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Folge 53 von 53
Schwule Symbole im Film: Mythen, Monster und Märchen
Im letzten Teil der Artikelserie geht es um die Bedeutungsebenen von Mythen und Märchen sowie um einige Beispiele, wie auch schwule Außerirdische, Zombies und Vampire Filme bereichern.

Die Liebe zu einem Meermann in "Another Gay Sequel" aus dem Jahr 2008 (Bild: TLA Releasing)
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31. Dezember 2023, 04:23h 29 Min. - Diese Artikelserie wurde gefördert von der Homosexuellen Selbsthilfe e.V., www.hs-verein.de.
Antike Mythen – göttliche Knaben und Fabelwesen mit einem Horn
Jahrtausende alte Mythen der Antike sind bis heute bekannt, auch weil sie als universell gültig und zeitlos interpretiert werden. Neben römischen und griechischen Göttern und ihren Lieblingen (Zeus/Ganymed, Amor bzw. Eros, Poseidon, Faun/Pan u. a.) sind auch weitere antike Phantasiegestalten (Einhörner, Kentauren u. a.) sowie Redewendungen, die sich auf Mythen beziehen ("wie Phoenix aus der Asche"; "die Büchse der Pandora"), in Filmen präsent. Mit Namen wie "Faun" oder "Ganymed" wurden schwule Männer bezeichnet.
Die Verklärung der Antike
Bis heute gilt die Antike in der populären Wahrnehmung als eine Epoche, in der Homosexualität akzeptiert wurde. Hier ist nicht relevant, inwieweit dies stimmt, sondern ob Verweise auf die Antike in Filmen von den Zuschauenden als Hinweise auf Homosexualität verstanden werden. Es ist erkennbar, dass in einigen Filmen eine antik wirkende Statue platziert wird, um die Homosexualität eines Mannes anzudeuten, womit ich so unterschiedliche Filme wie "Anders als die Andern" (1919), "Mishima – Ein Leben in vier Kapiteln" (1985) und "Oscar Wilde" (1997) meine. Auch zwei schwule "Tatort"-Folgen können hier genannt werden, weil in der Wohnung von Burkhard Faber ("Der Finger", Folge 664, 2007) und in der von Jochen Kramer ("Mord in der ersten Liga", Folge 794, 2011) – schon etwas anachronistisch wirkend – antike Skulpturen zu sehen sind.

Yukio Mishima und eine antik wirkende Statue in seinem Garten in "Mishima" (1985)
Die Antike begegnet uns in schwulen Filmen auch in anderen Zusammenhängen, z. B. wenn es um platonische Liebe zwischen Männern geht. Die Umsetzung von Platons Höhlengleichnis gilt als Hauptmetapher von Bernardo Bertoluccis Film "Der Konformist" (1970), der von einem homosexuellen Konformisten handelt. Den antiken Mythos von den Kugelmenschen – eine Art Vereinigungs- bzw. Schöpfungsgeschichte – greift Julián Hernández in seinem Film "Broken Sky" (2006) auf und verbindet ihn mit der körperlichen Vereinigung eines schwulen Paares.
Die antike Götterwelt
Aus der antiken Götterwelt ist an erster Stelle der Göttervater Zeus zu nennen. Er liebte Ganymed, der als der schönste aller Sterblichen galt. In dem schwedischen Film "Vingarne" (1916) wurde aus Zeus und Ganymed der homoerotischen Romanvorlage die Figur des Ikarus, um die Zensur hinters Licht zu führen. Bezüge zu Ganymed sind auch in "The Rape of Ganymede" (2001) und "Seeing Heaven" (2010) zu finden.

Der Ikarus aus "Vingarne" (1916), der eigentlich Ganymed sein sollte
Adonis ist in der der griechisch-römischen Mythologie ein schöner Jüngling und Geliebter der Liebesgöttin Aphrodite bzw. Venus. Sein Name steht bis heute sinnbildlich für männliche Schönheit. "Michael" (1924) im gleichnamigen Film wird als "junger Adonis" bezeichnet und der Entertainer "Liberace" (2013) nennt seinen Lebenspartner mehrfach "meinen blonden Adonis" und "mein Adonis". Erinnert sei auch an die Reality-Doku "The Adonis Factor" (2010) und den Spielfilm "Adonis" (2017) von Scud.

Immer noch Sinnbild männlicher Schönheit: "Adonis" (2017) von Scud
Dionysos bzw. Bacchus ist der Gott des Weines und steht auch für sexuelle Rauschhaftigkeit. Eines seiner Attribute ist der Phallus. In "Caravaggio" (1986, 2:40 Min., hier Szene online) greift Derek Jarman diesen Gott des Weines auf. Feste zu Ehren dieses Gottes werden als "Dionysien" bzw. "Bacchanalien" bezeichnet, sie kommen u. a. in "Flaming Creatures" (1963) vor. In "Bacchanal" (2006) wird ein solches Fest zu Ehren des Dionysos aufgegriffen, wobei es zu erotischen Spielen mit beiden Geschlechtern kommt.
Der römische Gott Janus hat seine Bedeutung für Schwule wohl vor allem wegen seiner Doppelgesichtigkeit, die als "Janusköpfigkeit" sprichwörtlich wurde. Janusköpfigkeit, im Sinne von heterosexueller Fassade und schwuler Identität, wurde Schwulen schon vor mehr als 100 Jahren nachgesagt (Magnus Hirschfeld: "Die Homosexualität des Mannes und des Weibes", 1914, S. 649) und wird auch in dem schwulen Kurzfilm "Teens Like Phil" (2012, 3:55 Min., hier online) kurz im Unterricht behandelt. In "The Fluffer" (2001), in dem es um schwule Pornoproduktionen geht, heißt es sexuell doppeldeutig: "Janus war der römische Gott des Ein- und Ausgangs", was sich wohl darauf bezieht, dass er als Gott des Anfangs und des Endes angesehen wurde. Später besteht ein Gag des Films darin, dass aus dem Firmenschild "Men of Janus" das "J" entfernt wird.

