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Folge 2 von 10
Schwules Leben vor 100 Jahren: Skandale und Gewalt
Das gesellschaftliche Klima war 1924 von Gewalt und Skandalen geprägt. Die Taten des schwulen Serienmörders Fritz Haarmann warfen die Homosexuellenbewegung um Jahre zurück.

Oscar Wilde (l.) mit seinem Liebhaber Lord Alfred Douglas im Jahre 1894
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7. Januar 2024, 04:13h 25 Min.
Wie die Skandale der Kaiserzeit 1924 nachwirkten
Im Juli 1922 erschien das Buch "Von Fürsten und anderen Sterblichen" (hier online, zur Einordnung s. hier) des Kriminalkommissars Hans von Tresckow, der hier die vielen Homosexuellenskandale der deutschen Kaiserzeit Revue passieren ließ. Bei einigen von ihnen war Tresckow vor Gericht als Sachverständiger aufgetreten – wie bei dem Skandal um den Industriellen Friedrich Alfred Krupp (1854-1902) und der Ermordung des Geschäftsmanns Friedrich Ferdinand Mattonet (1851-1908). Der mit Abstand bedeutendste Skandal in der deutschen Kaiserzeit war die Eulenburg-Affäre (1907-1909), die die Homosexuellenbewegung um Jahre zurückwarf. Während einige Skandale nach dem Ende des Kaiserreichs dem Vergessen anheimfielen, wirkten einige der größeren bis in die Weimarer Republik hinein. Manche Ereignisse – vor allem die Mordtaten Haarmanns sowie Leopolds und Loebs – sind im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft und der Community bis heute verankert.
Oscar Wilde – eine wichtige Biographie über das "Opferlamm für die Zukunft"
Der irische Schriftsteller Oscar Wilde (1854-1900) war einer der bekanntesten und umstrittensten Schriftsteller im viktorianischen England und seine Verurteilung wegen Homosexualität 1895 zu zwei Jahren Zuchthaus war ein wichtiges, auch international breit wahrgenommenes Ereignis. Wilde wurde sozial vernichtet, Homosexualität aber durch die öffentliche Thematisierung ein Stück weit enttabuisiert.
Dass man in Deutschland 1924 viel über Wilde sprach, lag auch daran, dass Ende 1923 die Wilde-Biographie von Frank Harris "Oscar Wilde. Eine Lebensbeichte" (OF: 1918) in deutscher Übersetzung erschien, die anschließend breit in Homosexuellenzeitschriften und bürgerlichen Zeitungen besprochen wurde. Sie ist äußerst packend und detailreich geschrieben und wurde – vollkommen zu Recht – überschwänglich gelobt. Seit der Verurteilung Wildes 1895 haben sich die Anschauungen über Homosexualität erkennbar geändert. Aus Anlass von Harris' Buch schreibt ein Autor im "Pester Lloyd" (2. Januar 1924, S. 1-4), dass Oscar Wilde in einer modernen Welt wohl die Rolle eines "Opferlamms für die Zukunft" habe. Ich verstehe den Satz so: Nur weil Oscar Wilde sozial vernichtet wurde, konnte ein Umdenken in Bezug auf Homosexualität erreicht werden. Seine Verurteilung war schließlich ein Anlass, aus dem heraus Magnus Hirschfeld 1897 mit dem WhK die weltweit erste Interessenvertretung für Homosexuelle gründete. In den "Westfälischen Neuesten Nachrichten" (19. Juni 1924) wurde Harris' Biographie unter der Überschrift "Ein Freundschaftsdenkmal für Wilde" als eine "eingehende, liebevolle und scheinbar verständnisvolle Schilderung" von Wildes Leben gewürdigt, die ähnlich authentisch sei wie Wildes Werke "De profundis" und "Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading". Sie sei ein Buch "für die Erkenntnis ganzer Welten, wertvoller als die dicksten Werke". Auch in den Homosexuellenzeitschriften "Fanfare" (1924, Heft 4, S. 3) und "Die Freundschaft" (1924, S. 183-185) wurde Harris' Wilde-Biographie einhellig begrüßt.
Wilde bot 1924 weitere Anlässe, sich mit ihm zu beschäftigen: Auf Carl Sternheims Drama "Oscar Wilde" (1924), für das der Autor sich von Harris' Biographie (in der Originalfassung) inspirieren ließ, werde ich noch in einer späteren Folge dieser Serie eingehen, ebenso auf Wildes Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" und die Verfilmung seines Dramas "Salome". Wildes Leben wurde bisher dreimal verfilmt: Neben zwei Verfilmungen aus dem Jahr 1960 erschien 1997 der Film "Wilde", in dem Oscar Wilde von Stephen Fry verkörpert wurde.
Nachwirkungen der Eulenburg-Affäre – der späte Versuch einer Rehabilitierung
Die Eulenburg-Affäre war die Kontroverse um mehrere Gerichtsverfahren wegen homosexueller Handlungen und die darauf basierenden Verleumdungsklagen in den Jahren 1907 bis 1909. Betroffen waren prominente Mitglieder des Freundeskreises und der politischen Umgebung von Kaiser Wilhelm II., insbesondere Philipp zu Eulenburg. Die Affäre wurde zu einem der größten Skandale des deutschen Kaiserreichs und erregte weltweites Aufsehen. In der Weimarer Republik beschäftigte sich neben Hans von Tresckow ("Von Fürsten und anderen Sterblichen", 1922, S. 133-163) auch Hugo Friedländer ("Interessante Kriminalprozesse von kulturhistorischer Bedeutung", 1920, S. 5-203) erneut mit diesem Fall.

