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Folge 3 von 10
Schwules Leben vor 100 Jahren: Zeitungen und öffentliche Meinung
Zeitungen haben in der Weimarer Republik maßgeblich zur öffentlichen Meinungsbildung über Homosexualität beigetragen. Wie berichteten sie über Schwule und über Verurteilungen nach Paragraf 175?

Ausschnitt aus dem Cover der Autobiografie "Aus dem Tagebuch eines Homosexuellen" (1910)
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14. Januar 2024, 06:17h 14 Min.
Die Rolle der Zeitungen und die öffentliche Meinung in der Weimarer Republik
In einer Zeit ohne Fernsehen, während das Radio als neues Medium noch in den Anfängen steckte, ist der große Einfluss der Zeitungen auf die öffentliche und private Meinungsbildung leicht vorstellbar. Wie Zeitungen über Schwule und Lesben berichteten, hatte maßgeblichen Einfluss auf gesellschaftliche Einstellungen. Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Bevölkerung wird dabei keinen persönlichen Kontakt zu Menschen gehabt haben, von denen sie wusste, dass diese lesbisch bzw. schwul waren, und hatte damit kein Korrektiv zur Medienberichterstattung. Zeitungen waren, neben Büchern und Vorträgen, eine der wenigen Möglichkeiten, sich zu informieren. In Zeitungen des Jahres 1924 habe ich – im Gegensatz zu anderen Jahren und anderen Medien wie Büchern – fast nur Artikel gefunden, die Homosexualität in negativen Zusammenhängen wie Strafverfahren darstellten. Es ist erschreckend, wie eklatant das negative Bild, das durch Zeitungen vermittelt wurde, dem Bild der freien Weimarer Republik und der Vorstellung von einer sich entwickelnden Homosexuellenszene widerspricht.
Für Schwule und Lesben, die kaum positive Identifikationsmöglichkeiten hatten, werden die Zeitungsmeldungen einen maßgeblichen Einfluss auf ihre Selbstwahrnehmung gehabt haben und vermutlich konnten Schwule nur mit großen Schwierigkeiten eine positive schwule Identität entwickeln.
Die Vorstellung von Homosexuellen als eine Gefahr für die Familie
Durch die Berichte in den Zeitungen wird deutlich, dass die damalige Mehrheitsgesellschaft nicht nur davon ausging, dass Homosexuelle etwas moralisch Verwerfliches und rechtlich Kriminelles taten, sondern auch, dass sie eine Gefahr für die Familie darstellten. So wird die "widernatürliche Unzucht" mit "Ehebruch" und Bigamie als einer der drei häufigsten "Ehescheidungsgründe" genannt, die von "vernichtender Wirkung" seien (u. a. "Essener Anzeiger", 12. Oktober 1924). Im gleichen Zusammenhang ist es zu sehen, dass Christ*innen von der Politik forderten, an der Strafbarkeit männlicher Homosexualität weiterhin festzuhalten, um Familie und Ehe zu schützen ("Aufwärts", 7. November 1924).
Grundsätzlich finde ich es problematisch, bei gesellschaftlichen Einstellungen Parallelen zwischen früher und heute erkennen zu wollen. Wenn jedoch zum Beispiel 2023 in Schwerin von unbekannten Personen an Homo-Treffpunkten und an den Büros linker Parteien Folien mit der Aufschrift "Familie schützen! Homopropaganda in Schwerin stoppen!" angebracht werden, sehe ich in Bezug auf die diffusen Ängste, Homosexuelle würden Heterosexuellen etwas wegnehmen oder nur durch ihre Präsenz andere gefährden, durchaus gewisse Parallelen. Es ist nur allerdings nur eines von vielen Beispielen im Zusammenhang von aktueller homophober Propaganda mit vergleichbarer Behauptung und Zielrichtung.