Janusköpfigkeit als Unterrichtsthema in "Teens Like Phil" (2012)
Verwandlungsmythen – von Narzissen und Hyazinthen
Einige Pflanzennamen wie "Narzisse" und "Hyazinthe" beruhen auf der griechischen Mythologie und stehen in einem Zusammenhang mit gleichgeschlechtlicher Liebe. Bekannt sind diese Geschichten durch die "Metamorphosen" von Ovid, der alte Mythen über Verwandlungen mit viel Dichtkunst niederschrieb, was ich in einem meiner früheren Artikel hier auf queer.de bereits erläutert habe.
Eine dieser Verwandlungsgeschichten ist die von Narziss, der sich weder in Männer noch in Frauen verlieben konnte. Als er in das Wasser einer Quelle blickte, verliebte er sich in sein eigenes Spiegelbild und starb, als er versuchte, sich selbst zu umarmen. Am Ufer wuchsen daraufhin Narzissen. Deutliche Bezüge zu diesem Mythos finden sich in "Pink Narcissus" (1971) und sind auch dann anzunehmen, wenn sich Narzissten nicht nur in einem Spiegel, sondern auch im Wasser betrachten, wie dies in Derek Jarmans "Sebastiane" (1976) und in "Seeing Heaven" (2010) der Fall ist. Abweichend von der üblichen Bezeichnung für einen Narzissten spricht J. Edgar Hoover in dem Biopic "J. Edgar" (2011) von einer "Narzisse" abschätzig im Sinne von "Sissy" oder "Schwuchtel". In seinem Film "Saint-Narcisse" (2020) geht es Bruce LaBruce um eine gesunde Form von Narzissmus, der besonders für homosexuelle Jugendliche wichtig sei, die sich selbst lieben lernen müssten.

Gesunder Narzissmus in Bruce LaBruces Film "Saint-Narcisse" (2020)
Der Kurzfilm "Gods prefer Men" (aka "Les dieux préfèrent les hommes", 2012, hier online) versteht sich als moderne Version des Hyazinth-Mythos. Der Titel des Films "Operation Hyakinthos" (2021) bezieht sich auf die in den Achtzigerjahren von den polnischen Sicherheitsdiensten organisierte Operation "Hyacinth", die sich gegen die schwule Szene richtete. "Hyazinthen" war zu dieser Zeit in Polen eine abwertende Bezeichnung für Schwule. Sie ist vergleichbar mit dem Wort "pansy" ("Stiefmütterchen") in den USA (Wikipedia) und dem deutschen Wort "Schwuchtel".
Die Mischwesen Kentaur und Pan – rohe und animalische Sexualität
Mit Kentauren, einer Mischung aus Mensch und Pferd, wird auf die unbewusste, unkontrollierte Natur im Menschen verwiesen. Mit der Zeichnung eines Kentauren, der von hinten einen Mann fickt, hat Rosa von Praunheim seine Aids-Trilogie (1990) vermarktet. Das Motiv ist von Praunheim gut gewählt, nicht nur weil es explizit wilden Sex visualisiert, sondern auch, weil er aufgrund des kulturhistorischen Hintergrundes für dieses Bild nicht mit Zensur rechnen musste.

Die Zeichnung eines Kentauren hat Rosa von Praunheim für seine Aids-Trilogie (1990) verwendet
Eines von vielen weiteren Mischwesen ist Pan. In der griechischen Mythologie ist er ein Hirtengott und hat einen Menschenoberkörper und den Unterkörper eines Widders oder eines Ziegenbocks. Auch er steht für die "ungezügelte, ursprüngliche Triebkraft, rohe Aggression und Sexualität (und) wurde in der Antike mit einem riesigen Phallus" dargestellt (Symbolonline). In "Pink Narcissus" (1971) übernahm Bobby Kendall die Hauptrolle des Pan, in dieser Rolle ist er auch auf dem Filmcover zu sehen. In "Seeing Heaven" (2010) gibt es die Figur Pan, der hier als Kartenleger agiert.

Ein sinnlicher Pan mit Panflöte auf dem Filmcover von "Pink Narcissus" (1971)
Das Einhorn – Weiblichkeit und phallisches Horn
Das Fabelwesen Einhorn ist schon aus der Antike bekannt, auch wenn es nicht unmittelbar aus der Mythologie stammt. Das Einhorn ist ein edles, pferdeähnliches Fabeltier, dessen Horn in Bezug zu Heilkraft und Sexualität stand. In seiner heutigen, oft verkitschten Darstellung lässt es sich auch als Monster mit Zuckerguss beschreiben, wobei sich durch das Horn als phallisches Symbol Überschneidungen mit anderen gehörnten Tieren (Folge 40) ergeben. Das Einhorn kann als weibliches Wesen mit einem phallischen Horn wahrgenommen werden und hat damit eine undefinierte Sexualität. Damit scheint es das perfekte Symbol für intergeschlechtliche Menschen wie Stephanie in "Wild Side" (2004) zu sein. Nachdem die Zuschauenden sie als sexuell aktiven Part mit einem Freier sehen, wird zu einem Film im Film mit einem modernen Einhorn übergeblendet. Im Unklaren bleibt dagegen die Zeichnung eines Einhorns in der schwulen Vampirepisode "Bloodline" in "Crush" (2009).

Ein kitschiges Einhorn in Regenbogenfarben in "Crush" (2009)
Sucht man auf queer.de nach dem Stichwort "Einhorn", bekommt man bei den mehr als 50 Treffern schnell eine Ahnung davon, wie sich insbesondere intergeschlechtliche Menschen mit diesem Fabelwesen identifizieren. Einer dieser Beiträge handelt von der Cartoonserie "Powerpuff Girls" (1998-2019) und einer Folge mit dem Einhorn Donny, das im Körper eines Ponys geboren wurde.
Pornos mit Ganymedes und Adonis

