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Folge 1 von 10

Schwules Leben vor 100 Jahren: Politik und Unrecht

In dieser ersten Folge geht es um Politik, schwule Nazis und den § 175, der wie ein Damoklesschwert über homo- und bisexuellen Männern hing und auch 1924 nicht abgeschafft werden konnte.


Schwuler Nazi: Ernst Röhm wird sich 1924 seiner Homosexualität bewusst (Bild: Wikipedia)

Die politische Situation von 1924

Seit der Reichstagswahl vom 6. Juni 1920 stellten die Sozialdemokrat*innen die stärkste Fraktion im Reichstag. 1924 gab es am 4. Mai und am 7. Dezember zwei Reichstagswahlen. Nach dem versuchten Putsch Adolf Hitlers im November 1923 war die NSDAP zwar von November 1923 bis Februar 1925 verboten, damit war die Nazi-Gefahr jedoch nicht gebannt, weil als "Ersatz" die "Nationalsozialistische Freiheitspartei" zu den Wahlen antrat.

Die Hintergründe des Buchtitels "1924. The Year That Made Hitler" des US-Journalisten Peter Ross Range (2016) sind leicht nachvollziehbar. Wegen des Putsches wurde Adolf Hitler im April 1924 zu fünf Jahren Haft verurteilt, die er aber nur bis Dezember 1924 verbüßen musste. Während der Haftzeit schrieb er den ersten Band seiner Kampfschrift "Mein Kampf" (die zwei Bände wurden 1925 und 1926 veröffentlicht). Nach seiner Haftentlassung wurde Hitler, der damals noch österreichischer Staatsbürger war, nicht ausgewiesen, sondern durfte im Deutschen Reich bleiben und konnte die Partei wieder neu aufbauen. Ranges Buchtitel bezieht sich auf Hitler, lässt sich aber auch gut auf Ernst Röhm übertragen.


Hitler (l.) und Röhm (2. v. r.) nach der Urteilsverkündung im Hitlerprozess am 1. April 1924. Einen Monat später forderte der "Ulk" (2. Mai 1924) seine Leser*innenschaft auf, am 4. Mai 1924 die Demokratie und nicht das Hakenkreuz zu wählen

Ernst Röhm wird sich 1924 seiner Homosexualität bewusst

Auch Ernst Röhm (1887-1934) hatte sich an Hitlerputsch beteiligt und wurde im April 1924 verurteilt. Nach einer nur fünfmonatigen Haftstrafe baute er die SA zu einer paramilitärischen Kampforganisation aus und zog noch 1924 für die "Nationalsozialistische Freiheitspartei" in den Reichstag ein.

Nach eigenen Angaben wurde sich Röhm 1924 seiner Homosexualität bewusst: "Ich bilde mir ein, gleichgeschlechtlich (veranlagt) zu sein, habe dies aber richtig erst 1924 'entdeckt'" (Brief von Ernst Röhm an Karl-Günther Heimsoth vom 25. Februar 1929, abgedruckt in Helmut Klotz: "Der Fall Röhm", 1932). Ab Mitte der Zwanzigerjahre verkehrte er in Berliner Homosexuellenlokalen und lebte seine Sexualität in den dortigen Dampfbädern aus (Wikipedia). Von 1928 bis 1930 hielt sich Röhm in Bolivien als Militärberater auf. Nachdem er nach Deutschland zurückgekehrt und im Januar 1931 erneut SA-Führer geworden war, begann im April 1931 die sexuelle Denunziation seiner Person wegen Homosexualität. Weil Röhm diese Denunziationskampagne ohne erkennbaren politischen Schaden überstand, führte dies in Teilen der Öffentlichkeit – auch bei manchen Homosexuellen – zu der irrigen Annahme, dass Homosexualität in der NSDAP geduldet werde. Röhms spätere Ermordung 1934 durch die Parteiführung wurde von der NS-Propaganda mit der Lüge gerechtfertigt, dass ein Putsch der SA unter Röhm unmittelbar bevorgestanden habe.

Karl-Günther Heimsoth schreibt seine Dissertation

Karl-Günther Heimsoth (1899-1934) schrieb Mitte 1924 seine Doktorarbeit im Fach Medizin über gleichgeschlechtliche Liebe bzw. Sexualität unter dem Titel "Hetero- und Homophilie". Dabei orientierte er sich erkennbar an Otto Weiningers "Geschlecht und Charakter" (1903) und Hans Blühers "Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft" (1919). Wegen dieser und anderer Veröffentlichungen wird Heimsoth manchmal als Homosexuellenaktivist angesehen. Heimsoth war ein überzeugter Nationalsozialist, auch wenn er erst im Mai 1933 Mitglied der NSDAP wurde. Während er sich von einem Teil der frühen Homosexuellenbewegung abgrenzte, publizierte er 1925 Artikel in der Homosexuellenzeitschrift "Der Eigene". Er verehrte maskuline "Männerhelden", die er in den Soldaten des Ersten Weltkrieges beispielhaft verkörpert sah. Ende 1928 lernte er Ernst Röhm persönlich kennen, sie besuchten gemeinsam homosexuelle Treffpunkte und schrieben sich Briefe. Die Röhm belastenden Briefe wurden im Zuge von Ermittlungen gegen ihn wegen homosexueller Handlungen im Juli 1931 beschlagnahmt und im März 1932 im Rahmen der Denunziationskampagne veröffentlicht. 1934 verschwand Heimsoth unter bisher ungeklärten Umständen.


Der § 175 RStGB und die Petitionen

Im Jahre 1872 wurde aus dem Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes das Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches. Nach dem § 175 RStGB wurde "widernatürliche Unzucht" zwischen Männern mit Gefängnis bestraft, wobei mehrere Urteile des Reichsgerichts festlegten, dass darunter "beischlafähnliche Handlungen" zu verstehen seien – also Anal-, Oral- und Schenkelverkehr, nicht aber gegenseitige Masturbation. Für die frühe Homosexuellenbewegung, die sich Ende des 19. Jahrhunderts gründete, gehörte die Abschaffung des § 175 zu ihren Hauptzielen. Der § 175 wurde dadurch – neben dem § 218, der Abtreibung unter Strafe stellte – der bekannteste Paragraph des Strafgesetzbuches. Die erste von mehreren Petitionen für eine Abschaffung des § 175 wurde 1899 eingereicht. Alle Petitionen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik hatten jedoch keinen Erfolg und führten nicht zur Abschaffung des Unrechtsparagraphen.

1935 wurde der § 175 von den Nazis verschärft. Von nun an standen nicht mehr nur "beischlafähnliche Handlungen" unter Strafe, sondern alle sexuellen Handlungen und sogar Anmache zwischen Männern. Von der Bundesrepublik Deutschland wurde der Paragraph in der verschärften Fassung übernommen. 1969 und 1973 wurde er bedeutend reformiert, aber erst 1994 endgültig abgeschafft.