Folie "Familie schützen!" in Schwerin im Jahr 2023
Die Artikel-Serie "Das homosexuelle Deutschland" in "Die Stunde"
Allein schon wegen ihres Umfangs und auch wegen der zu dieser Zeit noch unüblichen Illustrationen ist die dreiteilige (kritische) Artikelserie "Das homosexuelle Deutschland" von 1924 bemerkenswert. Sie erschien in "Die Stunde" (1923-1938), der ersten Boulevardzeitung Österreichs, die wenig Politik, aber viel Klatsch enthielt und die seit ihrem ersten Erscheinen schnell zu einer der auflagenstärksten und einflussreichsten Zeitungen Wiens avancierte. Sie war "reißerisch und aggressiv, zum anderen liberal, progressiv und anti-nationalistisch ausgerichtet" (Wikipedia). Den Anlass für alle drei Teile bildete der Serienmörder Fritz Haarmann. Die Serie hat den erkennbaren Anspruch, eine Innenansicht der Homosexuellenszene zu bieten, dem sie jedoch wegen ihrer vollkommen verzerrten Sichtweise nicht einmal ansatzweise gerecht wird.

Aus der Artikelserie "Das homosexuelle Deutschland" von Dezember 1924
Im ersten Teil (14. Dezember 1924) wird Homosexualität als das "deutschnationale Laster" vorgestellt und Hans Blüher ironisch als "Kant der Schwulen" bezeichnet. Beachtenswert ist eine Formulierung, die sich auf die zeitgenössische Homosexuellenbewegung bezieht: Es ist die Rede von der "stärksten deutsche(n) Bewegung" neben der des Militarismus, was hier als Kritik gedacht ist, aber indirekt auch als Anerkenntnis der Erfolge der frühen Homosexuellenbewegung gesehen werden kann.
Der zweite Teil (17. Dezember 1924) handelt davon, wie "Puppen, Schwestern und Tanten" (frühere Bezeichnung für "Tunten") angeblich zwischen "Pissoir und Zuchthaus" lebten. Feminine Homosexuelle, so die Zeitung weiter, wollten vor allem heterosexuelle Männer verführen; die "Paarung untereinander empfinden sie als eine Art Blutschande".
Im dritten Teil (19. Dezember 1924) mit der Überschrift "Die Homosexuellen und die Polizei" wird indirekt kritisiert, dass die Polizei mit Homosexuellen wie Haarmann zusammenarbeite. Der Verfasser dieser Serie wird nicht genannt, ist aber offensichtlich der österreichische Journalist Anton Kuh (s. Anton Kuh: "Werke", 2016, S. 217-226).
Die homophoben und antisemitischen Reaktionen auf diese Serie, die sich auch auf die jüdische Herkunft des Autors bezogen, sind ähnlich unangenehm wie die Serie selbst. Das "Salzburger Volksblatt" (16. Dezember 1924) behauptete, dass "jüdische Journalisten solche Artikel wider das deutsche Volk und seine Ehre" schreiben würden, und unter der Überschrift "Juden und Homosexualität" betonte die "Ostdeutsche Rundschau" (19. Dezember 1924): "Die Homosexualität ist ein Laster", es sei aber das der Juden.
Zwei Karikaturen im "Simplicissimus"
Die satirische Wochenzeitschrift "Simplicissimus" (1896-1944) veröffentlichte im Jahr 1924 zwei Karikaturen zum Thema Homosexualität: Eine Karikatur (22. November 1924, S. 484) bezieht sich auf knapp und "unzüchtig" bekleidete Frauen, die sich wundern, warum der Staatsanwalt gegen sie vorgehe, denn eine der beiden Damen betont: "Wir stehen doch auch im Kampf gegen die Homosexuellen." Auch wenn sich die Karikatur vor allem gegen Doppelmoral und nicht gegen Homosexuelle richtet, bleibt unklar, ob auch Homosexuelle darüber lachen konnten.
Eine zweite Karikatur erschien zwei Monate vorher unter der Überschrift "Wie sag ich's meinem Kinde?" (29. September 1924, S. 364). Hier sieht man eine junge Frau, die mit Männern ausgehen soll, gegenüber der Mutter aber offen zugibt, "pervers" zu sein. Der Humor dieser Karikatur lässt sich unterschiedlich deuten. Beiträge über Lesben sind in den Zwanzigerjahren wesentlich seltener als solche über Schwule, offenbar deshalb, weil männliche Homosexualität als gesellschaftlich relevanter angesehen wurde.