Der Porno "Leather Narcissus"
Bei Bezügen auf antike Götter und ihre Lieblinge in Schwulenpornos ist zunächst einmal der Göttervater Zeus zu nennen, der für eine starke göttliche Kraft steht. "Clash of the Zeus Men" heißt ein Porno, der vom Pornolabel "Zeus Studios" vertrieben wurde.
Zeus' Liebling war Ganymed, mit dem im Porno "Ganymed. Olymp der Lust" offenbar jeder Gott im Olymp Sex haben möchte. Weiter geht es mit Adonis, der durch Filmtitel ("Blond Adonis", "Best of Adonis") und auch durch den Namen eines Labels ("Adonis Pictures") bis heute als Schönheitsideal erscheint.
Dagegen scheinen die Begriffe Amor ("Fuck me amore", "Polyamor Ass") und Eros ("Doctor Eros", "Eros Encounters") in Pornos nur für Liebe bzw. für Sex zu stehen, ohne dass der antike Liebesgott mitgedacht wird. Die Pornos "Leather Narcissus" und "Pink Narcissus" verweisen auf die vom Mythos abgeleitete Vorstellung eines selbstverliebten Narzissten.
Durch die Namen von Pornolabels ("Centaur Films", "Minotaur", "Satyrfilms") sind auch antike Mischwesen aus Menschen und Tieren auf vielen Pornocovern präsent. Wie beim Mischwesen aus Hirsch und Mensch im Logo des Labels "Staghomme Studios" scheint bis heute das Animalisch-Kraftvolle zu faszinieren.
Außerirdische, Monster und andere Schwule
Außerirdische und diverse Monster gehören zum filmischen Standardfigurenrepertoire, symbolisieren dunkle Schattenseiten und haben dabei lebenshungrige, sexuelle und aggressive Anteile. Außerirdische können – ähnlich wie Menschen außerhalb des eigenen Kulturkreises – mit ihren abweichenden Vorstellungen das Fremde symbolisieren, das die Zuschauenden fürchten, wünschen oder neugierig-fasziniert betrachten. Aber auch ein Mensch kann das Gefühl bekommen, "nicht von dieser Welt" zu sein, und sich wie ein Außerirdischer entfremdet fühlen.
Außerirdische – fremd sein oder sich fremd fühlen
Der wohl bekannteste bisexuelle Außerirdische ist Frank N. Furter aus "The Rocky Horror Picture Show" (1975), der zur Kultfigur wurde. Seine offensiv ausgelebte Sexualität war vielleicht nur deshalb möglich, weil er ein Phantasieprodukt blieb und zum Schluss wieder in den Weltraum verschwand, wo er auch herkam. In manchen Fantasyfilmen wird Sexualität mutiger ausgelebt und dargestellt, was auch für die schwulen Außerirdischen in "Binibining Tsuper-Man" (1987), die "Gayniggers from Outer Space" (1992) und die Bewohner des Planeten Uranus (Folge 48) gilt. Solche Außerirdischen regen unsere Phantasie an und halten uns einen Spiegel vor.

Ein bisexueller Außerirdischer in "The Rocky Horror Picture Show" (1975)
Etwas anderes ist es, wenn sich Schwule auf der Erde wie Außerirdische vorkommen. Der Filmtitel "Außerirdische" (1993) bezieht sich auf eine Äußerung von Max, der sich als Schwuler in dieser Gesellschaft wie jemand von einem fremden Planeten vorkommt. Zwölf Jahre später betont ein Schwuler in "Out Now" (2005) in ähnlicher Weise, dass er sich wie ein Alien fühle. Es liegt wohl vor allem an fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz, wenn sich Schwule in ihrer Herkunftsfamilie und im eigenen Kulturkreis nicht angenommen fühlen.

Ein Schwuler fühlt sich fremd in "Außerirdische" (1993)
Monster – Ausgestoßene mit Sehnsucht nach Liebe
Harry M. Benshoff zeigt anhand vieler Beispiele auf, dass die Darstellung homosexueller Film-Monster Analogien zum Verhältnis der Gesellschaft zu Homosexuellen aufweist ("Monsters in the closet. Homosexuality and the horror film", 1998, hier weitgehend online). Auch bei Monstern im Film gibt es beide Perspektiven, also die Frage, wie ich Monster sehe, und die, ab wann ich mir selbst wie ein Monster vorkomme. Der schwule Patrick betont in "Der Brief" (2008): "Die ganze Stadt meidet mich, als wäre ich ein Monster."
Der Blick von Homosexuellen auf Monster lässt sich anhand des Frankenstein-Motivs verdeutlichen. In "Beautiful Love" (aka "Monster Pies", 2013) fühlt sich der introvertierte Frankenstein-Fan Mike schon lange von seiner Umwelt entfremdet. In der Schule lernt er William kennen und sie verlieben sich ineinander. Für die Schule drehen sie gemeinsam einen Film, in dem sich zwei Monster ineinander verlieben. Es ist nicht nur eine Referenz auf Romeo und Julia, sondern auch auf ihre Liebe.
Das Biopic "Gods and Monsters" (1998) thematisiert die letzte Lebensphase des schwulen Regisseurs James Whale, der mit seinen Frankenstein-Filmen in den Dreißigerjahren Weltruhm erlangte. Hatte James Whale, weil er schwul war, einen anderen Blick auf Monster wie das von Frankenstein erschaffene? Diese Frage bleibt spannend, auch wenn sie nicht beantwortet werden kann. Im Zusammenhang mit Whales Homosexualität schrieb Frank Noack im "Tagesspiegel" (2000), seine Filme seien "bei näherem Hinsehen bewegende Plädoyers für Toleranz", und in "kultur-online" (2008) ist zu lesen, dass Whale das Monster "nicht als Ungeheuer" dargestellt habe, sondern als einen Ausgestoßenen mit einer "grenzenlosen Sehnsucht nach Liebe und sozialem Kontakt".

Monster und ihre Sehnsucht nach Liebe: "Gods and Monsters" (1998)
Zombies – böse Geister, die mit Empathie verschwinden
Mittlerweile gibt es einige Zombie-Filme, die unterschiedlich deutlich Homosexualität thematisieren, wie "Zombie Death House" (1987), "Zombies of Mass Destruction" (2009), "1313: Giant Killer Bees!" (2011) und "Zombadings 1" (2011). Im Kurzfilm "Sauna the Dead. A fairy tale" (2016) fühlt sich ein Mann in einer schwulen Sauna unwohl, weil es vielen Männern hier nur um Triebabfuhr geht. Daraufhin hat er einen visualisierten Alptraum, in dem sich die Schwulen in der Sauna in Zombies verwandeln, die ihn begehren und sich einverleiben möchten. Erst als er im Traum einen Mann küsst, verschwinden die bösen Geister und er erwacht. Es ist eine Läuterungsgeschichte, die aufzeigt, wie die Art, auf die wir miteinander umgehen, letztlich die Welt schafft, in der wir leben. Nicht schwule Saunagänger generell werden als empathielose Zombies diskreditiert, aber jene, die vergessen, dass zu jedem Geschlechtsteil auch noch ein Mensch gehört.