Der erfolglose Versuch im Juni 1924, den § 175 zu kippen

Auch im Jahre 1924 gab es einen Versuch zur Streichung des Paragraphen. Im Reichstagsprotokoll vom 23. Juni 1924 lässt sich nachlesen, dass die KPD den Antrag gestellt hatte, den § 175 RStGB außer Kraft zu setzen. In der Homosexuellenzeitschrift "Die Freundschaft" (Heft 7, 1924, S. 145-146) erschien dazu ein Beitrag von Magnus Hirschfeld, dem Gründer des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK), unter der recht verheißungsvollen Überschrift "Antrag auf Abschaffung des § 175". Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Reichstag warnte er jedoch vor "übertriebenen Erwartungen auf einen positiven Erfolg", merkte aber auch an: "Es ist in der Geschichte unseres Kampfes immerhin bemerkenswert, dass hier zum ersten Male ein ausdrücklicher Antrag auf Außerkraftsetzung des § 175 von einer politischen Partei gestellt wird." Wie von Hirschfeld erwartet, scheiterte auch dieser Versuch an den fehlenden politischen Mehrheiten. Wer sich freute, hatte sich also auch 1924 zu früh gefreut. Der Antrag wurde gestellt, als die näheren Umstände zum Fall des Serienmörders Haarmann noch nicht bekannt waren. Einige Monate später waren auch die Kommunist*innen nicht mehr für eine Abschaffung des § 175 zu haben, wie die Homosexuellenzeitschrift "Fanfare" meldete ("Fanfare", 1924, Heft 31, S. 2).


Eine optimistisch wirkende Überschrift in "Die Freundschaft" (1924, Heft 7)

Der 1924 erstellte und diskutierte "Entwurf 1925" für ein neues Strafrecht

Nach der Wahl am 4. Mai 1924 befasste sich die neue Reichsregierung mit dem Entwurf für ein neues Strafgesetzbuch. Im November 1924 wurde dieser Entwurf über das Kabinett in den Reichsrat eingebracht und hieß nun "Entwurf 1925". Überschattet wurde die Erstellung des Entwurfs durch die breite Presseberichterstattung über den schwulen Serienmörder Fritz Haarmann. Der Strafgesetz-Entwurf sah mit Zuchthaus statt bisher "strengem Gefängnis" eine Strafverschärfung für homosexuelle Handlungen vor (s. dazu "Die Geschichte des § 175. Strafrecht gegen Homosexuelle", 1990, S. 88-93). Einzelne Zeitungen wiesen bereits 1924 auf die geplante Strafverschärfung hin (z. B. die Wiener sozialdemokratische "Arbeiter-Zeitung", 19. Dezember 1924, und die "Bergheimer Zeitung", 20. Dezember 1924). Einige Wochen später zerpflückte Magnus Hirschfeld diesen Entwurf in der "Weltbühne" (1925, Heft 3, S. 91-95) und fand dort die richtigen kritischen Worte dazu. Den Entwürfen von 1922 und 1925 folgten weitere von 1927 und 1930, die aber bis 1933 nicht mehr zur Abstimmung kamen.


Stimmen für die Abschaffung des § 175

Auch wenn die Petitionen in der Weimarer Republik mit Tausenden von Unterzeichner*innen keinen Erfolg hatten und nicht zur Abschaffung des § 175 RStGB führten, lohnt sich ein Blick darauf, wer sich für die Abschaffung (mit mehr als einer Unterschrift) einsetzte. Auf die emanzipatorischen Schriften der frühen Homosexuellenbewegung werde ich noch in einer späteren Folge eingehen.

Carl Decke – die Homosexualität schädigt niemanden

Recht unbekannt ist heute der Schriftsteller Carl Christian Bry (d.i. Carl Decke, 1892-1926), der in seinem Buch "Verkappte Religionen" (1924, S. 38-41) mit recht wirren Argumentationen und Querverbindungen auf einigen Seiten auch die Homosexualität verteidigte: "Ein Verbrechen sei Homosexualität sicher nicht, denn sie schädige niemand." Er bedaure, dass Vorurteile leider mehr als die Vernunft zählten. Oscar Wilde, für dessen gerichtliche Verurteilung sich die Gesellschaft noch schämen werde, sei der "Vorkämpfer von etwas, das eines Tages allgemein als die höhere Form anerkannt sein werde".

Kurt Hiller – der § 175 ist die Schmach des Jahrhunderts

Eine der bedeutendsten Schriften gegen den § 175 der Weimarer Republik stammte von dem Juristen, Schriftsteller und Homosexuellenaktivisten Kurt Hiller (1885-1972), der sich schon früh der Homosexuellenbewegung angeschlossen hatte und auch in seiner juristischen Dissertation "Das Recht über sich selbst" (1907) die Homosexualität verteidigt hatte.


Kurt Hiller und seine Schrift "§ 175: Die Schmach des Jahrhunderts!" (1922)

Hillers Kampfschrift "§ 175: Die Schmach des Jahrhunderts!" (1922) fand weite Verbreitung. Bei einer seiner Äußerungen denkt man weniger an die Zwanzigerjahre, sondern eher an Rosa von Praunheim: Für Hiller ist nicht der Homosexuelle "krank", sondern die Krankheit hat ihren Ursprung "in den Verhältnissen, unter denen er lebt" (S. 27). Auch ansonsten dreht Hiller den Spieß gerne mal um: "Der Homosexuelle hat keinerlei Anlaß sich zu schämen; Grund sich zu schämen haben höchstens die, welche ihm Scham zumuten" (S. 32). Diese Schrift richtete sich weniger an die Gesellschaft, sondern vor allem an die Schwulen: "Man muß nicht winseln, man muß p rotestieren" (S. 29). Hillers Ideen waren zum Teil unrealistisch, aber in einem Punkt hat er bis heute Recht: Was gestern noch eine Utopie war, kann heute eine gute Idee und morgen schon Realität sein. 100 Jahre nach dem ersten Erscheinen der Schrift erschien 2022 eine ergänzte Neuauflage, was ein Indiz für ein nachhaltiges Interesse an Kurt Hiller und seinem beachtenswerten Werk ist.

Karl Kraus – man müsste laut aufschreien


Der österreichische Schriftsteller Karl Kraus

Ein Hauptwerk des österreichischen Schriftstellers Karl Kraus (1874-1936) ist die Zeitschrift "Die Fackel", die er von 1899 bis 1936 herausgab. Seine Position zum Homo­sexuellenstrafrecht, die er oft zugespitzt vortrug, war schon früh sehr deutlich: "Als ob unter vollsinnigen Menschen heute noch eine Meinungsverschiedenheit darüber bestände, dass der § 175 des deutschen Strafgesetzbuchs (…) ein dreister Eingriff in das Privatleben von hunderttausend höchst ehrenwerthen Staatsbürgern ist" ("Die Fackel", 1902, Nr. 123, S. 25).