Philipp zu Eulenburg-Hertefeld und die ihn entlastende Biographie von Johannes Haller (1924)
Der Historiker Johannes Haller (1865-1947) war mit Eulenburg von 1915 bis zu dessen Tod 1921 befreundet. Mit seiner Biographie "Aus dem Leben des Fürsten Philipp zu Eulenburg-Hertefeld" (1924) unternahm Haller einen Rehabilitierungsversuch und wandte sich gegen die erhobenen Homosexualitäts-Vorwürfe. Hallers Position wird auch in den Rezensionen dieses Buches betont: Eulenburg sei ein der "Homosexualität Beschuldigter" und Haller "ein leidenschaftlicher Verfechter seiner Unschuld". Ein wenig scheinen sich die Zeiten aber auch geändert zu haben: Dem Rezensenten kommt es nun "belanglos" vor, ob Eulenburg tatsächlich ein "trübes Geheimnis" hatte (Artikel "Kaiser und Troubadour", der u. a. in der "Volkswacht", 16. September 1924, erschien).
Alfred Redl – ein Spionagefall aus Österreich

Egon Erwin Kischs Buch "Der Fall des Generalstabschefs Redl"
Alfred Redl (1864-1913) war Chef der österreichischen Spionageabwehr. Im Jahre 1913 wurde aufgedeckt, dass er militärische Geheimnisse u. a. an Russland verraten hatte. Dieser Spionagefall sollte zunächst vertuscht werden, was aber durch Veröffentlichungen des investigativen Journalisten Egon Erwin Kisch verhindert wurde. Durch Kisch erfuhr die Öffentlichkeit 1913, dass Redl den Verrat begangen hatte, weil er aufgrund seiner Homosexualität erpresst worden war.
Erst elf Jahre nach dem Skandal, Ende 1924, publizierte Kisch sein Buch "Der Fall des Generalstabschefs Redl" (hier online). Darin geht er deutlich und klischeehaft auf Redls Homosexualität ein: In Redls gesamter Wohnung habe sich der "weibische Geschmack" geäußert. Auf dem Himmelbett hätten "seidene Steppdecken und (ein) rosa Plüschüberwurf" gelegen, alle Zimmer seien "von penetrantem Parfümgeruch erfüllt" gewesen. Auch Haarfärbemittel, "Manikürekästen, Pomaden, Parfüms und dergleichen fiel(en) auf". Briefe "zeugten von der Leidenschaft Redls" für einen jungen Ulanenoffizier, den Redl für sich habe gewinnen wollen. Dieser sei von Redl als sein Neffe vorgestellt und "schon als Kadettenschüler von Redl verführt worden". Später sei dieser Offizier wegen "widernatürlicher Unzucht" zu drei Jahren Kerker verurteilt worden. Als die russische Regierung von der Homosexualität Redls erfahren habe, sei dieser verloren gewesen, "denn der Verrat dieser Anomalie mußte ihn den Kragen kosten, während er als gemeiner Verbrecher" weiterhin Karriere hätte machen können. Eine Frau namens Ludmila habe als Geliebte des Generalstabschefs gegolten, aber ihre Aufgabe sei nur gewesen, "jeden aufkeimenden Verdacht der Homosexualität zu verscheuchen".
Weil Kisch den Inhalt seines Buches in Zeitungsartikeln vorveröffentlichte, konnte die Presse schon Anfang 1924 darüber berichten ("Illustrierte Kronen-Zeitung", 1. Januar 1924). Auch Militärangehörige äußerten sich über Redls Homosexualität, u. a. Oberst Leopold Kann ("Neues Wiener Journal", 13. Juli 1924) und Feldmarschall-Leutnant von Urbanski, der annahm, Redl sei vom Korpsgeist und "von der homosexuellen Organisation" gedeckt worden ("Neues Wiener Journal", 6. Januar 1924 S. 8-9), womit er das damals weit verbreitete Klischee einer international vernetzten Homosexuellenszene widerspiegelte.
Die Redl-Affäre wurde mehrfach verfilmt. In der Verfilmung von 1925 wurde aus der homosexuellen eine heterosexuelle Erpressung. Nach den Verfilmungen von 1931 und 1955 erschien 1985 mit "Oberst Redl" ein weiterer Film mit Klaus Maria Brandauer als homosexueller Oberst.
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Die Wandervögel und die "Rolle der Erotik" als Neuauflage

Wandervögel als Schwerpunktthema in der Homosexuellenzeitschrift "Der Eigene" (1924)
Hans Blüher (1888-1955) hatte mit seinen Büchern "Die Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen" (1912) und vor allem mit seinem zweibändigen Werk "Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft" (1917/1919) eine breite Diskussion um Homosexualität im Wandervogel angestoßen. Diese Diskussion wurde auch noch 1924 geführt, was u. a. mit der Neuauflage von "Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft" (1924/1927) zusammenhing. Im selben Jahr verfasste Richard Hammer seine Dissertation "Formen der Sexualität in der Jugendbewegung", die zwar keine unmittelbare Breitenwirkung hatte, aber zumindest auf spätere Schriften Einfluss nahm.
Die Rezeption Blühers lässt sich auch anhand anderer Veröffentlichungen von 1924 feststellen: Helene Stöcker, die sich als eine von wenigen Frauen in der von Männern dominierten Homosexuellenbewegung engagierte, ging in ihrer Schrift "Erotik und Altruismus" (1924, S. 29-34) auch auf Homosexualität, Hans Blüher und die Wandervogelbewegung ein. Der Rezensent von Harris' Wilde-Biografie im "Pester Lloyd" (2. Januar 1924) ist sich nicht sicher, ob Blühers Auffassung die Realität widerspiegelt: "Für uns viele, um ganz vorsichtig zu reden, ist die Sache ekelhaft und starrt von Schmutz." In einem großen Artikel mit der Überschrift "Das homosexuelle Deutschland" wird Blüher als der "Philosoph der deutschen Homosexualität" und als (Immanuel) "Kant der Schwulen" bezeichnet ("Die Stunde", 14. Dezember 1924), was als ironische Schmähung zu verstehen ist. Begriffe wie "schwul" und "Schwule" waren zu dieser Zeit zwar nicht unbekannt, aber in der Medienöffentlichkeit unüblich. Wandervögel waren auch das zentrale Thema in einem Heft der Homosexuellenzeitschrift "Der Eigene" (1924, 10. Jg., Heft 3), das einen Gitarre spielenden jungen Mann auf dem Cover zeigt.