Schwule Zombies "Sauna the Dead. A fairy tale" (2016)
Kannibalen – ein fast verständnisvoller Blick auf Außenseiter
In dem irgendwie auch romantischen Horror-Drama "Bones and All" (2022) will eine junge Frau verstehen, warum sie Menschen, die sie liebt, töten und essen möchte. Unterwegs freundet sie sich mit dem schwulen Lee an (D: Timothée Chalamet aus "Call me by your name"), dem es genauso geht: Mit dem Betreiber einer Kirmesbude hat er Sex und er ermordet ihn danach. Bei diesem überraschenden, fast verständnisvollen Blick auf Kannibalen lassen sich Parallelen zur früheren gesellschaftlichen Situation von Schwulen erkennen, denn es geht hier um gesellschaftliche Außenseiter, die sich untereinander schnell erkennen, mit ihren Bedürfnissen im Geheimen bleiben und sogar Netzwerke schaffen, um zu überleben.
Pornos – Außerirdische und Zombies, die Tote zum Leben erwecken
Bruce LaBruce hat es geschafft, dass sein schwuler Zombie-Porno "L. A. Zombie" – den es in unterschiedlichen Fassungen gibt – in der Arte-Kompilation "Die Zombies im Film" (2:40 Min., hier online) kurz erwähnt wird. Dieser Porno erlaubt einen anderen Blick auf Zombies, weil hier der Zombie nicht tötet, sondern Männer durch Sex zum Leben erweckt. Auch dies ist ein neuer schwuler Blick auf altbekannte Filmfiguren.
Beliebter als Sujet sind jedoch Pornos mit Außerirdischen ("Star Trek. A Gay xxx Parody", "Lost in Space"). In "Bound Gods. They cum from Outer Space" wird Fetisch-Sex wie Sex aus einer anderen Welt präsentiert. Deutlich ironisch ist "Sox in Space" aus der Reihe "Sneaker Sex", dessen Titel sich ähnlich absurd und komisch anhört wie der wiederkehrende Sketch "Schweine im Weltraum" in der "Muppet Show". Auf diverse Pornos mit Bezug auf den Planeten Uranus wie "Butt Boys in Space. Blasting off to Uranus" (2001) oder "Planet Penis. Your Destination … Uranus!!" (2007) bin ich bereits in der früheren Folge über Planeten (Folge 48) näher eingegangen.

Zwei Pornos mit Außerirdischen vom Uranus: "Butt Boys in Space" (2001) und "Planet Penis" (2007)
Werwölfe – die Zärtlichkeit der Werwölfe
Der Wolf steht meistens für wilde, zerstörerische, männliche Sexualität, aggressive Triebe, Instinkte und Begierden. Er deutet auf das Unbezähmbare in uns hin. Werwölfe sind Menschen, die sich in wolfsartige Wesen verwandeln und in vielen Sagen einen Pakt mit dem Teufel eingegangen sind. Sie gehen auf tief verwurzelten Volksglauben zurück und gehören in Fantasy- und Horrorfilmen zum festen Figurenrepertoire. Auch die Figur des Werwolfs kann auf animalischen Sextrieb verweisen oder den Menschen dahinter als gesellschaftlichen Außenseiter vorstellen.
Schwule Werwölfe – Tiere mit animalischer Sexualität
Der Titel des Films "Die Zärtlichkeit der Wölfe" (1973), der von dem realen schwulen Serienmörder Fritz Haarmann handelt, knüpft daran an, dass Haarmann zeitgenössisch als "Werwolf" bezeichnet wurde. Der Film stellt zwischen Haarmanns "animalischer" Lust am Töten und seiner ausgelebten Sexualität mit jungen Männern eine direkte Verbindung her.
Auch andere Filme mit einem unterschiedlich deutlich ausgeprägten schwulen Subtext wie "Wolves of Wall Street" (2002) stellen zwischen dem Verhalten von Wölfen und dem aggressiven Sexualverhalten von Männern eine Verbindung her, was sich – trotz ironischer Brechung – auch auf die schwulen Szenen in den beiden Horrorfilm-Parodien "Chillerama" (2011) und "I Was a Teenage Werebear" (2011) bezieht.
Schwule Werwölfe – gesellschaftliche Außenseiter
Ist ein Schwuler oder ein Werwolf gesellschaftlich akzeptierter? Diese Frage kann man sich angesichts der kurzen Szene in "Teen Wolf" (1985) stellen, in der Michael J. Fox seinem besten Freund ein Geheimnis mitteilen möchte und sein Freund zunächst von einem Coming-out ausgeht. Vito Russo kommt zu der Einschätzung, dass es in der Darstellung dieses Films offenbar "besser (ist) ein Werwolf als ein Homo" zu sein ("Die schwule Traumfabrik", 1990, S. 199; zur Filmszene s. a. "The Celluloid Closet", 1995, 1:10:30 Min., hier online).
An dieser Stelle möchte ich auf den Fantasyfilm "The Wolves of Kromer" (1998) verweisen, auch wenn die beiden jungen "Wölfe" in Menschengestalt, Gabriel und Seth, im engeren Sinne keine Werwölfe sind. Die Bevölkerung beginnt eine Jagd auf sie, weil sie ihr – ohne erkennbaren Grund – Angst machen. Dieser Umgang mit den beiden "Wölfen" kann als Symbol für den Umgang der Gesellschaft mit Homosexuellen gesehen werden, weil auch heute immer noch einige Menschen glauben, dass von Homosexuellen eine Gefahr drohe.

Zwei unterschiedliche Blicke auf schwule "Wölfe": "Die Zärtlichkeit der Wölfe" (1973) und "The Wolves of Kromer" (1998)
Auch der schwule Animationsfilm "Dirty Paws" (2016, hier online) zeigt Werwölfe nicht als gefährliche Monster, sondern richtet seinen Fokus auf die Probleme innerhalb einer Beziehung, wenn sich der eigene Partner zu jeder Mitternacht in einen Werwolf verwandelt. Erwähnt sei außerdem die Werwolf-Parodie "Curse of the Queerwolf" (1988, hier Trailer), die Werwolf-Klischees mit schwulen Klischees verbindet: Bei der Verwandlung in einen "Queerwolf" wachsen rote Fingernägel statt Wolfskrallen und der Vollmond erscheint in Lila. Außerdem wird mit einem Dildo-Pflock im Hintern – hier als Vampir-Referenz – die Gefahr abgewehrt.

Die Probleme der Verwandlung für ein schwules Paar im Animationsfilm "Dirty Paws" (2016)
Pornofilme – animalische Triebe bei Vollmond
Mit "Werewolf Glory Hole Breeders" wurde nur ein Porno mit Werwolf-Bezug gefunden. Er zeigt auf dem Filmcover in klassischer Form das Motiv des Vollmondes und als äußeres Zeichen der Mutation eine Mischung aus menschlichen und tierischen Gesichtszügen. In der unteren Bildhälfte werden die wilden animalischen Triebe eines Werwolfs mit Analverkehr gleichgesetzt.

