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Schwules Leben vor 100 Jahren
Heute startet eine zehnteilige wöchentliche Serie über das Jahr 1924. Es ist nicht einfach, aber möglich, sich das Leben von schwulen Männern in Deutschland in diesem Jahr vorzustellen.

Das "Eldorado" ist bis heute die bekannteste schwule Bar der Weimarer Republik, sie wurde am 22. März 1924 eröffnet (Bild: German Federal Archives / wikipedia)
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30. Dezember 2023, 12:45h 7 Min.
Die Weimarer Republik
Die Weimarer Republik (1918-1933) ist eine faszinierende Epoche. Es gab erstmals eine parlamentarische Demokratie in Deutschland, wenn auch noch mit wenigen überzeugten Demokrat*innen. Auch gesellschaftlich gab es starke Veränderungen, wie zum Beispiel die Einführung des Wahlrechtes für Frauen. Die Geschichte der Weimarer Republik lässt sich gut in drei Abschnitte gliedern. Im mittleren Abschnitt – d. h. in den Jahren von 1924 bis 1929 – war die Hyperinflation fast vorbei, es begann eine Zeit relativer politischer Stabilität und wirtschaftlicher Erholung. Es gab Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und bei zwei Reichstagswahlen im Jahre 1924 auch einen engagierten Kampf gegen Nazis, die zu dieser Zeit noch über keine politischen Mehrheiten verfügten. Im dritten Abschnitt der Weimarer Republik ab Ende 1929 kam mit der Weltwirtschaftskrise und dem Aufstieg der Nazis das Ende der Republik.
Es gibt teilweise immer noch die ärgerliche und klischeehafte Vorstellung, dass die Weimarer Republik auch für schwule Männer eine große wilde Party gewesen sei. Die Bezeichnung "Goldene Zwanzigerjahre" ist eine nachträgliche Projektion. Ich erinnere an den Film "Bent", der ergreifend und historisch richtig die Schrecken des Nationalsozialismus schildert und damit eindrucksvolle Bilder hinterlassen hat. Aber die Schilderung des angeblich sexuell freien Lebens in Berlin noch im Jahre 1934 zu Beginn des Films ist eine ärgerliche Geschichtsverfälschung. Auch für Schwule gab es keine "Goldenen Zwanzigerjahre".
Das Jahr 1924 wirkt unscheinbar
Vermutlich wurde das Jahr 1924 noch nie als ein besonderes Jahr für Schwule wahrgenommen. Nach meinen Recherchen über schwules Leben in der Weimarer Republik konnte ich aber nicht nur feststellen, dass ein Rückblick auf das Jahr 1924 sogar in Form einer Serie möglich ist, sondern ich zweifele auch daran, dass ähnliche Serien für die Jahre 1925 bis 1932 ebenso sinnvoll sein würden.
Es mag bestimmt Leser*innen geben, die es als verengend ansehen, das Jahr 1924 zu fokussieren, statt die verschiedenen Themen im Kontext der gesamten Epoche zu betrachten. Bei jedem Thema und bei jeder Quelle habe ich jedoch stets auch den Blick auf die Jahre vorher und nachher gerichtet, um das jeweilige Thema in einen größeren Zusammenhang zu stellen und anschaulich zu vermitteln.
Im Jahr 1924 ist viel passiert
Ernst Röhm, der spätere SA-Führer, wurde sich 1924 seiner Homosexualität bewusst. In den USA ermordete das schwule Paar Nathan Leopold und Richard Loeb im Mai 1924 den 14-jährigen Bobby Franks, ein Fall, der in Filmen und Theaterstücken bis heute bearbeitet wird. Die Taten des schwulen Serienmörders Fritz Haarmann haben die Berichterstattung über homosexuelle Themen in der zweiten Jahreshälfte 1924 dominiert und sind in ihrer Wirkung auf Politik und Gesellschaft nicht zu unterschätzen.

Der schwule Serienmörder Fritz Haarmann hat das Bild von Homosexuellen nachhaltig negativ beeinflusst
In einigen Folgen wird die frühe Homosexuellenbewegung beleuchtet, die vor allem in Berlin verortet war. Das "Eldorado" ist bis heute die bekannteste schwule Bar der Weimarer Republik, sie wurde am 22. März 1924 eröffnet. Mit "Die Freundin" erschien ab 1924 die weltweit erste lesbische Zeitschrift und bereicherte das Angebot an Homosexuellen-Zeitschriften.