Der Reformpädagoge Gustav Wyneken und der kräftige Gegenwind 1924
Bei dem Reformpädagogen Gustav Wyneken (1875-1964) war es kein Skandal der Kaiserzeit, sondern ein Skandal aus den Jahren 1920 bis 1922, der 1924 seine Nachwirkungen zeigte. Wyneken war in der Jugendbewegung engagiert und hatte die Freie Schulgemeinde Wickersdorf gegründet. 1920 musste er als Leiter dieses Internats seinen Dienst quittieren, weil ihm vorgeworfen wurde, Sex mit Schülern gehabt zu haben. In dem 1921 gegen ihn geführten Prozess trat Hans Blüher als Sachverständiger auf. Um sich zu verteidigen, veröffentlichte Wyneken seine Schrift "Eros" (1921) und beschwor darin den "pädagogischen Eros", ein Konzept, das sich auf antike Vorstellungen über die Knabenliebe berief. (Wynekens Konzept des "pädagogischen Eros" kann man heute auch kritisch sehen, weil es als Rechtfertigung von sexuellem Missbrauch an Jungen verstanden werden kann). Das Gericht verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr. Im Oktober 1922 wurde er noch einmal zu einem Jahr verurteilt, im April 1923 wurde er aber vorzeitig aus der Haft entlassen. Danach lebte er als Schriftsteller und hielt Vorträge über die Jugendbewegung.
Bei dem Gegenwind, den Wyneken im Jahr 1924 zu spüren bekam, ging es vor allem um sein Religionsverständnis und nur zum Teil um seine Homosexualität. Ende 1924 publizierte der politisch rechts stehende Friedrich Muckle (1883-1942) die gegen Wyneken gerichtete Hetzschrift "Gustav Wyneken. Ein Bild des Kulturverfalls der Zeit", in der er u. a. Wynekens Einstellung zur Religion kritisierte. Nur am Rande und auch nur andeutungsweise geht er dabei auch auf die Verurteilungen ein (S. 135-136, 143-145) und erwähnt, dass sich Wyneken seinen Schülern "mit roher Hand" und "in der uns bekannten Weise aufdrängte". Dies zeige – so Muckle -, dass Wickersdorf für Wyneken "eine Stätte war, wo er (sich) zuchtlos (seinen) Gelüsten" überlassen habe (S. 136). Im Dezember 1924 wurde ein Vortrag des "wegen gewisser Vorkommnisse mit ihm anvertrauten Schülern" verurteilten Wyneken von der Polizei verboten ("Rheinische Volkswacht", 13. Dezember 1924). Der "Westfälische Merkur" (13. Dezember 1924) befürwortete dieses Verbot, weil Wyneken wegen § 175 rechtskräftig verurteilt sei. Es war eine Ausnahme in dieser Zeit, dass sich die in Linz erscheinende Zeitung "Tagblatt" (12. März 1925) positiv mit Wynekens Schrift "Eros" (1921) beschäftigte.

Gustav Wyneken (rechts) mit Schülern der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, um 1925
Der Serienmörder Fritz Haarmann
In der zweiten Jahreshälfte 1924 kannten die deutschen Zeitungen vor allem ein homosexuelles Thema: die Taten des homosexuellen Serienmörders Fritz Haarmann aus Hannover. Mit Zahlen lässt sich das so ausdrücken: Rund 95% aller bei "Zeit.PunktNRW" recherchierbaren Artikel mit dem Stichwort "Homosexualität" des Jahres 1924 erschienen in der zweiten Jahreshälfte (352 von 372 Treffern) – und das lag an den Artikeln über Haarmann. Am 22. Juni 1924 wurde Haarmann verhaftet und am 19. Dezember 1924 zum Tod verurteilt, weil er mindestens 24 Jungen und junge Männer durch einen Biss in den Hals getötet und anschließend zerstückelt hatte. Haarmanns Taten bekamen eine Bedeutung, die weit über die vielen Opfer hinausging. Der Mordfall hat die politische und gesellschaftliche Einstellung zu Homosexuellen massiv und nachhaltig negativ beeinflusst. Dabei erschienen die vielen Artikel über Haarmann ausgerechnet zu einer Zeit, als die Streichung bzw. Reform des § 175 diskutiert wurde.
Fritz Haarmann – der Kriminalfall und die Zeitungen
Durch die Art, wie die Zeitungen über den Serienmörder berichteten, ist es leider nicht auszuschließen, dass viele Leser*innen in Haarmann einen typischen Homosexuellen sahen. Ein auf den ersten Blick harmlos wirkendes Beispiel dafür ist der Hinweis in der "Volkswacht" (9. August 1924), dass Haarmann in einer für den "Urning so typischen, halb naiven, halb gezierten Sprechweise" rede. Durch solche und ähnliche Berichte dürfte es vielfach zu einer Gleichsetzung von Homosexuellen mit Serienmördern gekommen sein. Die "Kölnische Zeitung" (27. Dezember 1924) berichtete, dass wegen Haarmann am Hamburger Hauptbahnhof jetzt "homosexuell veranlagte Beutejäger und Schlepper" besser überwacht werden sollten – als würden Homosexuelle generell ein ähnliches Verhalten wie Haarmann an den Tag legen.