Der Porno "Werewolf Glory Hole Breeders" (Ausschnitt aus dem Filmcover)
Vampire – Sex und ewige Liebe
Sagen über Vampire mit ihrem raubtierhaften Drang nach Blut (Folge 4) wurden u. a. mit dem Roman "Dracula" (1897) popularisiert und stehen bis heute sowohl für Aberglauben als auch für erotische Phantasien. Der Vampirbiss ist ein Symbol für Sexualität. Bei der Tötung durch einen Pfahl ins Herz steht das Herz für das Gefühl. Vom Vampir ist die weit verbreitete Metapher eines "Blutsaugers" abgeleitet, der Menschen emotional oder finanziell "aussaugt", was mit der Ausnutzung einer Situation in sexueller Hinsicht verbunden werden kann.
Zur Geschichte schwuler Vampire im Film
In mehr als 20 Spielfilmen, Kurzfilmen und Serien sind schwule Vampire anzutreffen, die lieben, beißen und das Blut junger Männer trinken. Die ersten schwulen Vampire sind in Roman Polanskis "Tanz der Vampire" (1967), "Disco Beaver from Outer Space" (1978), "Graf Dracula in Oberbayern" (1979), "Once Bitten" (1985) und "Love Bites" (1992) zu sehen.
Meistens sind schwule Vampire in modernen Adaptionen dieses klassischen Genres zu finden, wie in der Serie "The Lair. Schwule Vampire" (2007), "Eulogy for a Vampire" (2009), "Crush" (2009), "Watch over me" (2010), "I Suck" (2010), der Filmreihe "Vampire Boys" (2011, 2013), "What I want from You" (2012), "Coffee and a Bite" (2012), "The Brides of Sodom" (2013), "Kissing Darkness" (2014), "Vampires: Lucas Rising" (2014) und "Drink me" (2015).
Dazu kommen einige homoerotische Filme, die sich einzelner Elemente von Vampirfilmen bedienen, wie "The Gay Bed and Breakfast of Terror" (2007), die Reihe "Brotherhood" (2001-2010) und die Serie "True Blood" (2008-2014).

Moderne schwule Vampir-Adaptionen: "Vampire Boys" (2013) und "Drink me" (2015)
Ein Vampirkuss verweist auf Oralverkehr
Die wichtigste symbolische Bedeutung hat der Vampirkuss bzw. das Aussaugen von Blut als Ausdruck für Sex, was auch in den unterschiedlichsten schwulen Vampirfilmen spürbar ist. In den USA entspricht das Verb "to suck" (saugen) dem umgangssprachlichen deutschen Ausdruck "blasen". Entsprechende doppeldeutige Formulierungen, bei denen das Aussaugen von Blut durch einen Vampir zum Ausdruck für den Oralverkehr unter Männern wird, finden sich in "Gayracula" (1983), "I Suck" (2010), "Watch over me" (2010) und sogar in der Serie "Die Simpsons" (Folge 10/4).

Blasen in "I Suck" (2010)
Ein Vampirkuss verweist auf Sex
Für Anne Rice, die Autorin des 1994 verfilmten homoerotischen Romans "Interview mit einem Vampir", gleicht der Rausch, den ein Vampir beim Trinken empfindet, einem Orgasmus. Diese sexuellen Bezüge hat sie in ihrem Roman deutlich zum Ausdruck gebracht (hier zitiert nach der Ausgabe im Verlag Goldmann, 1994): Im Sarg liegen Louis und Lestat übereinander (S. 28). Louis bezeichnet den Vampirbiss als "den Freuden der Lust nicht unähnlich" (S. 23) und so ist der Biss später auch mit einer Erektion verbunden (S. 203). In der späteren gleichnamigen Verfilmung ist ein solches sexuelles Verhältnis zwischen Lestat (D: Tom Cruise) und Louis (D: Brad Pitt) nicht einmal erahnbar. In diesem Film und den meisten anderen Vampirfilmen merkt man jedoch, dass die Partner der Vampire gebissen werden möchten. Daneben gibt es jedoch auch nicht einvernehmliche Vampirküsse, die dementsprechend mit einer Vergewaltigung gleichzusetzen sind. So wurde Shido von dem Vampir Cain in der Anime-TV-Serie "Nightwalker. The Midnight Detective" (1998) mit einem Biss gegen seinen Willen in einen Vampir verwandelt.
Jelka Göbel hat in ihrer Untersuchung der Vampirfilme ab 2000 ("Neues Jahrtausend, neuer Vampirfilm? Kontinuität und Wandel eines Genres", 2012, S. 151) mit vielem Recht: Der Vampir ist nicht mehr eine todbringende Schreckensgestalt, sondern Ausdruck ewiger Liebe. Anhand der Vampir-Figuren werden auch gesellschaftliche Fragen behandelt, dabei haben Filme wie "Twilight" eher konservative Botschaften, die bis zur Propagierung von Triebverzicht reichen. Ich bleibe jedoch etwas skeptisch bei ihrer Annahme, dass in allen Vampirfilmen ab 2000 "die Metapher des Blutsaugens nicht mehr der Verschlüsselung sexueller Akte" diene.
Ein Vampirkuss verweist auf unsafen Sex
Ein Traum von einem Vampir, der einen aussaugt, steht im Aids-Drama "The living end" (1992) im Kontext der zu dieser Zeit häufig tödlich verlaufenden Immunschwächekrankheit Aids. In "Interview mit einem Vampir" (1994) bittet der Reporter Daniel Malloy (D: Christian Slater) den Vampir Louis (D: Brad Pitt) ausdrücklich darum, ihn durch einen Biss zum Vampir zu machen. In ähnlicher Form wird dieser Wunsch auch in "Crush" (2009) geäußert.

Der Reporter Daniel Malloy (l., D: Christian Slater) will in "Interview mit einem Vampir" (1994) ein Vampir werden
Einige Rezensionen sehen in solchen Filmszenen zu Recht eine Parallelisierung zwischen dem Vampirkuss und unsafem Sex. So betont Jens Radulovic ("Die Inszenierung des Absinths im Film", 2010, S. 64), dass die Dracula-Geschichte als Metapher für Angst und Lust angesichts der Gefahren von unsafem sex gelesen werden kann. Brigitte Weingart ("Ansteckende Wörter. Repräsentationen von Aids", 2002, S. 228-230) verweist darauf, dass Vampirgeschichten "traditionellerweise von Unsafe Sex" handelten und die Analogie zu Aids "naheliegend" sei, und Ellis Hanson ("Undead". In: "Inside/out", 2013, S. 324-340, hier S. 336) betont mit Bezug auf schwule Männer und Aids, dass es eine Verbindung zwischen dem Vampirmotiv, Tod und anal-erotischen Wunschvorstellungen gebe.
Diese symbolischen Verbindungen erscheinen nicht nur schlüssig, sondern lassen sich auch gut am Beispiel von "Scab" (2005) aufzeigen: Hier ist die Ausgangssituation die anale Vergewaltigung eines Mannes ohne Kondom, der sich danach zum Vampir entwickelt und nun ebenfalls andere Männer vergewaltigt. Auf diese Weise wird der Vampirbiss mit Analverkehr ohne Kondom parallelisiert.

