGBT-Propaganda" unter allen, nicht nur unter Minderjährigen. Der Gesetzentwurf schaffte es bis zur zweiten Lesung, wurde aber nicht angenommen, weil sich queere Aktivist*innen schnell einschalteten (queer.de berichtete). Zudem reichten internationale Organisationen ihre Empfehlungen ein, was einen positiven Einfluss auf den Entscheidungsprozess hatte. Diesmal wollte die Regierung das alles wahrscheinlich nicht.
Leider ist heute alles, was mit Menschenrechten, Meinungsfreiheit und Demokratie in Kirgisistan zu tun hat, auf dem Rückzug. Natürlich betrifft das auch queere Personen. Vor kurzem wurden zum Beispiel die Mitarbeiter*innen einer LGBTI-Organisation geoutet, die danach Probleme mit ihren Familien hatten, die nichts von ihrer Sexualität wussten. In den letzten Jahren wurde es immer schlimmer. Lokale queere Aktivist*innen dokumentieren Rechtsverletzungen, es gibt viele Fälle von Diskriminierung, vom Staat und den Strafverfolgungsbehörden ausgeübter Gewalt. In sozialen Netzwerken gehöre ich mehreren geschlossenen Gruppen von trans Menschen an, dort werden solche Fälle oft diskutiert.
Jetzt schließt Kanykei nicht mehr aus, dass bald nach der Verabschiedung des homosexuellenfeindlichen Gesetzes die Geschlechtsangleichung in ihrem Heimatland, so wie in Russland, offiziell verboten wird. Unter diesem Gesichtspunkt wirken die privaten Umstände ihres Lebens in Kirgisistan noch bedrohlicher. Kanykei erinnert sich noch, wie sie vor drei Jahren Opfer einer Verfolgung im Internet wurde.
2020 wurde meine Facebook-Seite blockiert. Man schickte mir eine SMS auf WhatsApp. Dort stand: "Wir wissen alles über dich. Wir wissen, was du machst, mit wem du dich triffst. Hör auf, das zu tun, was du jetzt tust. Wir geben dir eine Chance – hau ab."
Die Anonymen waren erstaunlich gut informiert: Sie nannten das Café in Bischkek, in dem Kanykei sich zu einem Treffen verabredet hatte. Dem Rat der Unbekannten war sie damals nicht gefolgt und kam zu ihrem Gespräch in Begleitung anderer Aktivist*innen der LGBTI-Organisation Labrys.
Ich wollte nicht, dass sie denken, ich hätte Angst und sie könnten mich manipulieren. Wir gingen zusammen dorthin. Ein weiterer Mitarbeiter von Labrys kam mit uns. Nichts ist passiert, aber als ich nach Hause kam, hatte ich eine Panikattacke. Ich dachte wirklich, man würde mich umbringen. Ich überprüfte ständig die Türen, um sicher zu sein, dass sie geschlossen waren. Am nächsten Tag habe ich ein Nachrichtenportal kontaktiert. Ich habe ihnen erzählt, was geschehen war, sie haben mir ein Interview angeboten, und ich habe zugesagt. Und das war's, aus den Drohungen wurde nichts. Ich glaube, die haben gemerkt, dass ich keine Angst hatte. Ich äußerte mich sogar noch offener. Die Journalist*innen brachten mein Interview mit anderen an kirgisische Aktivist*innen gerichtete Drohungen in Verbindung. Damals gab es eine Reihe von Drohungen gegen Bürgerrechtler*innen.
Das Interesse dieser Unbekannten für Kanykei erwachte etwa zu der Zeit, als ihr Aktivismus deutlich politischer wurde. 2021 ging sie zum nächsten queerfeministischen Marsch am 8. März mit einem Plakat mit der Aufschrift "Es ist meine Entscheidung, ob ich mein Geschlecht oder meine Tapeten wechsle".
Sie weiß immer noch nicht, wer diese Anonymen waren. Ihre Facebook-Seite konnte nicht wiederhergestellt werden. Und die böse Tat der Fremden hat eine Spur hinterlassen, – Kanykei sagt, dass sie immer noch unter Panikattacken leidet.
Das ist jetzt mehr oder weniger vorbei. Nach einer Psychotherapie fängt man an, seinen Körper, seinen psychoemotionalen Zustand zu verstehen. Ich arbeite daran. Mir ist klar, dass meine Ängstlichkeit zunehmen wird, sollte ich mit dieser Arbeit aufhören.
Kanykei hat einen guten Namen in der kirgisischen queeren Community, sie hat viele Jahre Erfahrung im LGBTI-Aktivismus und hat an mehreren Aufklärungsprojekten teilgenommen. In ihrem Heimatland hat sie also durchaus ihren Platz, und seltsamerweise war es genau dieser Umstand, der sie gezwungen hat zu fliehen – wer sichtbar ist, kann zur Zielscheibe werden. Die neue Regierung, erklärt die Aktivistin, bestehe auf der Einhaltung der so genannten "traditionellen Werte".
Früher konnten wir Demos veranstalten, jetzt dürfen wir uns an bestimmten Orten nicht mehr versammeln. Jetzt nehmen sie einfach Aktivist*innen und Journalist*innen fest und sperren sie ein. Es gibt keine Meinungsfreiheit mehr. Im Allgemeinen werden unerwünschte Personen langsam aus dem Weg geräumt.