Fritz Haarmann (zweiter von links) wird von Polizisten fotografiert (Juli 1924)
Es gab auch Autoren, die fair berichteten, wie Otto Kaus in der "Weltbühne" ("Der Fall Haarmann", 1924, Nr. 34, S. 280-284), der keine Parallelen zu anderen Homosexuellen, sondern zu dem Frauenmörder Carl Großmann aufzeigt. Im selben Jahrgang der "Weltbühne" wurde von einem anderen Autor auch das Verhalten der Polizei kritisch hinterfragt (S. 868-870).
Fritz Haarmann – und die Polizei
Empathie für Homosexuelle ist auch bei dem Kriminalkommissar Heinrich Kopp als Leiter des Homosexuellendezernates der Berliner Polizei (1911-1923) zu spüren, der am 21. Juli 1924 betonte, seiner Meinung nach habe die "Scheu der Eltern, Angaben über homosexuelle Neigungen vermißter Söhne zu machen", mit dazu beigetragen, dass nicht rechtzeitig gegen den Täter ermittelt werden konnte ("Bensberger Volkszeitung", 22. Juli 1924), was vermutlich nicht nur vom Fehlverhalten der Polizei ablenken sollte. Dass was hier als "Vortrag" bezeichnet wird, war eher eine Art Presseerklärung zu den Vorfällen, wo Kopp auch betonte, dass "bereits vier Beamte wegen erwiesener Nachlässigkeit ihres Dienstes enthoben worden" seien (Jens Dobler: "Zwischen Duldungspolitik und Verbrechensbekämpfung. Homosexuellenverfolgung durch die Berliner Polizei von 1848 bis 1933", 2008. S. 454-459). Dobler betont hier, dass es so gut wie keine Akten mehr zu diesem Kriminalfall gibt. Erhalten ist jedoch ein Erinnerungsbericht des damals ermittelnden Kriminalbeamten Hermann Lange aus dem Jahre 1961. Laut Lange waren etwa 30 Homosexuelle bei der Kriminalpolizei registriert, im Laufe der Ermittlungen stieg dies Zahl auf 600 an.
Hans Hyan erhebt seine Stimme
Hans Hyan bietet in seiner Broschüre "Massenmörder Haarmann. Kriminalistische Studie" (1924) auch ein Kapitel über "Die Homosexuellen in Hannover" (S. 64-67, hier zitiert nach dem Reprint 2019). Er sieht es als ungerecht an, die Homosexualität für diese Morde verantwortlich zu machen und den § 175 aufrechtzuerhalten. Hyan beschreibt die damalige Szene in Hannover mit nach seiner Schätzung rund 2000 Homosexuellen: Beliebte Lokale seien das "Trianon" und das "Café Continental". Er erwähnt die Homosexuellenbälle im "Neustädter Gesellschaftshaus" und ein Lokal in der Neuenstraße, wo die "zweite und dritte Garnitur" verkehre. Es gebe einen Strich an der Bahnhofstraße und einen weiteren in der Nähe des Georgen-Hotels, wo die Stricher jedoch nicht zur "Creme ihrer Kaste" gehörten. Mittlerweile hätten die Homosexuellen "in großer Zahl Hannover verlassen". Wer sich ein Gerechtigkeitsgefühl bewahrt habe, solle gegen ihre Verfolgung "seine Stimme erheben". Später erhob Hyan noch einmal selber seine Stimme und sprach sich in der "Weltbühne" mit dem Artikel "§ 175" (22. Juni 1926, S. 969-973) gegen strafrechtliche Verfolgung und für die Männerliebe aus, wie er sie "beobachtet und gefunden" habe.

Hans Hyans Broschüre "Massenmörder Haarmann" (r.) wirkt reißerisch, ist es aber nicht. Das gleiche gilt für Theodor Lessing (l.) mit seinem Buch "Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs"
Theodor Lessing und sein Prozessbericht
Auch Theodor Lessings "Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs" (Anfang 1925, hier online) wirkt vom Titel zunächst reißerisch, ist es aber nicht. Lessing hatte den Prozess als Augenzeuge verfolgt und machte die Rolle der hannoverschen Polizei öffentlich. In seinem Buch versuchte er nicht nur die Homosexualität des Täters zu beleuchten, sondern auch die Homosexuellenszene in Hannover mit seinen angeblich 40.000 Homosexuellen und insbesondere den "Markt der männlichen Prostituierten" ("Erster Teil") wertneutral darzustellen. Die Anzahl der Nachdrucke (1996, 2011, 2015, 2020, 2022) hinterlässt eine Ahnung davon, wie Lessing mit seinem Buch das Bild dieses Kriminalfalles in der Öffentlichkeit prägte.
Fritz Haarmann – der politische Fall
Im Reichstag wurde vom 22. bis zum 26. Juli 1924 täglich – meistens am Rande – über den Fall Haarmann debattiert, allerdings leider nicht in einem konstruktiven Sinn, z. B. im Kontext von Gewaltprävention, sondern nur in Form politischer Schuldzuweisungen. Am 22. Juli 1924 betonte Iwan Katz für die KPD, dass Haarmann als Spitzel für die Polizei tätig gewesen war, und kritisierte damit die Polizei und das Rechtssystem. Die Nazis riefen dazwischen: "Sie entrüsten sich über Haarmann und gleichzeitig stellen Sie einen Antrag auf Aufhebung des § 175!"