Eines von Kraus' wichtigsten Büchern ist "Sittlichkeit und Kriminalität" (1908, 2. Auflage 1923). Bei dieser Sammlung von Artikeln, die zuerst zwischen 1902 und 1907 in der "Fackel" erschienen waren, handelt es sich um zeitlos wirkende Texte, in denen sich Kraus an rund zehn verschiedenen Stellen leidenschaftlich für die Legalisierung von Homosexualität einsetzt. Er schreibt u. a.: "Denn ich bin der Ansicht, daß nur dann ein Sieg über den menschenmörderischen Paragraphen in Deutschland und Österreich zu erringen sein wird, wenn die namhaftesten Homo­sexuellen sich öffentlich zu ihrem Verhängnis bekennen" (Kap. 24). "Ich sage, daß man die geborenen Homo­sexuellen, nicht weil sie Kranke sind, freisprechen soll, sondern weil uns ihre Krankhaftigkeit keinen Schaden zufügt." "(…) jeder denkende Mensch (müsste) laut aufschreien über die Schändlichkeit, die eine staatliche Norm für die Betätigung des Geschlechtstriebs vorschreibt" (Kap. 42). Kraus setzte sich zwar für die Homo­sexuellen ein. Weil er sie jedoch als "Kranke" ansieht, bleibt er in seiner Position hinter Hiller, Hirschfeld und anderer Vertretern der Homo­sexuellenbewegung zurück.

Bruno Vogel – die Bestrafung Homo­sexueller ist unsittlich

Bruno Vogel (1898-1987) wurde sich während des Ersten Weltkrieges seiner Homosexualität bewusst. 1922 gründete er zusammen mit einigen Freunden eine Homo­sexuellengruppe. Ab 1923 veröffentlichte er Artikel in Zeitungen. Heute ist er vor allem als Autor des schwulen Romans "Alf" (1929, Nachdrucke 1977 und 2011) bekannt.

Ende 1924 erschien ein großer emanzipatorischer Beitrag von ihm in der "Salzburger Wacht" (29. November 1924). Hier wirbt er für die Akzeptanz von Androgynen als "sexuelle Zwischenstufen" und von "Transvestiten", die manchmal auch homo- oder bisexuell seien. "Der § 175 steht im Widerspruch mit den Grundsätzen eines Rechtsstaates", weil dieser nur dann bestrafen dürfe, wenn Rechte Dritter verletzt seien. Der Paragraph wird von ihm als "unsittlich" und "sinnlos" bezeichnet. Am Ende verweist er auf die homo­sexuelle Emanzipationsliteratur Magnus Hirschfelds und des WhK.


Stimmen für die Beibehaltung des § 175 und für eine Strafverschärfung

Insgesamt gab es keine politische Mehrheit für die Abschaffung des § 175 RStGB und es war wohl nicht nur die Macht des Faktischen, die dazu führte, dass viele Menschen an dieser Strafbestimmung festhalten wollten, sei es aus juristischen oder religiösen Gründen. Einige Positionen aus den Zwanzigerjahren, die als repräsentativ für diese Zeit gelten können, möchte ich nachfolgend vorstellen. Weil kein Staat das Recht hat, einvernehmliche Sexualität unter Erwachsenen zu bestrafen, soll dabei jedoch nicht wie bei einem Pro und Contra der Eindruck entstehen, dass es sich bei Forderungen nach einer Beibehaltung des § 175 oder nach Strafverschärfung um legitime Meinungen handeln könnte.

Einige Stimmen forderten die Erweiterung der Strafbarkeit auf lesbischen Sex. Im Jahre 1909 hatte auch die Reichsregierung in einem "Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch" versucht, die Strafbarkeit homo­sexueller Handlungen auf Frauen auszuweiten. Die Abstimmung verzögerte sich und der Erste Weltkrieg und das Ende des deutschen Kaiserreichs machten den Entwurf zur Makulatur. Nach dem schon erwähnten "Entwurf 1925" für ein neues Strafgesetzbuch, der 1924 erstellt und diskutiert wurde, gab es jedoch keine politischen Bemühungen mehr, auch lesbischen Sex unter Strafe zu stellen, auch wenn vereinzelt noch diese Meinung vertreten wurde.

Ehrhardt Eberhard – von der Notwendigkeit der "Bekämpfung"

Ehrhardt Eberhard geht in seinem vom Umfang her gewichtigen Buch "Die Frauenemanzipation und ihre erotischen Grundlagen" (1924, 915 S.) auf mehr als 50 Seiten (S. 501-559) auf Lesben ein. Dabei bezieht er sich mehrfach auf die Geschichte, was zunächst scheinbar legitimierend wirkt. Er greift emanzipatorische Begriffe wie "3. Geschlecht" und "Urninden" auf, zitiert aufgeschlossene Sexualwissenschaftler wie Magnus Hirschfeld und betont, dass auch weibliche Homosexualität meistens angeboren sei. Danach legt der Autor jedoch eine argumentativ nicht nachvollziehbare Kehrtwendung hin, schreibt, dass es auch Fälle von "Pseudohomosexualität" gebe, und betont die Notwendigkeit der "Bekämpfung der Homosexualität". Weil Mädchen leichter als Jungen "verführt" werden könnten, seien Strafbestimmungen gegen Lesben sogar noch stärker gerechtfertigt. Weil Lesben in der Frauenbewegung überdurchschnittlich präsent seien, endet der Autor mit der Feststellung, dass "die Bekämpfung der Frauenemanzipation im Interesse einer gesunden Fortentwicklung des Volkslebens berechtigt und notwendig ist". Dies ist ein Beispiel dafür, wie Frauen- und Homo­sexuellenfeindlichkeit manchmal zusammenfallen.

Hansjörg Maurer – Homosexualität gehört wie das Judentum "ausgemerzt"

Hansjörg Maurer (1891-1959) hat in seiner homophoben NS-Hetzschrift "§ 175" (1921, s. a. Artikel auf queer.de) seine Vorstellung von Homosexualität als Ursache eines Zerfalls der "Rasse" und als Degenerationserscheinung beschrieben, die ähnlich wie das Judentum "ausgemerzt" werden müsse. Diese Schrift steht der späteren NS-Politik in nichts nach und geht zuweilen auch darüber hinaus. Ähnlich wie Hitlers "Mein Kampf" die spätere Judenverfolgung entwarf, hat Maurers "§ 175"-Schrift die spätere Homo­sexuellenverfolgung entworfen. Während "Mein Kampf" jedoch tatsächlich handlungsleitend für die NS-Politik wurde, drückt Maurers Broschüre zwar aus, was radikale Völkische dachten und zum Teil umgesetzt wurde, sie hatte selbst aber keinen direkten Einfluss. Dafür war Maurer in der NS-Zeit politisch zu bedeutungslos.


Hansjörg Maurer (zweiter von rechts) als Mitglied von Hitlers persönlicher Leibwache (um 1925) und seine Hetzschrift "§ 175"

Rudolf Quanter – Aufsicht und Prügelstrafe für Homo­sexuelle

Rudolf Quanter (1861-1938) arbeitete nach seinem Studium der Rechtswissenschaften und Geschichte als Journalist und Schriftsteller.