Aber das war nur einer der Gründe, Kirgisistan zu verlassen. Ein anderer Grund war ein familiärer. Ihr Cousin, der während seiner Jahre in Moskau ein strenggläubiger Muslim geworden war, beschloss, nach Bischkek zurückzukehren. Kanykei fürchtete, dass er versuchen würde, sie zu einer Konversionstherapie zu zwingen – diese barbarischen pseudoreligiösen Praktiken finden in Kirgisistan immer noch Anhänger*innen.
Meine Schwester teilte mir mit, dass mein Cousin nach Kirgisistan ziehen wird und ich besser gehen sollte, weil er mich "bekehren" will. Ich musste mich retten. Ja, ich möchte anderen helfen, ja, ich möchte etwas ändern, aber wenn ich selbst Hilfe brauche, merke ich, dass niemand für mich da ist.
Sie verließ Kirgisistan Ende Oktober 2022. Sie hat sich für Deutschland als neuen Wohnort entschieden, weil sie es ein wenig besser kennt als andere Länder, in denen queere Menschen auf die Unterstützung der Behörden zählen können.
Ich habe hier Bekannte. Außerdem war ich schon mal hier, so dass ich das Gefühl habe, bereits hierher zu gehören. Ich fühle mich nicht wie eine Eule unter Krähen. Zudem ist Berlin eine internationale Stadt, hier wohnen sehr verschiedene Menschen.
Die ersten Wochen in Deutschland erforderten von Kanykei viel Beharrlichkeit. In Berlin, in einem Heim für geflüchtete Menschen, wurde ihr zunächst ein Zimmer ohne Tür zugewiesen, dann wurde sie in einem winzigen, dreieckigen Raum ohne Fenster untergebracht, der ihrer Meinung nach einer Folterkammer ähnelte. Einen Monat lang zog Kanykei von Ort zu Ort. Jetzt hat sie eine mehr oder weniger feste Unterkunft gefunden. In einem Wohnheim für queere Menschen im Osten Berlins teilt sie ein Zimmer mit einer trans Frau aus Syrien.
Mir wurde gesagt, ich solle mich innerlich auf alles vorbereiten. Zum Beispiel auf ermüdende Warteschlangen. Ständige Warteschlangen, von morgens bis abends, sehr viele Leute. Ich musste mich immer wieder outen, sagen, dass ich eine trans Person bin, dass ich nicht in einen Raum mit sauvielen Leuten gesteckt werden sollte. Das ist für mich zu gefährlich.
Hin und wieder spricht Kanykei über Kirgisistan und ihr Leben dort im Präsens. Sie befindet sich eindeutig in einer Übergangsphase, in der unklar ist, wie viel von ihrer Vergangenheit sie in ihre neue Zukunft mitnehmen soll.
Im Moment denke ich darüber nach, ob ich im Bereich der Menschenrechte bleiben will, ob ich mich hier in Deutschland für die Rechte von trans Menschen einsetzen will, mich ehrenamtlich engagieren will, mit Flüchtlingsorganisationen zu tun haben will. Ich habe mich noch nicht entschieden. Zunächst werde ich langsam die Sprache lernen, Berlin und die deutsche Kultur kennenlernen, und dann werden wir sehen. Ich bin jetzt wesentlich beruhigter, denn ich weiß, dass das Gesetz auf meiner Seite ist und dass morgen niemand kommt, um mich zu verprügeln.
Ich versuche, Dinge positiv zu sehen. Ich würde natürlich gerne in eine Sozialwohnung ziehen. Natürlich möchte ich nicht in einem Wohnheim leben, wo es sehr laut und schmutzig ist und so alles. Doch ich muss durchkommen. Ich akzeptiere es, solchen Sachen gegenüber zeige ich mich offen.
Nur wenige Menschen in Bischkek wussten, dass Kanykei für eine lange Zeit, vielleicht sogar für immer, weggehen würde. In erster Linie war es ihre eigene Schwester. Mit ihr ging Kanykei aufs Land, um sich von ihrem Großvater zu verabschieden – es war klar, dass dies ihr letztes Treffen sein könnte.
Wir haben uns unterhalten. Ich habe geweint. Ich habe mich dafür entschuldigt, dass ich die ganze Zeit weg war. Es stellte sich heraus, dass er dachte, ich wäre beleidigt. In Wirklichkeit hatte ich keinen Kontakt zu ihm, seitdem meine Großmutter verstorben war. Wir verabschiedeten uns. Er wollte, dass ich eine deutsche Frau finde und heirate. "Na gut, Opa", antwortete ich. Er kennt mich als einen anderen Menschen.
Der Großvater wünschte sich, dass Kanykei eine Familie gründet. Das ist es, was für ihn Glück bedeutet. Doch was versteht sie selbst unter Glück?
Ich möchte morgens in einem frischen Bett erwachen, mit einem Lächeln im Gesicht, in meinem eigenen Schlafzimmer, mich munter fühlen, das Fenster öffnen, die frische Luft einatmen und dann das tun, was mir am Herzen liegt. Und das jeden Tag.
Der Text ist im Rahmen des Projekts "Kvir-Besedy" (Queere Gespräche") entstanden, das queeren Geflüchteten aus dem postsowjetischen Raum eine Stimme gibt. Hinter dem Projekt stehen der Berliner Verein Quarteera und die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld.