Der folgenden Äußerung des Abgeordneten Katz lässt sich aus seiner Sicht leicht nachvollziehen: "Der Fall Haarmann ist kein Kriminalfall, sondern ein politischer Fall" (Reichstag, Sitzung vom 22. Juli 1924, S. 499). Es wurde für die Mitglieder des Reichstages offenbar schwierig, gleichzeitig einen Serienmörder zu verurteilen und für die Straffreiheit homosexueller Handlungen einzutreten. Das wurde auch noch einmal Anfang 1925 deutlich, als ein Reichstagsabgeordneter im Kontext der Reform des Strafrechtes Unverständnis darüber äußerte, dass ein Richter trotz der Morde Haarmanns für die Legalisierung von Homosexualität eintrete (Reichstag, Sitzung vom 10. März 1925, S. 995).
Fritz Haarmann und die Homosexuellen
An dieser Stelle bietet es sich an, auf die Homosexuellenbewegung einzugehen, die ich in einer späteren Folge dieser Serie noch einmal aufgreifen werde. Nach Stefan Micheler ("Zeitschriften, Verbände und Lokale gleichgeschlechtlich begehrender Menschen in der Weimarer Republik", 2008, u. a. S. 42, 69) ist es nicht eindeutig zu klären, welche Bedeutung die vielen homophoben Artikel in den Zeitungen für die damalige Homosexuellenbewegung hatten. Einerseits sprach Friedrich Radszuweit für den Bund für Menschenrechte von einem erheblichen Schaden, Behördenschikanen und einem Abbröckeln der Mitglieder in den Gruppen, andererseits gab er einen erheblichen Mitgliederzuwachs in dieser Zeit an. Auch wenn Radszuweits Zahlenangaben nicht unbedingt zu trauen ist: Möglicherweise sahen zahlreiche Schwule nun eine dringende Notwendigkeit, sich zu engagieren. Fest steht, dass in Hannover fast alle der wenigen Freundschaftslokale geschlossen wurden und dass offenbar viele Schwule die Stadt verließen. Die unterschiedlichen Gruppierungen der Homosexuellenbewegung waren mit zahlreichen Vorträgen bemüht, den Schaden gering zu halten und der Gleichsetzung von Homosexuellen und Mördern etwas entgegenzuhalten. Ein Versuch der Verteidigung bestand darin, unter der Überschrift "Die Moral der Anderen" über Sexualverbrechen von heterosexuellen Männern zu berichten. Magnus Hirschfeld verwies in einem seiner Vorträge im August 1924 darauf, dass es zwischen homo- und heterosexuellen "Lustmördern" keinen Unterschied gebe ("Westfälische Neueste Nachrichten", 26. August 1924). Vorträge speziell über den Fall Haarmann sind auch von Reinhold Gerling, Fritz Schüler und Friedrich Radszuweit bekannt, wobei die Angaben in den Zeitungen meistens nur Ort, Datum und den Titel des Vortrages umfassen.
Fritz Haarmann und sein Opfer Fritz Franke
Um Fritz Haarmanns mindestens 24 Mordopfern wenigstens ein Gesicht geben zu können, möchte ich an dieser Stelle auf Fritz Franke verweisen. In den "Blättern für Menschenrecht" (Heft 37, 24. Oktober 1924) und in "Die Freundschaft" (Heft 7, Oktober 1924, S. 168) wurde der 17-jährige Lehrling Fritz Franke als seit Februar 1923 vermisst gemeldet, ein Foto abgedruckt und um Mithilfe bei der Suche nach ihm gebeten. Nach anderen Quellen wurde schon seit Juli 1924 vermutet, dass er ein Opfer Haarmanns geworden sei. In der Gerichtsverhandlung im Dezember 1924 wurde er öffentlich als ein Opfer Haarmanns namentlich genannt ("Volksblatt", 5. Dezember 1924). Am zweiten Verhandlungstag wurde Haarmann vom Richter auf Fritz Franke angesprochen, er konnte sich jedoch nicht einmal an dessen Namen erinnern, weil es einfach "zu viele" Opfer gewesen seien. Haarmann beschrieb ihn jedoch als "Berliner, der so schön Klavier spielen konnte" ("Der Gemeinnützige", 6. Dezember 1924). Aufgrund meiner Recherchen zu Haarmann gehe ich davon aus, dass, von Fritz Franke abgesehen, keine weiteren Fotos von Haarmanns Mordopfern überliefert sind und dass auch dieses Foto von Franke seit rund 100 Jahren nicht mehr publiziert wurde. Mehrere Bitten an Bibliotheken, mir eine Reproduktion vom Original der Zeitschrift zu erstellen oder mir das Original für einen Scan zu überlassen, wurden abgelehnt.
Haarmanns Leben wurde später mehrfach verfilmt, u. a. als "Die Zärtlichkeit der Wölfe" (1973) aus dem Kreis von Rainer Werner Fassbinder. In dem Film "Der Totmacher" (1995) übernahm Götz George die Rolle Fritz Haarmanns. In Hannover, wo Haarmann seine Morde verübte, werden bis heute Stadtführungen über ihn angeboten (queer.de berichtete). Zumindest in Hannover ist das Andenken an Haarmann also noch sehr lebendig.

Das offenbar einzige Foto, das es von einem Opfer Haarmanns gibt: Fritz Franke in "Die Freundschaft" (Oktober 1924)
Weitere Gewaltdelikte und besondere Todesfälle
Dieser Abschnitt war zunächst als Auflistung gedacht, welche schwulen Männer 1924 Opfer von Gewalttaten wurden. Weil es sich jeweils um Einzeltäter*innen handelte, ging es mir nicht darum, von diesen Morden Rückschlüsse auf gesellschaftliche Homophobie zu ziehen, sondern ich wollte vor allem dokumentieren, wie die Zeitungen über solche Taten berichteten.