Werbung für die Eröffnung des "El Dorado", eher bekannt als "Eldorado"
Auch kulturell ist 1924 viel passiert. Thomas Mann veröffentlichte seinen Roman "Der Zauberberg" mit einer homoerotischen Nebenhandlung, und sein Sohn Klaus Mann begann zwar nicht zu schreiben, aber zu publizieren. In diesem Jahre wurde mit "Bubi, laß uns Freunde sein" einer der ersten schwulen Schlager veröffentlicht, und im Kino lief der Film "Michael" an, der die Liebe des Malers Claude Zoret zu seinem Lieblingsmodell Michael behandelt. All das sind gute Gründe, sich das Jahr 1924 etwas genauer anzuschauen.

Die Liebe eines Malers zu seinem Modell: der Film "Michael" (1924)
Quellen zu lesbischer Geschichte werden mit aufgeführt
Über die Jahrhunderte hinweg wurden Schwule und Lesben vielfach unterschiedlich wahrgenommen. Die Straflosigkeit lesbischer Sexualität im seit 1871 geltenden deutschen Strafgesetzbuch ist nur ein äußeres Zeichen davon. Die Öffentlichkeit der damaligen Zeit beschäftigte sich vornehmlich mit Schwulen und auch die homosexuelle Emanzipationsbewegung in der Weimarer Republik ging vornehmlich von schwulen Männern aus. Diese Serie unter der Überschrift "Schwule und Lesben" zu veröffentlichen, hätte Erwartungen geweckt, die ihrem Anspruch nicht hätten gerecht werden können. In dieser Artikelserie geht es also vor allem um Schwule. Wenn es sich im Einzelfall anbot, habe ich aber Quellen zu lesbischer Geschichte mit aufgeführt.

Eine Karikatur im "Simplicissimus" (29. September 1924) stellt eine junge Frau dar, die mit Männern ausgehen soll, aber offen zugibt, "pervers" zu sein
Eine Brücke in die Vergangenheit: "genetische Verwandtschaft" und "schwule Genealogie"
In der Einleitung zu einem Nachdruck eines schwulen "Reiseführers" von 1921 ging der Historiker Manfred Herzer ("Capri", 1991, Heft 14, S. 29) auch darauf ein, ob es zwischen der Vergangenheit und der eigenen Gegenwart mehr Gemeinsamkeiten oder mehr Unterschiede gibt: "Vielleicht gibt es mit der Ausnahme von Aids in der 'Welt der Homosexuellen' von heute nichts, was es nicht auch schon in den Zwanzigerjahren gegeben hat. Sieht man näher hin, dann reduzieren sich die Gemeinsamkeiten jedoch auf ziemlich leere Abstraktionen." Herzer nennt als Beispiele Zeitschriften, Schwulenbars und Belletristik. Diese Liste lässt sich fortführen: So wurden sowohl in den Zwanzigerjahren als auch in den Siebzigerjahren Aufklärungsfilme über Sexualität gedreht, die sich durchaus in einzelnen Aspekten miteinander vergleichen lassen.
Die Verbindung zwischen früher und heute muss aber nicht unbedingt in etwas gesehen werden, das sich direkt miteinander vergleichen lässt. Herzer sieht eine "genetisch-verwandtschaftliche" Verbindung durch unterschiedliche Stufen eines "Entwicklungsprozesses" . An den Gedanken von Herzer anknüpfend, kann ich betonen, dass für mich das Interesse an schwuler Geschichte in einer Art schwuler Genealogie besteht, durch die ich mich trotz unterschiedlicher Ausgangsvoraussetzungen mit früher lebenden Schwulen verbunden fühle. Herzer betont zu Recht, dass es letztendlich jeder Person selbst überlassen bleibt, ob sie in den historischen Dokumenten "den enormen Unterschied wie auch die Ähnlichkeit und innere Verwandtschaft zum Zeitgenössischen" erblicken möchte.