Sein Buch "Die Sittlichkeitsverbrechen im Laufe der Jahrhunderte und ihre strafrechtliche Beurteilung" (1. Aufl. 1904) hat er offenkundig nicht aktualisiert, weil nach rund 20 Jahren sein Kapitel über "Die widernatürliche Unzucht" (8. Aufl. von 1925, S. 283-311) immer noch einen Hinweis auf die geplante Ausweitung der Strafbarkeit auf Lesben beinhaltet. Quanter konnte aber offenbar gut damit leben, dass seine Positionierung von 1904 auch noch 1925 unverändert neu publiziert wurde. Er verweist auf die Skandale der letzten Jahre, auf Stricher und die Situation in den Strafanstalten. Er befürwortete die Prügelstrafe, obwohl er wusste, dass sie kein zulässiges Strafmittel war. Einige Homo­sexuelle wollte er unter Aufsicht stellen oder "sonst unschädlich" machen. An der Strafbarkeit wollte er unbedingt festhalten, weil der § 175 "unentbehrlich" sei, der auch die Strafbarkeit lesbischer Sexualität beinhalten solle.


Rudolf Quanter wird bis heute gelesen: "Die Sittlichkeitsverbrechen" (1925, 2003)

Erich Wulffen – über homo­sexuelle Verbrecher

Erich Wulffen (1862-1936) war ein deutscher Kriminologe, der seit Oktober 1920 im sächsischen Justizministerium tätig war, ab September 1923 als Ministerialdirektor.

Zu seinem Buch "Der Sexualverbrecher. Ein Handbuch für Juristen, Verwaltungsbeamte und Aerzte" (1910, 10. Aufl. 1923, 11. Aufl. 1928) wurde schon in der Werbung betont, dass er darin auch die "Verbrechen auf homo­sexueller Grundlage, berühmte Homo­sexuelle" und "homo­sexuelle Verbrechen" behandele (s. "Das interessante Blatt", 13. November 1924). Im Buch behandelt Wulffen die "Verbrechen auf homo­sexueller Grundlage" auf mehr als 57 Seiten (11. Aufl. 1928, S. 556-613), wobei man den Eindruck bekommt, dass er zwar Kriminalität dokumentiert, homo­sexuelle Männer als solche aber nicht kriminalisieren möchte, weil er sehr ausführlich auch auf deren Kulturgeschichte eingeht und Gedichte von Goethe, Platen und Adolf Brand zitiert (S. 587-593). Zu einer insgesamt eher liberalen Einstellung zur männlichen Homosexualität passt es, dass Wulffen im April 1924 auf Einladung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees einen Vortrag über "Sexualreform und Strafvollzug" hielt, aus dem die SPD-Zeitung "Vorwärts" zitiert: "Die Homosexualität muss unbestraft bleiben; es ist ein Schutzalter festzulegen, über dessen Höhe noch zu diskutieren wäre" (s. "Vorwärts", 13. April 1924).

Ganz anders in seinem wohl am weitesten verbreiteten Werk "Das Weib als Sexualverbrecherin. Ein Handbuch für Juristen, Verwaltungsbeamte und Ärzte" (1923, 1993). Hier "entwickelt er eine Theorie, nach der jedes von einer Frau begangene Verbrechen auf sexuelle Faktoren zurückgeführt werden könne" (Wikipedia). In dem Kapitel "Die Homosexualität des Weibes" (S. 381-394) schreibt er, dass sich die Frau "weit langsamer vom Geschlechtstier zur ebenbürtigen Genossin des Mannes entwickelt" habe (S. 385). Die "Homosexualität des Weibes (löse) eine Reihe von Straftaten aus, bzw. steht sie mit ihnen in nahem Zusammenhang. Dabei wird auffällig, dass es vor allem schwere Verbrechen sind, zu denen das homo­sexuell fühlende Weib gelangt" (S. 389-390). Beispiele von Morden und Mordversuchen mit lesbischem Hintergrund sollen danach seine kruden Theorien untermauern. Er fordert zwar nicht explizit die strafrechtliche Verfolgung von Lesben; diese Forderung ist aus seinen Äußerungen jedoch ableitbar. Es verwundert zunächst, dass Wulffen mit so plumpen Zuschreibungen als Jurist tätig bleiben konnte und dass er als Jurist ohne jeden wissenschaftlichen Anspruch im "Personenlexikon der Sexualforschung" (S. 783-788) einen längeren Eintrag bekam. Aber auch wenn uns seine Zuschreibungen heute als absurd erscheinen, entsprachen sie damals durchaus weit verbreiteten und auch in wissenschaftlicher Form begründeten Positionen. Im weiteren Sinne kann man ihn durchaus als kriminologischen Sexualforscher bezeichnen. Auch auf Wulffens Buch "Kriminalpsychologie. Psychologie des Täters" (1926) möchte ich hinweisen, weil er darin auf den Serienmörder Fritz Haarmann (S. 405-412) und das lesbische Mörderinnenpaar Ella Klein und Margarete Nebbe (S. 437-439) aus den Jahren 1923 bis 1924 eingeht.


Die Vergewaltigungen während der Ruhrbesetzung

Von 1923 bis 1925 okkupierten u. a. französische Besatzungstruppen Teile des Ruhrgebietes. Diese Ruhrbesetzung war der Höhepunkt des Konfliktes um die Erfüllung der alliierten Reparationsforderungen nach dem Ersten Weltkrieg. Kurt Freiherr von Lersner, Reichstagsabgeordneter der wirtschaftsliberalen und nationalistischen Deutschen Volkspartei (DVP), bezieht sich auf "Denkschriften" der Reichsregierung, als er in einem Aufsatz "Frankreichs Gewaltpolitik" den Besatzern neben Raub und Mord auch "widernatürliche Unzucht" vorwirft. Dieser Aufsatz wurde von mehreren Zeitungen veröffentlicht, u. a. vom "Altenaer Kreisblatt" (11. Februar 1924).

Mit diesen "Denkschriften", die mittlerweile auch online verfügbar sind, ließ sich die Reichsregierung regelmäßig über die "Ausschreitungen der Besatzungstruppen im besetzten Gebiet" unterrichten. Lersner bezog sich offenbar auf die zweite "Denkschrift" vom Dezember 1923. Mit der dritten "Denkschrift" wurde die Reichsregierung im März 1925 über Berichte von Vergewaltigungen von Jungen und Männern unterrichtet, die neben Fällen aus dem Jahr 1923 auch fünf von 1924 umfassen, bei denen die Opfer 12, 15, 27, 29 und 21 Jahre alt gewesen sein sollen (s. die Fälle Nr. 32, 34, 44, 45, 46 auf den S. 14-16). Die ausführlich geschilderten Vergewaltigungen lassen sich mit einem kriegsähnlichen Zustand in Teilen Deutschlands allein weder erklären noch rechtfertigen. Wenn die Angaben stimmen, sind dies schlimme Ereignisse, auch wenn sie offensichtlich von der deutschen antifranzösischen Propaganda ausgeschlachtet wurden. Die Beschreibungen der Gewalttaten, auch aus regierungsamtlichen Denkschriften, sind Teil politischer Propaganda und es muss berücksichtigt werden, in welchem Kontext und mit welchem politischen Interesse über sie geschrieben wurde. Es ist widerlich, dass mit dem Begriff der "widernatürlichen Unzucht" in dieser Zeit sprachlich keine Unterschiede zwischen einvernehmlichen Sex unter Männern und Vergewaltigungen gemacht wurden.