Ein Problem besteht darin, dass es in einigen Fällen unklar bleibt, ob die Opfer überhaupt schwul bzw. lesbisch waren. Vor allem kann es aber zunächst als problematisch erscheinen, dass ich nachfolgend auch auf Fälle eingehe, in denen Schwule und Lesben nur oder auch Täter*innen waren. Nur bei einem oberflächlichen Blick kann dadurch der irrtümliche Eindruck entstehen, als würde ich zwischen Opfern und Täter*innen nicht ausreichend differenzieren. Die Art der Berichterstattung über Homosexualität in den Zeitungen lässt sich auch in diesen Fällen dokumentieren. Bei den meisten Morden an Homosexuellen wird der homosexuelle Hintergrund wohl nie öffentlich bekannt geworden sein. Insofern haben die nachfolgenden Fälle, wenn überhaupt, nur einen exemplarischen Charakter. Die Morde der beiden Duos Leopold/Loeb und Klein/Nebbe sind – neben den Morden von Fritz Haarmann – vermutlich die einzigen aus dieser Zeit, die bis heute bekannt geblieben sind und medial rezipiert werden.
Der Mord an Willi Klein in Berlin und Alfred Döblins Erzählung
Ella Klein und ihre Partnerin Margarete Nebbe wollten in Berlin ihre beiden Ehemänner vergiften. Ella Kleins Ehemann Willi Klein starb am 1. April 1922, während Margarete Nebbes Ehemann überlebte. Am 16. März 1923 wurde die Haupttäterin Ella Klein zu vier Jahren Gefängnis und ihre Mittäterin Margarete Nebbe zu 18 Monaten verurteilt. Der Prozess entwickelte sich unter medialer Begleitung zu einer Mediensensation. Die "Schwerter Zeitung" (16. März 1923) schrieb: "Die beiden Hauptangeklagten wollten sich ihrer Männer, die ihnen bei ihren anormalen Beziehungen zueinander unbequem waren, entledigen."
Dass dieser Fall auch noch 1924 breit diskutiert wurde und bis heute bekannt ist, liegt an Alfred Döblins Erzählung "Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord" (Dezember 1924, bis heute nachgedruckt). Der Autor veränderte die Nachnamen der beiden Frauen (aus Klein wurde Link, aus Nebbe wurde Bende), setzte sich literarisch mit der Vorgeschichte des Giftmordes auseinander, beschrieb die Entwicklung von Elli Link zur Giftmörderin, ihre Ehe mit einem gewalttätigen Mann, die Freundschaft mit Margarete Bende, aus der sich ein lesbisches Liebesverhältnis entwickelte, und den Entschluss der beiden Freundinnen, ihre Ehemänner mit Gift zu beseitigen.
Zu Döblins Erzählung erschien jede Menge Sekundärliteratur. Claudia Schoppmann verweist in ihrem Buch "'Der Skorpion'. Frauenliebe in der Weimarer Republik" (1991, S. 58-59) darauf, dass dieser Text als eindringliches psychologisches Dokument von literarischem Rang wertgeschätzt wurde. Sie selbst ist jedoch nicht überzeugt – "literarischer Rang hin, literarischer Rang her". Sie kritisiert bei Döblin pathologisierende Formulierungen, die Nennung einer angeblichen Ursache für Homosexualität (hier die Gewalt des Ehemannes) und bezeichnet das Werk indirekt als vorurteilsbeladen und unrealistisch. Schoppmanns Beurteilung ist nicht falsch, beruht aber erkennbar darauf, dass sie das Werk nicht in seiner Zeit, sondern aus heutiger Sicht heraus bewertet. Weil Döblin grundsätzlich aufgeschlossen ist und nur zum Teil auf frauenfeindliche Klischees zurückgreift, stellt sich die Frage, ob diese mit dem Hinweis auf den Zeithintergrund auch relativiert werden sollten. Döblins Erzählung wurde 1978 verfilmt (Wikipedia), ist heute auch als Hörbuch verfügbar und medial präsent (s. Beitrag in rbb24).

Alfred Döblins Erzählung: "Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord" (Ausgaben von 2007 und 2013)
Der Mord an Hans Friedmann in Berlin
Am 14. Juli 1923 wurde die Leiche des 36-jährigen Börsenmaklers Hans Friedmann in seiner Wohnung in der Vorbergstraße (Berlin-Schöneberg) gefunden. Bei der Bezeichnung der Wohnung des Opfers als eine "Junggesellenwohnung" ("Der Gemeinnützige", 17. Juli 2023) ist ein schwuler Subtext möglich. Ein halbes Jahr später, vom 27. Februar bis zum 4. März 1924, fand der Prozess gegen die beiden 23- und 24-jährigen Beschuldigten, Alexander Hoffmann und Alfred Schulz, statt. Zwei Artikel aus der SPD-Zeitung "Vorwärts" finde ich beachtenswert: Magnus Hirschfeld betonte als Gutachter, dass er schon viele Morde an Homosexuellen erlebt habe, dass dieser aber der erste sei, zu dem auch ein Gerichtsverfahren eröffnet wurde (29. Februar 1924). Das Urteil lautete für beide Angeklagte auf jeweils 15 Jahre Zuchthaus. Die Verurteilung, so der "Vorwärts", sei "luftreinigend". Die "rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung der Homosexuellen" und die Abschaffung des § 175 "würde die Zahl der Morde an Homosexuellen (…) verringern" (4. März 1924). Solche Sätze waren – auch in sozialdemokratischen Zeitungen – in den Zwanzigerjahren selten zu lesen.
Mehrere Homosexuellenzeitschriften berichteten ebenfalls über den Prozess. In den "Blättern für Menschenrecht" (1924, Heft 5, S. 1-2) benutzte Friedrich Radszuweit den Mordfall in unangebrachter Weise dazu, Werbung für den Bund für Menschenrecht zu machen, weil dieser "den größten Anteil an der Aufklärung" über Homosexualität habe. Die ausführlichste Berichterstattung bietet der "Hellasbote", der in zwei Teilen berichtete (1924, Heft 5, S. 39-40, Heft 6, S. 45-47). Darin wird auch beschrieben, wie sich Opfer und Täter im August 1922 kennen lernten und wie es später zu dem Mord kam.