Analverkehr ohne Kondom gleicht in "Scab" (2005) einem Vampirbiss
Schwule und Vampire – Parallelen zur gesellschaftlichen Situation
Wenn in "Disco Beaver from Outer Space" (1978, hier online) ein schwuler Vampir namens "Dragula" ("drag" = Fummel) mehrere heterosexuelle Männer durch seinen Biss "schwul macht", ist nicht nur die Gleichsetzung mit Sexualität erkennbar, sondern auch, wie sich der Film über die früher verbreitete "Verführungstheorie" lustig macht. In "Love Bite" (2008) wird das Geständnis gegenüber dem Freund, ein Vampir zu sein, ähnlich wie ein Coming-out-Gespräch inszeniert.
Besonderes Interesse verdient die Serie "True Blood" (2008-2014), die in der Gegenwart spielt. Sie zeigt bei der Thematisierung von Vampiren und ihrer Koexistenz mit den Menschen "Parallelen zur Emanzipation Homosexueller" auf, wobei sich die Situation der Vampire im Film erkennbar an der der Schwulen und Lesben in den USA orientiert. So fährt im Vorspann "die Kamera an einer Kirche vorbei, an deren Portal die Worte 'God hates fangs' (= Gott hasst Reißzähne) angeschlagen sind" – eine Anspielung auf den homophoben Slogan "God hates fags" (= Gott hasst Schwuchteln) (Wikipedia).
Schwule als "Vampire" und weitere Bedeutungsebenen
Den Ausdruck "Vampire" verwendet der Filmhistoriker Vito Russo ("Die schwule Traumfabrik", 1990, S. 187, 189) für die beiden kaltblütigen Mörder in "Cruising" (1980) und "Zärtlichkeit der Wölfe" (1973). In "The Fruit Machine" (1988) wird ein Freier als "Vampir" bezeichnet, was hier im Zusammenhang mit der Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses steht.
In einem Vampirfilm können noch viele weitere Bedeutungen enthalten sein, die ich anhand eines der bekanntesten schwulen Vampirfilme anreißen möchte. Für Anne Rice, die Autorin des bereits erwähnten verfilmten Romans "Interview mit einem Vampir", hat Blut "mehrere symbolische Bedeutungen: Es steht für den Prozess der Regeneration (…), aber auch für ein Opfer und den Tod (…). Das Feuer steht ebenso für Zerstörung wie für Übergang und Veränderung. Im Film brennt Louis drei Gebäude nieder, die wiederum symbolisch für das 'Alte' und nicht mehr Tragbare stehen" (zitiert nach Wikipedia).
Pornos zum Thema
"Gayracula" (1983) war vermutlich der erste schwule Vampir-Porno. Auch einige spätere Schwulenpornos beziehen sich auf schwule Vampire ("The Vampire of Budapest", "Vampire Boys", "A Vampire in Town", "Thirst"), wobei regelmäßig Wortspiele mit "suck" (= blasen) zu finden sind ("Gayracula. He'll suck you dry!", "Vampires Sextasy. Bloodsuckers and Cocksuckers in the Twilight").

"Gayracula" (1983) mit einem Wortspiel übers Blasen
Auf einigen Filmcovern wird der Vampirbiss optisch mit Oralverkehr verbunden ("The Bite"). Viele Titel von Schwulenpornos sind offenbar Anspielungen auf den erfolgreichen Spielfilm "Twilight" (2008) ("Twinklight chronicles", "Twinklight", "Twinklight Diary"). Auf den Filmcovern von Pornos ist ein breites Spektrum von klassischen Motiven des Vampirgenres zu finden: Vampirzähne, rote Augen, tropfendes Blut, Vollmond, die Signalfarben Rot und Schwarz, Fledermäuse und Burgen.
Märchen und Fabeln – es war einmal …
Märchenfilme sind Filme, die von den heldenhaften Abenteuern von Königen, Prinzen und Feen handeln. Märchen basieren auf archetypischen Mustern und haben eine allgemeingültige Bedeutung, weil sie weder zeitlich noch örtlich festgelegt sind. Eine psychologische Deutung von Märchen bietet Eugen Drewermanns Buch "Lieb Schwesterlein, laß mich herein. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet". Im Folgenden geht es nicht nur um moderne Märchen, sondern auch um klassische, die als Vorlagen für neue schwule Geschichten dienen.
Märchen aus 1001 Nacht
"Tausendundeine Nacht" ist eine Sammlung morgenländischer Erzählungen und ein Klassiker der Weltliteratur. Der schwule Regisseur Pier Paolo Pasolini hat einige Episoden als "Erotische Geschichten aus 1001 Nacht" (1974) verfilmt, wobei eine Episode von einem Prinzen handelt, der in einer Höhle auf einer einsamen Insel einen Jüngling findet und sich in ihn verliebt. Kurze Zeit später stirbt der Jüngling an seinem Geburtstag durch einen Unfall mit einem Messer, womit sich eine Prophezeiung erfüllt. Für diese Episode orientierte sich Pasolini vage an der ebenfalls homoerotischen literarischen Vorlage (online zugängliche Fassung: "Tausend und eine Nacht", 1838, S. 234-237, insb. S. 235-236 mit Zeichnung). Auf die Bedeutungen von Motiven wie Höhle und Insel bin ich bereits in anderen Folgen eingegangen.
Eine sehr freie Verfilmung ist dagegen "Soll ich dich einem Sommertag vergleichen?" (2022). Sie kann als eine "queere Variante" von 1001 Nacht bezeichnet werden, die "arabische Volkssagen mit ägyptischer Popmusik kombiniert" (s. queer.de) und deren Trailer bereits verdeutlicht, wie hier mit dem geheimnisvollen Wald, erotischen Masken und der leidenschaftlichen Nacht symbolische Motive verwendet werden.
Die Märchen der Brüder Grimm
Weltweit bekannt sind mittlerweile die von den Brüdern Grimm gesammelten und bearbeiteten Märchen, die schon oft verfilmt wurden. In einigen Filmen wurden die ursprünglichen Handlungsmuster auf Schwule übertragen, womit die Märchen ihre Wandlungsfähigkeit beweisen.
So stand Grimms Märchen "Hänsel und Gretel" für François Ozons Film "Ein kriminelles Paar" (1999) erkennbar Pate: Alice und Luc verirren sich im Wald und entdecken eine einsame Hütte. Ein kannibalistischer Hüttenbewohner nimmt beide gefangen und benutzt Luc als Sexsklaven. Wie im Märchen geht es um Urängste in einem dunklen Wald, aber statt einer bösen Hexe in einem Knusperhäuschen um einen Schwulen in einer einsamen Hütte. Sehr vage sind dagegen die Bezüge in "Burning Palms" (2010, 1:07:30 Min., hier online), worin zwei Väter ihr Kind im Wald aussetzen, weil sie von ihm als "faggots" (= Schwuchteln) beleidigt wurden. Der Kurzfilm "Zolushka" (2014) variiert "Aschenputtel": Als Märchen für Erwachsene wird hier gezeigt, wie eine gute Fee Prince Charming dabei hilft, in einer Cruisingbar seinen Prinzen aus der vorherigen Nacht wiederzufinden. Er muss sich nur daran erinnern, wie der Prinz geschmeckt und gerochen hat.
In einer Folge der "Simpsons" (Folge 16/6, 2005) liegt Smithers im Sterben. Um ihn zu retten, kommt Mr. Burns mit dem rettenden Medikament zu Smithers, der bereits in einem Glassarg aufgebahrt ist, und erweckt ihn mit einem Kuss zum Leben. Hier wurde aus "Dornröschen" das Motiv übernommen, dass eine Person wachgeküsst wird, und aus "Schneewittchen" das Motiv der Aufbahrung in einem gläsernen Sarg. Wegen der recht einseitigen Liebe des schwulen Smithers zu Burns wäre eine Darstellung in umgekehrter Positionierung plausibler gewesen.