Dortmund. Die letzten Franzosen verlassen 1924 die Stadt


Die Rolle der Polizei in den Jahren 1922-1925

Homo­sexuelle Handlungen unter Männern waren nach § 175 RStGB strafrechtlich verboten und es gehörte zu den Aufgaben der Polizei, diese Männer zu verfolgen. Es bleibt bemerkenswert, dass es in Berlin seit 1885 ein Homo­sexuellendezernat gab, von dessen Leitern einige mit Personen der homo­sexuellen Emanzipationsbewegung konstruktiv zusammenarbeiteten und auf diese Weise über viele Jahre eine Duldungspolitik erreicht werden konnte. Zur Rolle der Polizei bietet Jens Doblers Dissertation ("Zwischen Duldungspolitik und Verbrechensbekämpfung. Homo­sexuellenverfolgung durch die Berliner Polizei von 1848 bis 1933", 2008) einen guten Überblick. Auf Doblers Hinweise zur Rolle der Polizei im Fall Haarmann und bei der Schließung des Homo­sexuellenlokals "Eldorado" 1925 werde ich noch an anderer Stelle eingehen.

Das Berliner Homo­sexuellendezernat unter der Leitung von Bernhard Strewe

Zwischen Heinrich Kopp, dem Leiter des Berliner Homo­sexuellendezernates von 1911 bis 1922, und der frühen Homo­sexuellenbewegung gab es eine gute und enge Kooperation. Kopp wurde 1922 im Institut für Sexualwissenschaft feierlich verabschiedet und von Magnus Hirschfeld als Idealbild des aufgeklärten Polizeibeamten gepriesen. Die Hoffnung des WhK, dass sich die gute Zusammenarbeit auch mit seinem Nachfolger fortsetzen ließe, erfüllten sich jedoch nicht.

Im Oktober 1922 übernahm Bernhard Strewe die Leitung des Homo­sexuellendezernates, die er bis 1933 ausübte. Anfang 1924 ließ er eine "groß angelegte Razzia gegen männliche Prostituierte" durchführen, bei der 32 Personen aufgegriffen wurden. Der Homo­sexuellenaktivist Friedrich Radszuweit begrüßte es ausdrücklich, dass die "Polizei dieses Unwesen ausrottet". Zu dieser Razzia passt gut, was Strewe bei einem Vortrag am 27. November 1924 im Institut für Sexualwissenschaft verlauten ließ und für einige Diskussionen sorgte: Er sei zwar auch für eine Abschaffung des § 175, glaube aber nicht, dass die Homo­sexuellenbewegung dieses Ziel erreichen könne, solange nicht mehr "Disziplin" geübt werde. Unter "Disziplin" verstand er den Kampf gegen männliche Prostitution und gegen das Treiben auf öffentlichen Toiletten. Als noch wesentlicher bezeichnete er die "Verführung" Minderjähriger, womit er das Klischee von Homo­sexuellen als "Verführer" aufgriff. Über die Anzahl der Strafanzeigen nach § 175 liegen für einige Jahre eigene statistische Zahlen für Berlin vor: "Während 1922 unter Kopp 18 Anzeigen bearbeitet wurden, stieg diese Zahl unter Strewe 1923 und 1924 von 739 auf 1450." Auch wenn diese Zahlen (wegen des Serienmörders Fritz Haarmann) "einem landesweiten Trend entsprachen, zeigen sie doch, dass unter Strewe eine extreme Verschärfung in der Verfolgung eingetreten war" (s. Dobler, S. 527, 538-540, 543).

Weitere Polizisten im Institut für Sexualwissenschaft

Für die Jahre von 1922 bis 1925 ist belegt, dass im Institut für Sexualwissenschaft Fortbildungsveranstaltungen für Polizeibeamte stattfanden und einzelne Kriminalkommissare dort Vorträge hielten. So referierte der dem WhK nahestehende Berliner Kriminalkommissar a. D. Gotthold Lehnerdt mindestens zweimal im Institut. Am 8. August 1924 sprach er über den Serienmörder Fritz Haarmann, wobei er auch auf die Kritik an den Ermittlungen der Hannoveraner Kriminalpolizei einging. Am 18. Dezember 1924 sprach er schwerpunktmäßig über Zeugenaussagen von Kindern bei sexuellen Straftaten. Diese und andere Beispiele können zumindest für einige Jahre eine Kooperation zwischen dem Institut für Sexualwissenschaft und der Polizei aufzeigen (s. Dobler, S. 472-474).

Die Polizeizeitschrift "Die Polizeifachkunde"

Dobler geht ausführlich darauf ein, welche unterschiedlichen Positionen zur Homosexualität in Polizeizeitschriften geäußert wurden, und nennt als Beispiel "Die Polizeifachkunde" (1921-1933), eine "tendenziell moderne liberale Fachzeitschrift auf hohem Niveau", in der 1924 drei Beiträge über Homosexualität erschienen. So forderte ein Herr Pforr, der Lehrer an einer Polizeischule war, "unter dem Einfluss des Haarmann-Falles die Beibehaltung des § 175 im Interesse der Sittlichkeit und des allgemeinen Wohles und warnt vor einer sittlichen Schwäche des Volkes". Auf diesen Beitrag "antwortete Karl Besser vom Institut für Sexualwissenschaft. Die Strafrechtswissenschaft müsse die Erkenntnisse der Medizin (Angeborenheit der Homosexualität) zur Kenntnis nehmen. Er kontert mit [den Juristen] Wachenfeld, Wulffen und Radbruch, die sich für eine Straflosigkeit ausgesprochen hatten" (s. Dobler, S. 486-492).

Die Polunbi unter der Leitung von Detloff von Behr

Der dritte Artikel in "Die Polizeifachkunde" erschien im Juli 1924: Der Autor Detloff von Behr ging in einem Beitrag über das Sexualstrafrecht auf die "widernatürliche Unzucht" ein und machte dabei "aus seiner Sympathie, den § 175 abzuschaffen oder zu reformieren, keinen Hehl, denn die Auslegung des Gesetzes führe zu Willkür, die dem Rechtsgefühl wenig zuträglich sei". Detloff von Behr war seit 1921 der Leiter der 1911 gegründeten "Zentralpolizeistelle zur Bekämpfung unzüchtiger Bilder und Schriften" (Polunbi) und übte dieses Amt ungefähr bis 1929 aus. Über sein Tätigkeitsfeld publizierte von Behr viele Beiträge, wie seine auch online verfügbare Schrift "Der Handel mit unzüchtigen Schriften, Abbildungen und Darstellungen. Seine strafrechtliche Bekämpfung" (1922) und drei Artikel in der Zeitschrift "Die Polizei" von 1923.