War Willi Pape (alias Voo-Doo, hier in einer Werbung von Dezember 1924) ein schwuler femininer Mann? Ein "Damendarsteller" oder doch eher trans*, queer bzw. nichtbinär? Die Bewertung von Geschichte wird nicht nur durch Quellen bestimmt, sondern ist von denen abhängig, die die Geschichte bewerten
Die Problematik der Quellen
Auf der einen Seite gab es die große und vielfältige Kneipenszene in Berlin und viele Homosexuellen-Zeitschriften einer selbstbewusst wirkenden Community. Auf der anderen Seite gab es die meistens hetzerischen Artikel der bürgerlichen Presse und auch die 696 Männer, die im Jahr 1924 nach dem § 175 RStGB verurteilt wurden. Andreas Pretzel hat in seiner Broschüre "Vom Dorian Gray zum Eldorado" (2012, S. 15) zu Recht betont, dass sich mit den Quellen aus der Weimarer Republik Geschichten von Anpassung und Umorientierung, aber auch von Resistenz und Selbstbehauptung schreiben lassen. Das stimmt: Selbstbewusstsein und Selbstbehauptung liegen mit Diskriminierung und Verfolgung nahe beieinander, was kein Widerspruch sein muss.
Allen Quellen ist mit einer gewissen Skepsis zu begegnen. Viele Dokumente stammen aus Zusammenhängen, in denen Homosexuelle unfreiwillig in den Blickpunkt von Justiz, Polizei, Medizin und Medien gezerrt wurden. Deren Außensichten auf schwules und lesbisches Leben bestimmen nach wie vor einen großen Teil der homosexuellen Geschichtsschreibung. Persönliche Aufzeichnungen und Alltagszeugnisse sind nur selten vorhanden. Auch aus Schwulenzeitschriften erfährt man nur einen Teil der Wahrheit, u. a. weil aufgrund einer möglichen Zensur vieles nicht geschrieben werden konnte. So sind etwa in Kontaktanzeigen keine Hinweise auf Erotik und Begehren zu finden.
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Die Chancen neuer Quellenfunde und ein Dank an das Centrum Schwule Geschichte
Diese Serie wäre vermutlich kaum möglich gewesen, wenn in den letzten Jahren nicht viele Zeitungen digitalisiert worden wären, was durch eine Texterkennung die Suche nach Texten zum Thema erheblich erleichtert. Um hier einige Beispiele nur für das Jahr 1924 und nur für die Suche nach "homosex*" zu benennen: "ANNO" (Österreichische Nationalbibliothek) bietet 444 Treffer, "Zeitpunkt" (Zeitungsportal NRW, im Aufbau) 372 Treffer und das historische Presseportal der Friedrich-Ebert-Stiftung für "Vorwärts" und "Sozialdemokrat" 36 Treffer.
Mit Hilfe solcher Digitalisierungen werden in dieser Serie Quellen zur homosexuellen Geschichtsforschung erstmals nach 100 Jahren wieder öffentlich zugänglich gemacht. Es ist schwer zu beurteilen, welche davon die bedeutendsten sind. Dazu gehören zum Beispiel Artikel über den Bubi-Kopf als lesbische Frisurenmode ("Neues Wiener Journal", 2. April 1924) und eine dreiteilige Artikelserie über das homosexuelle Deutschland in "Die Stunde" (14., 17., und 19. Dezember 1924). Sehr bewegend fand ich einen Text von Joseph Roth in der "Frankfurter Zeitung" (2. Dezember 1924) über den Tod von Franz Duysen, der bis zu diesem Zeitpunkt 31 Jahre lang mit seinem Lebenspartner zusammengewohnt hatte.
Ein besonderes Foto habe ich allerdings nicht in digitalisierten Zeitungen, sondern durch eine klassische Recherche in Papierkopien der Homosexuellenzeitschrift "Die Freundschaft" (Oktober 1924) gefunden: Es ist das offenbar einzige Foto, das es von einem Opfer des Serienmörders Fritz Haarmann gibt und das vermutlich seit rund 100 Jahren nicht mehr veröffentlicht wurde. Für die Möglichkeit der Recherche in Homosexuellenzeitschriften der Zwanzigerjahre wie "Die Freundschaft" bedanke ich mich hiermit recht herzlich beim Centrum Schwule Geschichte in Köln.

Eine neu entdeckte Quelle: das offenbar einzige Foto, das es von einem Opfer Fritz Haarmanns gibt ("Die Freundschaft", Oktober 1924)
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