Ein schwules Crossover von "Dornröschen" und "Schneewittchen" in "Die Simpsons" (Folge 16/6, 2005)
Hans Christian Andersen, Meerjungfrauen und Meermänner
Die Meerjungfrau repräsentiert "die Aussicht auf sexuelle Liebe, Vergnügen und Erfüllung von Wünschen" ("Das Buch der Symbole", 2013, S. 694). Diese traditionelle Symbolik geht nicht verloren, wenn statt der Meerjungfrau ein Mann auftritt. Die schwierige Liebe zwischen einem Mann und einem Meermann wird ausführlich in "Another Gay Sequel" (2008) und dem Animationsfilm "Fish Tale. A Gay Love Story" (2017, hier online) dargestellt. Ein schwuler Meermann ist auch kurz in "Die Simpsons" (Folge 17/18) zu sehen. Sie alle sind bemerkenswerte Adaptionen des Motivs der klassischen Meerjungfrau.
Die heute bekannteste Meerjungfrau ist wohl die in dem Märchen "Die kleine Meerjungfrau" von Hans Christian Andersen, dessen Homosexualität seit mehr als 120 Jahren diskutiert wird (s. "Hans Christian Andersen: Beweis seiner Homosexualität", in: "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen", 1901, S. 203-230). Heute wird versucht, aus Andersens auch oft verfilmten Märchen die darin enthaltene homoerotische Maskierung herauszuarbeiten, denn schließlich geht es in "Die kleine Meerjungfrau" darum, seinen Schmerz und seine Liebe nicht aussprechen zu dürfen, in "Des Kaisers neue Kleider" um Bloßstellung in der Öffentlichkeit und in "Das hässliche Entlein" um einen sozialen Ausschluss derer, die anders sind als die anderen.
Dickens und Hauff – ernste Märchen über nächtliche Geister und steinerne Herzen
Charles Dickens' "Weihnachtsgeschichte" wurde 1843 erstmals veröffentlicht und handelt von dem Geizhals Ebenezer Scrooge, der von den drei Geistern der vergangenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen Weihnachten besucht wird, die ihn dazu veranlassen, sein Leben zu ändern. Zu den zahlreichen Adaptionen bzw. Variationen gehört der schwule Kurzfilm "One Voice" (2011): Der Schultyrann Alex bekommt in der Nacht Besuch von drei ehemaligen Mitschülern, die sich nach Mobbing aufgrund ihrer Homosexualität das Leben genommen haben und Alex dazu bringen, sein bisheriges Verhalten zu ändern. Auch dieser Kurzfilm ist eine Läuterungsgeschichte, wobei die symbolischen Bedeutungen der Geister in Bezug auf verschiedene Zeiten nicht übernommen wurden.
In Wilhelm Hauffs Märchen "Das kalte Herz" von 1827 verkauft Peter Munk sein Herz an den bösen Geist Holländermichel und bekommt dafür ein Herz aus Stein. Danach kann sich Peter Munk über nichts mehr freuen und keine Liebe mehr empfinden. Bei dem Kurzfilm "Gefrorenes Herz" (2012, hier online), der von der Ermordung eines Schwulen handelt, ist möglicherweise nur der Titel eine vage Referenz an dieses Märchen, was symbolisch ebenfalls auf Emotionslosigkeit, hier allerdings die der homophoben Täter, verweist. Darüber hinaus sind einige symbolische Bildmotive zu sehen, wie rote Blutstropfen im weißen Schnee, die farbsymbolisch auf Gewalt und Unschuld verweisen und in ähnlicher Form auch aus Märchen bekannt sind.
Eine Überdosis an Kitsch in Form von Märchen
Auch wenn es sich recht klischeehaft anhören mag: Ich kann mir gut vorstellen, dass es die besondere Leidenschaft schwuler Männer für Kitsch und Camp ist, die sie in einem höheren Maße für Märchen empfänglich werden lässt. Dies wäre zumindest eine gute Erklärung dafür, dass das moderne Märchen "Der Zauberer von Oz" (1939) bei Schwulen zum Kult und das Lied "Somewhere over the rainbow" zur Homo-Hymne wurde. Märchen wie dieses können als innere Flucht in eine bessere Welt dienen. Eine vergleichbare Überdosis an Kitsch und märchenhaften Traumgestalten enthält "Pink Narcissus" (1971).
Man beachte auch die Märchenbezüge in "Mein Leben in Rosarot" (1997). Der siebenjährige Ludovic trägt gerne Mädchenkleider und will seinen besten Freund Jérôme heiraten. In einer Theateraufführung verkörpert er Schneewittchen, um Jérôme zu küssen. Mit Szenen mit einer guten Fee und ihrem Feenstaub lässt sich der Film sehr konsequent auf Ludovics Phantasiewelt ein. In dem Kurzfilm "Fairies" (2003) und dem Remake "Wäre die Welt mein" (2008) geht es um Timothy, der an seiner Highschool von homophoben Klassenkameraden gemobbt wird. Während er eine Rolle in Shakespeares "Sommernachtstraum" einstudiert, verändern Elfen, Feen und Fabelwesen seine Realität. Auch in diesen beiden Filmen vermischen sich die Grenzen zwischen harter Realität und magischem Märchen.