Um die inhaltlichen Positionen Detloff von Behrs zu verdeutlichen, geht Dobler auf zwei weitere Artikel von ihm aus dem Jahr 1924 näher ein, auch wenn sie nicht direkt von Homosexualität handeln. In einem Artikel in "Die Polizei" betonte er, so Dobler, dass sich die Polizei nicht "an den Werken der Kunst (…) vergreifen" solle, um nicht als "banausisch und ungebildet" zu erscheinen. Zu einem anderen Artikel in "Die Polizeikunde" weist Dobler darauf hin, dass von Behr darin nicht moralisch-sittlich, sondern eher sachlich argumentiere (Dobler, S. 488, 508-513, 566).


Wahrnehmung der Situation von Homo­sexuellen in anderen Ländern

Der folgende Abschnitt soll nicht so wirken, als wäre die Situation von Homo­sexuellen in anderen Ländern alleine schon aus der deutschen Presse der Zwanzigerjahre zu rekonstruieren und als gäbe es dazu keine weitere Forschungsliteratur. Ein Text mit dem Anspruch, die Situation Homo­sexueller in anderen Ländern aufzuzeigen, müsste zunächst von der heutigen Forschungsliteratur ausgehen, was für diesen Aufsatz nicht leistbar war. Was ich in deutschen Zeitungen und Homo­sexuellenzeitschriften gefunden hast, kann kein Bild über die Situation Homo­sexueller in anderen Ländern ergeben, das nicht durch Forschung schon viel genauer aufgearbeitet ist.

Diese Funde sind aber insofern interessant, als sie etwas darüber aussagen, welche Verbindungen es von Deutschland aus in andere Länder gegeben hat, wie man damals in Deutschland der Zwanzigerjahre auf die Situation in anderen Ländern geblickt und was man von dort gewusst hat. Im Folgenden zeige ich daher auf, wie in der damaligen Presse über die Situation von Homo­sexuellen in anderen Ländern berichtet wurde. Dabei ist unumstritten, dass die deutsche Homo­sexuellenbewegung Vorbild für viele andere Länder war. Es gab auch einen wechselseitigen Einfluss und so wurde von deutschen Homo­sexuellenaktivisten zum Teil auf die Straffreiheit u. a. in den Niederlanden (seit 1809) und Spanien hingewiesen, um diese Straffreiheit auch hier zu erreichen. Auch wenn die recherchierten Artikel keinen repräsentativen Charakter haben, können sie vielleicht doch das eine oder andere Schlaglicht werfen.

Aufbauend auf meinen Quellen hat sich nur für einzelne Länder ein Abschnitt angeboten. Auch in vielen anderen Ländern wurde bestimmt über Homosexualität und die Strafbarkeit bzw. Legalisierung homo­sexueller Handlungen diskutiert, wie in Peru, wo homo­sexuelle Handlungen 1924 – ohne einen vergleichbaren Skandal wie den Fall Haarmann in Deutschland – legalisiert wurde. Weil sich die rechtliche Situation in anderen Ländern von der Darstellung der jeweiligen Homo­sexuellenbewegung kaum trennen lässt, habe ich diese hier mit behandelt. Auf die deutsche Homo­sexuellenbewegung werde ich dagegen in einer späteren Folge eingehen. Auch bei den folgenden Hinweisen gilt es zu berücksichtigen, dass die öffentliche Meinung nicht nur die jeweiligen Strafgesetze prägte, sondern dass auch die Strafgesetze die jeweilige öffentliche Meinung prägten.

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Amerika – der Beginn der Schwulenbewegung 1924 nach deutschem Vorbild


Der Deutsch-Amerikaner Henry Gerber wird in den USA wie ein Engel verehrt: "An Angel in Sodom" (2023)

Josef Heinrich Dittmar (1892-1972) wurde in Passau geboren, emigrierte als 21-Jähriger in die USA und nannte sich dort Henry Gerber. Infolge des Ersten Weltkriegs war er als Soldat der U.S. Army mehrere Jahre in Deutschland stationiert und bekam hier die frühe Homo­sexuellenbewegung mit. Zurück in den USA, gründete er Ende 1924 mit der "Society for Human Rights" die de facto erste Schwulenrechtsorganisation der USA. Von Gerber bzw. seiner Organisation wurde auch die erste Homo­sexuellenzeitschrift der USA veröffentlicht – die nur in zwei Nummern erschienene "Friendship and Freedom" (1924-1925). Der Titel war eine direkte Übersetzung des Titels der deutschen Schwulenzeitschrift "Freundschaft und Freiheit". Nur wenige Monate nach ihrer Gründung wurde die "Society for Human Rights" von der Polizei aufgelöst (Wikipedia). Seit 2015 gibt es in Chicago ein Henry Gerber House, das sich der queeren Geschichte verpflichtet fühlt. 2022 erschien eine Biographie über ihn.

Zeitlich parallel dazu berichtete die deutsche Homo­sexuellenzeitschrift "Blätter für Menschenrecht" über den Homo­sexuellenaktivisten Leopold Strehlow, der sich "seit einigen Monaten" in "Amerika" aufhielt und dort unter dem Namen "Bund für Menschenrechte" eine Interessenvertretung ins Leben gerufen habe. Als Kontaktperson wird Eugenio Estrella in Buenos Aires (Argentinien) genannt ("Blätter für Menschenrecht", 11. April 1924). In der gleichen Zeitschrift (5. September 1924) schildert Estrella in einem "Brief aus Amerika" einige Eindrücke aus Argentinien und betont, dass es hier keine Strafgesetze gegen Homosexualität gebe. Strehlows bisher offenbar unbekannte und vermutlich wirkungslose Vereinsgründung erfolgte ungefähr ein halbes Jahr vor Gerbers Vereinsgründung. Vermutlich hat Strehlow den ersten Verein in Südamerika und Gerber den ersten Verein in Nordamerika gegründet bzw. zu gründen versucht.

Frankreich – Straffreiheit seit der Französischen Revolution

In Frankreich wurde Homosexualität bereits 1791 legalisiert, was mit der Einführung des napoleonischen Strafgesetzbuches 1810 beibehalten wurde. Vor dem Hintergrund des Versuchs der Legalisierung in Deutschland war es deshalb naheliegend, beide Länder miteinander zu vergleichen, wie es u. a. die "Westfälischen Neuesten Nachrichten" (17. Dezember 1924) taten: Frankreich sei in diesem Punkt "klüger. Es kennt keinen Paragraphen 175. Die Homosexualität war nicht öffentlich verpönt und bisher nur in ganz kleine, enge Kreise eingegrenzt. Man kann wohl annehmen, daß die Zahl der Invertierten zehnmal geringer ist als in Deutschland."

