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Umfrage
Jede dritte junge Person empfindet Scham über sexuelle Lust
Anlässlich der anstehenden vierten Staffel von "Sex Education" hat Netflix die Deutschen zu ihrem Sexleben und zu ihrer Aufklärung befragt.

"Sex Education" mit Otis (r.) und seinem besten schwulen Freund Eric klärt auch die Zuschauer*innen auf – doch noch mehr Deutsche nutzen TikTok oder Pornos auf ihren Handys (Bild: Netflix)
- 19. September 2023, 12:36h 4 Min.
Aufklärung im stillgelegten Klohäuschen: Zum Start der Serie "Sex Education" hat Hauptfigur Otis Milburn noch recht versteckt seine Mitschüler*innen über Sex und Sexualität aufgeklärt. In der vierten und finalen Staffel, die am 21. September auf Netflix startet (queer.de berichtete), geht es für die Charaktere von der Moordale Secondary School an das deutlich offenere Cavendish College. Die von Expert*innen und Medien vielfach gelobte Serie liefert Inspiration dafür, wie eine zeitgemäße Aufklärungsarbeit aussehen kann – nicht zuletzt indem sie Teenagerprobleme humorvoll, aber einfühlsam darstellt.
Sex Education zeigt auch, wie schwierig es sein kann, über Sexualität zu sprechen, und wie wichtig Unterstützung und Informationen für Jugendliche sind. Aber wie cringe ist es eigentlich noch, über Sex zu reden, und wie offen sind die Deutschen überhaupt im Umgang mit intimen Themen? Um genau diese Fragen zu beantworten hat Netflix im August gemeinsam mit dem gesundheitlichen Aufklärungsprojekt "F/A/Q — The Better Health Group" und dem digitalen Meinungsforschungsanbieter Civey eine repräsentative Umfrage durchgeführt. Otis Milburn wäre vermutlich stolz auf die Deutschen, denn das Ergebnis ist überraschend modern. Und optimistisch stimmt: immerhin ist eine Hälfte Deutschlands mit ihrem Sexualleben zufrieden.
Jeder dritte junge Deutsche empfindet Scham
Ein gutes Ergebnis: Scham für sexuelle Lust empfinden lediglich 19 Prozent der Deutschen. Allerdings ist jedem dritten jungen Menschen zwischen 16 und 29 Jahren die eigene Lust peinlich. Befragt wurden im August 10.000 Deutsche ab 16 Jahren.
Weitere zentrale Ergebnisse: Nach wie vor sind Lehrer*innen und das Elternhaus eine unverzichtbare Instanz der Aufklärung. Etwa die Hälfte der Befragten (47,4 % der 16- bis 29-Jährigen) wurde hauptsächlich in der Schule aufgeklärt, gefolgt von Eltern mit 29,6 Prozent. In zwei von drei Familien falle es den Eltern leicht, ihren Nachwuchs sexuell aufzuklären. Wenn es einmal stockt, liege das meist an der Unsicherheit über den richtigen Zeitpunkt, an eigener Scham oder an der Verweigerung der Kinder. Diese lassen sich auch zu 25 Prozent über Freunde und jeweils rund 17 Prozent von TikTok oder (bei jungen Männern doppelt so häufig wie bei Frauen) Pornos aufklären – der Klassiker "Bravo" oder "Filme & Serien" spielen untergeordnete Rollen.

Bei der Frage, welche Themen in der Schule fehlten, bleiben meist keine Wünsche offen – außer, wie man eigentlich Spaß am Sex hat. Gerade den Generationen zwischen 16 und 39 Jahren ist der ethische und achtsame Umgang mit Sexualität wichtig (31,5 % bei 16- bis 29-Jährigen, 30,9 % bei 30- bis 39-Jährigen), zudem ist hier das Interesse an den Themen sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität größer (25 % bei 16- bis 29-Jährigen, 20,8 % bei 30- bis 39-Jährigen).

"Junge Menschen haben zahlreiche Fragen zum Thema Sex, die sie nicht unbedingt mit ihren Eltern oder Lehrkräften besprechen wollen. Da kommen neben dem Freundeskreis auch Medien ins Spiel – von Jugendmagazinen wie BRAVO bis zu aktuellen Angeboten wie FAQ YOU (www.faqyou.de), das auf Augenhöhe via Social Media und online auch tabuisierte Themen schambefreit anspricht", so Roman Malessa, Director Health Access bei F/A/Q. "Unterhaltsame und einfühlsame Geschichten wie Sex Education können zusätzlich helfen, jungen Menschen Gesprächsstoff zu liefern und Schamhürden abzubauen. In positiven Rollenbildern wie Otis, Maeve, Eric oder Aimee finden junge Menschen Halt und Unterstützung, gerade in turbulenten Entwicklungsphasen."
Schamfreie Aufklärung hilft im Leben
Dass Pornos eine Rolle bei der "Aufklärung" spielten, werde von Eltern unterschätzt, so die Netflix-Pressemitteilung – nur sechs Prozent von ihnen glaubten dies. Dass TV-Angebote wenig zur Aufklärung beitragen würden, wird auf "ein überschaubares thematisches Angebot" zurückgeführt. Immerhin traue jedes dritte Wohnzimmer den Anbietern eine wichtige Rolle zu – und Netflix lobt sich entsprechend, mit "Sex Education" oder der queeren Coming-of-Age-Reihe "Heartstopper" "facettenreiche Geschichten rund um Sex und Sexualität" zu erzählen und mit der Zusammenarbeit mit "FAQ You" Aufklärung zu leisten: "Pornografie als Mittel der sexuellen Aufklärung ist eine Katastrophe. In unseren Angeboten bei 'FAQ YOU' nehmen wir bewusst den Druck raus und rücken die schrägen Pornobilder auch immer wieder humorvoll gerade, um junge Menschen von den völlig übertriebenen Vor- und Darstellungen zu befreien", so Malessa.
Dass ein Drittel der jungen Menschen Scham für ihre Lust empfinde, sei aus Sicht einer gesunden Aufklärung bedenklich, betont "F/A/Q". "Selbstbewusste Entscheidungen, auch im Umgang mit Sexualität, setzen einen schamfreien Zugang zu Aufklärung und Gesundheitsthemen voraus." Die Netflix-Meldung geht leider nicht auf weitere Projekte wie etwa das queere Schulprojekt Schlau, das Regenbogenportal der Bundesregierung oder das Projekt Liebesleben der BzgA ein.

Eine große Mehrheit der Deutschen ist laut der Umfrage davon überzeugt, dass sich ein offener Umgang mit sexueller Lust positiv auf die mentale Gesundheit auswirkt (76,4 %). Trotz der klaren Prioritäten und des gegenseitigen Verständnisses sei ein erfülltes Sexleben allerdings nur für die Hälfte der Deutschen Realität – jeder dritte Mann in Deutschland ist mit seinen intimen Beziehungen sogar unzufrieden. Die meisten Befragten sind davon überzeugt, die Wünsche ihres Gegenübers ausreichend zu kennen – doch in jedem fünften Bett sind Sexualpartner*innen unschlüssig, was das betrifft. (pm/cw)