Feenzauber in "Mein Leben in Rosarot" (1997)
"Brookton Hollow" (2010) ist ein Märchen in Form einer Verwandlungsgeschichte. Der junge Kyle lebt zusammen mit seinem Vater und einer Kuh namens Willis. In der Nacht lernt Kyle einen jungen Mann kennen, der Willis' Kuhglocke trägt. Dieser Mann erzählt ihm von dem Fluch, der ihn zu Beginn eines jeden Tages in eine Kuh verwandelt, und dass er sich nur nachts als Mensch frei bewegen kann. Nur wahre Liebe kann ihn vollständig menschlich werden lassen. Als am nächsten Tag die Kuh Willis geschlachtet werden soll, verhindert dies Kyle als Akt der Liebe und der Fluch ist für immer gebrochen. Es ist ein modernes Märchen, das mit einem geheimnisvollen nebligen Wald, einer roten Laterne und einer ausgeblasenen Kerze einige für Märchen typische Symbole aufgreift und diese in einer neuen Geschichte präsentiert.

Ein schwules Verwandlungsmärchen in "Brookton Hollow" (2010)
Der Traumprinz – reale Suche und märchenhafter Wunsch
Schwule verbinden mit dem Wort "Prinz" wohl weniger die heutigen Nachkommen des Hochadels, sondern wohl eher den gutaussehenden "Traumprinzen" als Verkörperung eines perfekten Partners. Auch in Filmen wird deutlich, dass diese Vorstellung von einem Traumprinzen auf Märchen basiert.
Den Film "Something for Everyone" (1970) mit einem bisexuellen mordenden Prince Charming habe ich unter der Überschrift "Schwules Märchen trifft schwarze Komödie" hier auf queer.de vorgestellt. Zu den Märchen-Bezügen des Films gehört das "Märchenschloss" Neuschwanstein. Sein Erbauer, der bayerische König Ludwig II., wird als homosexuell angesehen. In den Siebzigerjahren gab es das Genre der deutschen Sex-Komödien, darunter als Subgenre viele Sex-Parodien auf altbekannte Märchen. Dazu gehört Franz Marischkas "Die Stoßburg" (1974), worin ein Prinz einem recht verdutzten Mann mitteilt: "Du sollst meine Prinzessin sein." Sieben heiße Küsse des Prinzen bilden die Schlussszene des Films.
Spätere Filme verbinden die Suche nach einem märchenhaften Prinzen mit der zum Teil harten Realität. In dem Drogendrama "Prinz in Hölleland" (1993) wird die Geschichte von Berliner Junkies parallel zu einem nicht immer kindgerechten Puppenspiel erzählt, das von der Liebe zwischen einem Prinzen und einem Müllerburschen erzählt. Benjamin Morgan verbindet in seinem Kurzfilm "Meet Joe Gay" (2000) seine eigene Biographie mit einem Märchen und dem Versuch, seinen Traumprinzen zu finden. Der Film beginnt mit dem Satzanfang "Once upon a time …" ("Es war einmal …") und endet damit, dass der Protagonist mit seinem Traumprinzen in eine gemeinsame Zukunft reitet. Der portugiesische Regisseur João Pedro Rodrigues zeigt in "Irrlicht" (2022) einen Prinzen, der Feuerwehrmann wird, was im Ergebnis ein Mix aus Märchen, Musical, Liebesfilm und Porno wurde. In gewisser Weise lässt sich hier auch der Film "Formula 17" (2004) anführen. Im "Making Of" als Teil der DVD wird betont, dass dieser Film als eine Art Märchen zu verstehen sei und die Zuschauer*innen Traumprinzen und ein Happy End sehen möchten.

Sind der Prinz und der Schuh auch passend? Der Traumprinz in "Meet Joe Gay" (2000)
Pornos – 1001 sexuelle Phantasien
Auch Schwulenpornos adaptieren klassische Märchenstoffe ("Märchen Knaben", Teil 1-3). Meistens sollen sie den Zuschauer mit den arabischen Märchen aus 1001 Nacht in eine zauberhafte Welt voll Sex entführen ("Wet Dreamz of Genie", "I dream of a twinky"). Aus dem Personenkanon der Märchen ist vor allem der Prinz beliebt ("Nubian Princes", "Breeding Prince Charming").
Mit harter Realität holen einige Pornos die in Märchen verklärten Prinzen aber auch auf den Boden der Realität ("Gypsy Prince", "Princes pervers"). Eine andere Form des Bruchs zwischen Märchen und Realität zeigen Filme, die mit Bildmotiven wie Ansichten von New York oder Streifenwagen die heutige Zeit zeigen, diese aber mit der Märchenfloskel "Es war einmal …" verbinden ("Once upon a time", "Once upon a time in New York"). An dem Motiv der Meerjungfrau scheint bei der Übertragung auf einen schwulen Meermann nicht ganz überraschend vor allem der große Schwanz zu interessieren ("A Man's Tail").

Feuchte Träume in "Wet Dreamz of Genie" und harte Realität in "Princes pervers"
Zum Ende der Artikelserie "Schwule Symbole im Film"
Mit dieser Folge endet die Artikelserie über schwule Symbole im Film. Den Themenblock über schwule Märchen habe ich an die letzte Stelle gesetzt, um einen positiven Abschluss zu erreichen. Alle Folgen dieser Serie, die vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2023 hier exklusiv wöchentlich auf queer.de veröffentlicht wurde, bleiben weiterhin kostenlos online abrufbar und lassen sich über das Suchfeld mit "Schwule Symbole im Film" oder anderen Suchbegriffen wie "Märchen" leicht recherchieren. Es würde mich freuen, wenn ich mit diesen Artikeln Interesse für die vielfältigen Symbole im Film geweckt und vielleicht auch weitere Forschung inspiriert habe. Für Rückfragen stehe ich gerne zur Verfügung. Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit!

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