In einer späteren Folge werde ich noch darauf eingehen, dass Mitte der Zwanzigerjahre einige heterosexuelle Künstler*­innen die Homo­sexuellenszene in Berlin in Zeichnungen verewigten. In Curt Morecks "Kultur- und Sittengeschichte der neuesten Zeit" (1929) sind Beispiele zu finden. In ähnlicher Weise wurde auch Frankreichs Homo­sexuellenszene künstlerisch festgehalten, z. B. von Otto von Wätjen mit seinem Gemälde "In der Rue des Lappes" (S. 188). Das Aquarell "La Mère Gibert", der Name eines zu dieser Zeit bekannten Pariser Homo­sexuellen-Lokals, stammt von Jeanne Mammen (S. 200/201), die mit ihren Zeichnungen auch lesbische Frauen in Berlin porträtierte.


Jeanne Mammen: "La Mère Gibert"

Italien – Straffreiheit und eine Insel als schwules Sansibar

Auch in Italien gab es keine Strafverfolgung von Homo­sexuellen. Viele Schwule wanderten deshalb nach Italien aus oder flohen dorthin. Die Gräber von Karl Heinrich Ulrichs und August Graf von Platen auf italienischem Boden zeigen, dass ein Leben dort bereits sehr früh als eine Alternative zu einem Leben in Deutschland gesehen wurde. Eine besondere Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang die Insel Capri, die für reichere Homo­sexuelle als Asyl und Urlaubsort eine große Anziehungskraft hatte und als Inbegriff eines sorgenfreien schwulen Lebens galt. Der Titel "Capri. Zeitschrift für schwule Geschichte" (1987-2019) basiert auf dieser Bedeutung. Der Artikel "Krupp auf Capri" im "Vorwärts" (15. November 1902, S. 2 und S. 3) löste einen weitreichenden Homo­sexuellen-Skandal in Deutschland rund um den Kanonenkönig Friedrich Alfred Krupp aus.

Auch der französische Autor Jacques d'Adelswärd-Fersen war vor einer Strafverfolgung wegen Beziehungen zu Schuljungen nach Capri geflohen. Nachdem er sich hier am 5. November 1923 mit einer Überdosis Kokain das Leben genommen hatte, erschienen mehrere hetzerische Artikel mit Überschriften wie "Orgien in der Villa 'Lisis'" in "Neues Wiener Tagblatt" (7. Dezember 1923), "Orgien auf Capri" in "Neues 8 Uhr Blatt" (15. Dezember 1923) und "Das Märchenschloss der Anormalen auf Capri" in "Neues Wiener Tagblatt" (16. Dezember 1923), in denen auch an den Fall Krupp erinnert wurde. Auch 1924 wurde noch über Fersen berichtet, der laut "Grazer Tagblatt" (22. Januar 1924) auf Capri seinen "unnatürlichen Leidenschaften gefröhnt" habe. Weil die Insel, so ein Bericht, zu einem "Sammelpunkt" von Ausländern mit "homo­sexuellen Neigungen" geworden sei, solle nun eine neue "Einwanderungsordnung" helfen. Abweichend davon schrieb Hans Flesch in "Der Tag" (31. Oktober 1924), dass er auf Capri "nicht mehr Homo­sexuelle" als im restlichen Italien oder in Deutschland getroffen habe. Es ist daher unklar, ob die Insel auch noch Ende 1924 "das Eldorado der Homo­sexuellen" war, wie es die "Westfälischen Neuesten Nachrichten" (28. November 1924) schilderten, ober ob die Insel zu diesem Zeitpunkt nur noch von ihrem früheren Ruf zehrte.


Der Artikel "Das Märchenschloß der Anormalen auf Capri" mit dezenten Anspielungen auf den Homo­sexuellenskandal bzw. die "Tragödie" um Alfred Krupp im Jahr 1902

Österreich – europaweit die meisten Verurteilungen

Nach dem § 129 des österreichischen Strafgesetzes von 1852 wurden homo­sexuelle Handlungen, auch die unter Frauen, mit schwerem Kerker von einem bis zu fünf Jahren strafrechtlich verfolgt. "Zwischen 1920 und 1938 war Österreich, auf die Gesamtbevölkerung bezogen, bei der Anzahl der Verurteilungen europaweit führend" (Wikipedia). Am 10. und 11. Dezember 1924 beschäftigte sich der "Finanz- und Budgetausschuss" mit dem Umgang mit Homosexualität im österreichischen Strafrecht. Nach Ansicht der SPÖ waren die "strafrechtlichen Bestimmungen gegen Homo­sexuelle und gegen eine sexuelle Betätigung solcher Menschen (…) dringend reformbedürftig" (s. u. a. "Arbeiterwille", 11. Dezember 1924). Nach diesen beiden Tagen konnten jedoch keine Ergebnisse verkündet werden.

Vielleicht entsprach die Meinung, die im "Kärntner Tagblatt" (23. Dezember 1924) geäußert wurde, viel eher der Mehrheit der Bevölkerung: Der Autor des Artikels, der sich mehrfach auf den Serienmörder Fritz Haarmann bezieht, will nicht nur die "schreckliche Seuche der männlichen und weiblichen Prostitution" bekämpft sehen, sondern es sei auch "traurig", dass in der "jüdischen Presse" offen "für die Straffreiheit homo­sexueller Verbrechen eingetreten wird". Eine andere Zeitung berichtete darüber, dass in Salzburg der 15-jährige Christian H. für eine "unappetitliche homo­sexuelle Affäre" zu einem Monat schweren Kerker verurteilt wurde, welches Strafmaß das "Salzburger Volksblatt" (22. April 1924) als "sehr milde" bewertet.

Seit Februar 1924 erschienen auch mehrere Artikel über einen Homo­sexuellenskandal in der Grazer Jugendbewegung. Bei Jugendlichen seien homo­sexuelle Zeitschriften gefunden und es seien Strafanzeigen gestellt worden, wie u. a. der "Arbeiterwille" (10. Februar 1924) unter der Überschrift "Homo­sexuelle Verseuchung der völkischen Jugendbewegung" berichtete. Acht Monate später wurden die Prozesse gegen die Jugendlichen jedoch eingestellt, wie der "Arbeiterwille" am 17. Oktober 1924 berichtete. Bei solchen Artikeln ist zu berücksichtigen, dass diese offenbar politisch motiviert sind und die Verfahren gegen eine rechte Jugendorganisation politisch genutzt werden sollte.