Der Mord an R. in Dresden
Am 10. Februar 1924 wurde der Kaufmannslehrling R. in Dresden erschossen. Zuvor hatte er auf einem "Tanzboden" die Bekanntschaft des ebenfalls homosexuellen Drogisten Sch. gemacht. Auf dem Heimweg gerieten die beiden Männer in einen Streit, in dessen Verlauf der Drogist den Lehrling erschoss. Unter der reißerischen Überschrift "Mordtat eines Homosexuellen" berichteten mehrere Zeitungen über diesen Fall, wie die "Salzburger Wacht" (13. Februar 1924) und das Linzer "Tagblatt" (17. Februar 1924). Sie hätten – mit einer anderen Perspektive – auch "Die Ermordung eines Homosexuellen" titeln können. In den "Blättern für Menschenrecht" (1924, Heft 4, S. 1) verwies Friedrich Radszuweit auf den Artikel "Der Mord nach dem Bubiball" im "Chemnitzer Anzeiger" und andere Zeitungsartikel. Anschließend kritisierte er zu Recht die von mehreren Zeitungen vorgenommene Gleichsetzung von Homosexualität und Mord. "Wann werden diese Tageszeitungen soviel Vernunft aufbringen, um bei solchen traurigen Vorkommnissen, wie in Dresden, die sexuelle Veranlagung aus dem Spiele zu lassen?"

Die "Mordtat eines Homosexuellen" ("Tagblatt", 17. Februar 1924) hätte auch "Die Ermordung eines Homosexuellen" heißen können
Der Verdacht auf Mordversuch gegen Leontine Geßmann in Wien
Ende März 1924 wurde Leontine Geßmann unter dem Verdacht verhaftet, sie habe ihren Mann mit Arsen vergiften wollen. Die Brisanz dieses Falles basierte auf der Prominenz des Ehemannes, der ein Sohn des christlich-sozialen Politikers Albert Geßmann war. Für die Zeitung war es ein gefundenes Fressen, sie berichteten vom "dämonischen Einfluss der lesbischen Freundinnen" und von den Verhältnissen Leontine Geßmanns mit Frauen, wie z. B. mit der Tänzerin Anita Berber (u. a. "Arbeiterwille", 1. April 1924). Es wird auch verwiesen auf "die beiden homosexuellen Frauen in Berlin, die ihre Männer zu beseitigen trachteten, weil sie ihrer krankhaften Neigung im Wege standen". Die Homosexualität spiele dabei "keine geringe Rolle" ("Grazer Tagblatt", 30. März 1924). "Der Montag" (31. März 1924) veröffentlichte eine Zeichnung von Geßmann. Ihr Verteidiger betonte gegenüber der Presse, dass seine Klientin gar nicht wegen Mordversuchs, sondern "nur wegen des Verdachtes nach § 129 (Homosexualität)" in die Psychiatrie gekommen sei und dass sie übrigens "gegen ihren Mann denselben Vorwurf erhoben" habe ("Arbeiterwille", 19. Oktober 1924). Mit der Enthaftung Leontine Geßmanns verschwand die Affäre schnell aus der Berichterstattung der seriösen Presse, was wohl auch auf die Einflussnahme ihres Mannes zurückzuführen war. Diesen Kriminalfall greift auch Hanna Hacker in ihrem Buch "Frauen und Freund_innen. Lesarten 'weiblicher Homosexualität'. Österreich, 1870-1938" (2015, S. 364-365) auf.

Eine Zeichnung von Leontine Geßmann
Der Tod von Rosa Schakys in Berlin
Im April 1924 wurde in Berlin die Leiche der 24-jährigen Rosa Schakys gefunden. Über die Hintergründe ihres Todes wurde recht schnell spekuliert. Dass Schakys kurz vor ihrem Tod aus der Berliner "Olala-Diele" (Steinmetzstraße, Ecke Alvenslebenstraße) gekommen war, befeuerte Mutmaßungen, woraufhin fünf Zeitungen wortgleich schrieben: "Also lesbisch! (…) Vielleicht ein Mord gleichgesinnter und gleichveranlagter Frauen? Aus Rache?" (U. a. "Essener Zeitung", 13. April 1924.) Auf die Möglichkeit, dass es sich auch um einen Mord aus homophoben Motiven hätte handeln können, kam anscheinend niemand. Der vermeintliche Mordfall stellte sich jedoch später als Suizid heraus. Interessant ist hier vor allem die Art der spekulativen Berichterstattung, aber auch die Information über das lesbische Berliner Lokal "Olala". Bisher war vor allem eine Lesbenbar mit diesem Namen bekannt, die 1932 von Anneliese Mater eröffnet wurde (Wikipedia), und in der "Fanfare" (1924, Heft 5 und 42) sind Werbeanzeigen für das "Olala. Die Diele der eleganten Dame" mit der Adresse Bülowstraße, Ecke Ziethenstraße zu finden.