Die Karikatur "Wie sag ich's meinem Kinde?" im "Simplicissimus" (29. September 1924)
Die Beurteilung der Karikaturen im "Simplicissimus" ist etwas einfacher, wenn weitere Karikaturen aus den Jahren zuvor mitberücksichtigt werden. Die Zeitschrift hatte schon anlässlich der Harden-Eulenburg-Affäre ab Mitte 1907 für die Zeit teils recht derbe Karikaturen publiziert. Zwei Karikaturen vom Anfang der Zwanzigerjahre sind heute nicht mehr in allen Details verständlich. Die Karikatur "Hirschfeldiana" (1. April 1921, S. 11) stellt einen Bezug zu Magnus Hirschfeld her und macht sich darüber lustig, dass Schwule auch die prekäre Wirtschaftslage nutzen, um gegen den § 175 zu argumentieren, wobei es als lustig angesehen wird, dass ein stereotyp dargestellter Unternehmer seinen Sekretär als "Fräulein" anspricht. Die zweite Karikatur über lesbischen Frauen unter der Überschrift "Schwuhl" (30. Juli 1923, S. 224) variiert das in damaligen Darstellungen der Homosexuellenszene nicht selten auftretende Motiv der "verkehrten Welt", in der das "Perverse" als "normal" gilt. Alle Beispiele verdeutlichen, dass Karikaturen über Homosexuelle keinem Tabu unterlagen, sie haben zum Teil eine innere Sensibilität und verbinden ernste und damals aktuelle Themen mit Unterhaltung.
Eine Karikatur im "Ulk"
Die Satire-Zeitschrift "Ulk. Illustriertes Wochenblatt für Humor und Satire" erschien seit 1872 als Beilage und seit 1922 als selbständige Zeitschrift. In der Karikatur "Die vermännlichte Damenmode" ("Ulk", Heft 41, 24. Oktober 1924, S. 162) macht ein Kellner einen vermeintlichen Herrn darauf aufmerksam, dass dieser wohl aus Versehen gerade die Damentoilette aufsuchen möchte.

Toilettenfrage in "Ulk" (24. Oktober 1924)
Dies lässt sich gut mit der Karikatur "Lotte am Scheideweg" aus dem "Simplicissimus" vergleichen, die ein halbes Jahr später erschien (4. Mai 1925, S. 79). Im "Ulk" geht es "nur" um eine für die damalige Zeit genderfluide Bekleidung, die zu einem Missverständnis bei der Toilettenwahl führt. Der "Simplicissimus" geht weiter und handelt auch von genderfluiden Identitäten – dargestellt durch Lotte, die raucht (was lange nur für Männer als schicklich galt) und dabei aus "männlichen" und "weiblichen" Elementen kombinierte Kleidung trägt. Über Identitäten und geschlechtsspezifische Kleidung wird bis heute leidenschaftlich gestritten. Auch bei den heutigen Diskussionen über genderneutrale Toiletten lassen sich Parallelen zur Lotte-Karikatur sehen, auf die queer.de schon früher verwiesen hat.