Österreich und seine frühe Homo­sexuellenbewegung

Hanna Hacker hat in ihrem Buch "Frauen und Freund_innen. Lesarten 'weiblicher Homosexualität'. Österreich, 1870-1938" (2015) auch die Bewegung in den Zwanzigerjahren untersucht: "Legen wir das Kriterium der 'sichtbaren' (…) kollektiven Ausdrucksformen (…) an, so 'beginnt' in Österreich eine neue Phase etwa 1924/25, als lesbische Frauen erstmals deutliche (…) Zeichen ihrer Präsenz dokumentieren" (S. 289). Hacker erwähnt Vereinsgründungen im Januar 1924 für das Land Österreich in Wien sowie Gründungen von Ortsgruppen in Graz, Linz und Innsbruck (S. 358). Das "Künstlerstüberl" in Wien bestand zumindest in den Jahren 1924 bis 1925 (S. 351). Nach Julia Hürner ("Lebensumstände lesbischer Frauen in Österreich und Deutschland", 2010, S. 24, 35) wurde in der deutschen Lesbenzeitschrift "Die Freundin" das "Künstlerstüberl" erwähnt und es wurden hier auch Kontakthinweise zu den Zweigniederlassungen publiziert.


Werbung für das Wiener "Künstlerstüberl" im "Berliner Inseratenblatt" (1924, Heft 38)

Ergänzend zu Hacker lässt sich noch anführen, dass die österreichische Homo­sexuellenbewegung in dem österreichischen Schriftsteller Karl Kraus schon früh einen wichtigen Mitstreiter fand, der in seinem bereits erwähnten Buch "Sittlichkeit und Kriminalität" (1908, 2. Auflage 1923, hier Kap. 47) auch die Bitte um Aufhebung des § 129 b an den österreichischen Justizminister aufgriff.

Schweiz – "Rechtsanarchie" durch unterschiedliche Kantone

Anfang der Zwanzigerjahre waren in den meisten Kantonen der Schweiz homo­sexuelle Handlungen strafbar, wobei der Strafrahmen bis zu mehreren Jahren Gefängnis reichte. Die erste homo­sexuelle Interessengruppe für die Schweiz gründete sich am Wochenende vom 1./2. Juli 1922 in Luzern, ab Oktober 1922 nannte sie sich "Schweizer Freundschaftsbund" (Schwulengeschichte.ch). In der deutschen Homo­sexuellenzeitschrift "Die Insel" (14. November 1924, S. 2-3) wird auf die Jahresversammlung des Schweizer Freundschaftsbundes hingewiesen, die vom 27. bis 28. September 1924 in Luzern stattfand und auf der 26 neue Mitglieder begrüßt werden konnten.

Richard Linsert wies in seinem Artikel "Reformen im schweizerischen Strafrecht?" ("Die Freundschaft", 1924, Heft 8, S. 182) auf die strafrechtlichen Unterschiede zwischen den Kantonen hin und bezeichnete dies als "Rechtsanarchie". Der Kanton Tessin, in dem Homosexualität straffrei war, könne zwar Asyl für Homo­sexuelle bieten, habe aber bereits erklärt, möglichen "Auslieferungsbegehren" aus Deutschland stattzugeben. Linserts Artikel beschäftigt sich u. a. mit dem Kanton Freiburg, wo am 9. Mai 1924 ein neues Strafgesetzbuch in Kraft trat, was mit Bezug auf Homosexualität (§ 114) eine Strafverschärfung bedeutete. Außerdem ging er auf den aktuellen Beschluss der Expertenkommission zu einem Strafgesetzbuch für die gesamte Schweiz (mit einem § 171) und auf einen Vorentwurf zu einem schweizerischen Militär-Strafgesetzbuch (mit einem § 133) ein. All dies sei "schlimmster Rückschritt" und die Aussichten auf eine Legalisierung seien "die denkbar schlechtesten". Linsert war hier zu pessimistisch: Im gesamtschweizerischen Strafgesetzbuch, das 1937 beschlossen wurde und 1942 in Kraft trat, war Homosexualität zwischen Erwachsenen straffrei.

Tschechoslowakei – eines der rückständigsten Länder

Magnus Hirschfeld hielt Anfang Januar 1924 zwei Vorträge in Prag: am 5. Januar über "Moderne Forschungen auf dem Gebiete des Seelen- und Geschlechtslebens" und am 7. Januar über "Sexuelle Probleme und Reformen" ("Prager Tageblatt", 1. Januar 1924 und 6. Januar 1924). Auch der "Sozialdemokrat" (9. Januar 1924) berichtete über diese Vorträge. "Von Interesse war dabei die Konstatierung" Hirschfelds, dass die Tschechoslowakei bei den Strafgesetzen "am rückständigsten" sei und "alle gleich­geschlechtlichen Handlungen (auch den Verkehr der Frauen) unter Strafe (stellt). In Prag sind innerhalb einer Woche so viel Straffälle dieser Art zu verzeichnen wie in ganz Deutschland innerhalb eines Jahres." Auch in der Tschechoslowakei werde gerade ein neues Sexualstrafrecht vorbereitet und nur "eine streng wissenschaftliche, auf Erfahrung gestützte Behandlung des Gegenstandes" könne eine weitere strafrechtliche Verfolgung in diesem Land verhindern.

Der Privatdozent Dr. med. Erwin Klausner beschäftigte sich in zwei Vorträgen in Prag 1924 sogar explizit mit Homosexualität, worüber das "Prager Tagblatt" in mehreren, meist kurzen Beiträgen berichtete. Sein erster Vortrag sollte ursprünglich den Titel "Der homo­sexuelle Trieb" tragen (s. Artikel vom 22. Januar 1924), der aus unbekannten Gründen aber entschärft wurde. Unter dem Titel "Homosexualität des Mannes und des Weibes" fand er am 31. Januar 1924 an der Prager deutschen Universität statt. Nach Angabe des Artikels vom 2. Februar 1924 schätzte Klausner die Anzahl der Homo­sexuellen in der Tschechoslowakei auf 200.000. Bei seinem zweiten Vortrag über "Die Homosexualität beim Manne und bei der Frau" vom 13. Mai 1924 (s. Artikel vom 8. Mai 1924) wird es sich trotz des leicht abweichenden Titels wohl um den gleichen Inhalt gehandelt haben. Nähere Infos zu Erwin Klausner konnten nicht recherchiert werden.

Mit der Ermordung von Josef Racocha hatte die Tschechoslowakei in den Jahren 1923/1924 einen Homo­sexuellenskandal: In Nový Bor (deutsch: Haida) hat der 23-jährige Adolf Bankura am Weihnachtsabend 1923 seinen Schlafgenossen Josef Racocha ermordet und anschließend beraubt. Bei seiner Vernehmung gab Bankura an, dass ihn Racocha "wiederholt geschlechtlich mißbraucht" habe und plädierte deshalb auf Notwehr. Im Oktober 1924 wurde Bankura nicht wegen Mordes, aber wegen Totschlags und "widernatürlicher Unzucht" zu acht Jahren schweren Kerker verurteilt ("Westfälische neueste Nachrichten", 15. Oktober 1924).

Die Tschechoslowakei, die, abgesehen von der deutschen Besatzung, von 1918 bis 1993 bestand, war eines der wenigen Länder, in denen es schon in den Dreißigerjahren eine Homo­sexuellenbewegung gab. 1962 wurden dort homo­sexuelle Handlungen legalisiert, und seit 2006 gibt es die eingetragene Lebenspartnerschaft für gleich­geschlechtliche Paare.

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