Die beiden Mörder Leopold und Loeb in den USA
In den USA ermordeten Nathan Leopold und Richard Loeb am 21. Mai 1924 den 14-jährigen Bobby Franks und wurden deshalb am 10. September 1924 zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Fall wurde breit diskutiert, weil die Täter aus der gehobenen Gesellschaftsschicht kamen, ihre Tat hauptsächlich durch ihren Ehrgeiz motiviert war, ein "perfektes Verbrechen" zu begehen, und sie sich als "Übermenschen" ansahen. Allein im deutschsprachigen Raum erschienen hunderte von Artikeln. Dass die beiden Männer eine sexuelle Beziehung verband, wurde nur vereinzelt angedeutet: Einige Zeitungen schrieben, ihr Verhältnis trage einen "pathologischen Charakter" (u. a. "Pester Lloyd", 28. Juni 1924), die beiden Täter seien "jahrelang einander aufs innigste zugetan" und Nathan Leopold habe ein Interesse an sexuellen Problemen ("Neues Wiener Journal", 11. Juni 1924). "Das interessante Blatt" (26. Juni 1924) bezeichnete die beiden als "überreizte" und "entartete Milliardärs-Söhne". Was die deutschsprachigen Zeitungen angeht, kann von einer Gleichsetzung von Homosexuellen mit Mördern nicht gesprochen werden – auch wenn sich nach Auffassung des "Essener Anzeigers" (24. Juni 1924) in der Person Leopolds "alle möglichen Formen der Perversität zu vereinigen (scheinen), deren geringste die Homosexualität ist".

Nathan Leopold und Richard Loeb (1924)
Bis heute hat dieser Mordfall viele Autoren, Regisseure und Dramatiker fasziniert und es gibt eine breite mediale Rezeption: Bücher, Filme wie Alfred Hitchcocks "Cocktail für eine Leiche" (1948) und "Swoon" (1992) sowie das Musical "Thrill me" (2023) haben den Fall behandelt und dabei in unterschiedlicher Form – in Hitchcocks Film nur als Subtext – auch die Homosexualität der beiden Täter aufgegriffen.
Der Mord an Benno Hamburger in Berlin
In Berlin wurde am 30. Oktober 1924 der Kaufmann Benno Hamburger beraubt und ermordet aufgefunden. "Da Hamburger anscheinend homosexuell veranlagt war, nimmt man an, daß der Täter unter den jungen Männern zu suchen ist, die ihn häufig besuchten" ("Neues Wiener Journal", 31. Oktober 1924). Bei seinen Nachbarn hatte er keinen guten Ruf: "Er empfing vielfach zu allen Tages- und Nachtzeiten den Besuch junger Männer, die (…) bestellt schienen" ("Bergisch-Märkische Zeitung", 31. Oktober 1924). Als sein Mörder wurde im April 1925 der 30-jährige Otto Leest zum Tode verurteilt, der darum bat, die Todesstrafe "schleunigst" zu vollstrecken ("Bürener Zeitung", 15. April 1925). Auf Antrag seines Verteidigers und entgegen Leests eigenem Wunsch, "geköpft" zu werden, wurde die Todesstrafe in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt ("Hagener Zeitung", 14. Juli 1925). Spätere Meldungen zum Täter wurden nicht mehr gefunden.
Der Tod von Franz Duysen in Berlin
Am Abend des 10. November 1924 brach der 65-jährige Dr. Franz Duysen in seiner Küche tot zusammen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er 31 Jahre lang mit dem 69-jährigen Dr. Kraatz in Berlin zusammengewohnt. Nach zwei Tagen und zwei Nächten wurde Kraatz vollkommen verwirrt neben der Leiche seines Freundes aufgefunden und in ein Krankenhaus eingeliefert. Als Todesursache stellte sich später ein defekter Herd heraus. "Die beiden scheinen homosexuell veranlagt gewesen zu sein" ("Neues Wiener Journal", 14. November 1924). Beide führten ein "einsiedlerisches" Leben. "Der Tote war mit Frauenkleidern bekleidet" und auch im Kleiderschrank befanden sich Frauenkleider. Dieser Umstand lasse, so die Presse, "manche Schlüsse zu". Kraatz' Aufgabe sei es gewesen, "die Hausfrau zu spielen" ("Bergisch-Märkische Zeitung", 14. November 1924). Den Ermittlern war die "homosexuelle Freundschaft intimster Art" bekannt, sie waren jedoch überrascht, die Duysens Leiche in Frauenkleidern vorzufinden. "Daß einer der beiden Freunde Travestit sein würde, damit hatte man wohl gerechnet, aber der Verdacht wäre dabei doch auf Dr. Kraatz gefallen, der ja die weibliche Rolle übernommen hatte" ("Essener Anzeiger", 25. November 1924). Die Zeitungsberichte, selbst der letztgenannte, geben zwar zeitgenössische Klischees wieder, sie sind in gewisser Weise aber auch sensibel formuliert. Das lag offenbar an dem sozialen Status des Opfers, der in den rund 20 Artikeln, die mir vorlagen, mehrfach hervorgehoben wurde.
Am meisten haben mich zwei Artikel bewegt. Zum einen der Artikel im "Vorwärts" (18. November 1924) mit seinem emotionalen Schlusswort unter dem Artikel "Transvestiten": Der Fall stelle die Öffentlichkeit vor Fragen: "Wie erzieht man die Menschen zu größerer Vorurteilslosigkeit, zur inneren Freiheit gegenüber ihren Mitmenschen, zur Aufmerksamkeit, zum Ernst und zur Liebe gegenüber dem Innenleben ihresgleichen und doch nicht ihresgleichen?" Zum anderen der Artikel von Joseph Roth in der "Frankfurter Zeitung" (2. Dezember 1924, hier zitiert nach Joseph Roth: "Das journalistische Werk 1924-1928", 2009), in dem der Autor sehr bewegende Worte über das Liebespaar fand. Nach dem Tod seines Freundes habe Kraatz "den Verstand (verloren). Er befindet sich jetzt in der psychiatrischen Klinik."
Ein Jahr später erschien posthum Franz Duysens Buch "Unkräuter" (1925, S. 1; Reprint 2020). Darin wurde die Leser*innenschaft darüber informiert, dass der Autor während der Arbeit an diesem Buch gestorben war, und ergänzt: "Sein Freund und Mitarbeiter, Herr Dr. med. Kratz (sic), konnte sich infolge von Krankheit der Beendigung des Buches nicht widmen."
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