Toilettenfrage im "Simplicissimus" (4. Mai 1925)
Die öffentliche Meinung
Stefan Micheler ("Selbstbilder und Fremdbilder der 'Anderen'. Männer begehrende Männer in der Weimarer Republik und der NS-Zeit", 2004, S. 66, 71) bringt die damalige öffentliche Meinung gut auf den Punkt: Während der Weimarer Republik war Homosexualität ein Gegenstand öffentlicher Debatten. Nicht nur Fachzeitschriften, sondern auch die Tages- und Wochenpresse beschäftigte sich mit Homosexualität und es wurde über Ursachen, eine mögliche Bestrafung und Moral debattiert. Die Beiträge in der Presse reichten von Pathologisierung und moralischer Verdammung bis hin zu Akzeptanz bei gleichzeitigem Bemitleiden. Sehr oft wurde die Frage angeblicher Ursachen von Homosexualität thematisiert. Die Einstellungen in der deutschen Bevölkerung gegenüber Homosexuellen sind schwer zu fassen. Der überwiegende Teil sah Homosexualität offenbar als minderwertig an. Homosexuelle galten bestenfalls als bemitleidenswert und Homosexualität erschien insgesamt nicht als positiver Lebensentwurf.
Verurteilungen wegen § 175 RStGB
Eine Verurteilung nach § 175 RStGB setzte eine strafbare beischlafähnliche Handlung unter Männern wie Anal-, Oral- und Schenkelverkehr voraus. Gegenseitige Onanie unter Männern war wie auch lesbischer Sex nicht strafbar. Im Jahre 1924 wurden in Deutschland 696 Männer nach § 175 verurteilt. Im Jahre 1924 stiegen die Verurteilungen an, die Zahlen der Verurteilungen wurden in den nächsten zwei Jahren sogar vierstellig und hielten sich auch in den folgenden Jahren auf einem höheren Niveau (Wikipedia). Ein Zusammenhang mit dem aufsehenerregenden Prozess gegen den Serienmörder Fritz Haarmann ist anzunehmen.
Die Presse berichtete zwar regelmäßig über Strafverfahren nach § 175 RStGB, meistens ging es dabei aber nur um trockene Polizeistatistiken, die nicht einmal ansatzweise erahnen lassen, welche rechtlichen und sozialen Folgen die Verurteilten tragen mussten. Es gibt auch aussagekräftigere Meldungen, in denen Namen oder Hintergründe genannt werden, die von Verfahren gegen mehrere Beschuldigte oder sogar gegen Prominente handeln. Einige Meldungen zeigen eindrücklich, wie über homosexuelle Hintergründe berichtet wurde. Auch wenn die folgenden Beispiele nicht unbedingt repräsentativ für die 696 Verurteilungen sind, kann die in einer Zeitung geäußerte Behauptung, dass Homosexualität nur "wie leichter Diebstahl" bestraft werde ("Deutsche Gemeinschaftszeitung", 12. Juli 1921), nicht bestätigt werden.

Die Forderung nach Abschaffung des § 175 in der Autobiografie "Aus dem Tagebuch eines Homosexuellen" (1910) und die Statistik zum § 175 in der Weimarer Republik
Strafmaß und Alter
In der Presse wurde beispielsweise gemeldet, dass Bernhard Bittschutsch aus Duisburg nach § 175 zu neun Monaten Gefängnis ("Rhein- und Ruhrzeitung", 28. April 1924) und Gustav Vollmer aus Herford wegen des gleichen Delikts zum gleichen Strafmaß verurteilt wurde ("Bielefelder Abendzeitung", 26. Oktober 1924). Die sozialen Konsequenzen für die beiden Männer, deren volle Namen in der Zeitung genannt wurden, lassen sich nur erahnen.
Die Höhe des Strafmaßes hatte auch mit dem Alter der Angeklagten zu tun und damit, ob sie vom Gericht als "Verführer" oder "Verführte" wahrgenommen wurden. Dass der 18-jährige Otto Wüll von einem Gericht in Iserlohn "nur" zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wurde ("Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung", 21. August 1924), hatte vermutlich etwas mit seinem Alter zu tun. In einem der wenigen die Homosexualität nicht abwertenden Artikel in der SPD-Zeitung "Vorwärts" (26. November 1924) wird verständnisvoll auf eine angenommene homosexuelle Phase Jugendlicher Bezug genommen und betont, dass die Homosexualität zu den "psychosexuellen Variationen" im Leben von Jugendlichen gehöre, die "vielfach nur als ein Durchgangsstadium der Jugendlichen anzusehen ist".
Zwei große Prozesse in Kleve und Bielefeld
Ende 1924 wurde vor einem Gericht in Kleve gegen fünf Männer wegen Verstößen gegen § 175 RStGB verhandelt. Einer von ihnen war der geständige Buchhalter Gerhard Derks, der sich – erfolglos, aber aus heutiger Sicht recht mutig – "mit seiner perversen Veranlagung" zu entschuldigen versuchte. Derks wurde zu fünf Monaten, die anderen Angeklagten mit Gefängnis von bis zu zehn Monaten verurteilt. Die Gerüchte in Kleve hatten zuvor ein Ausmaß angenommen, das viele "eine Verseuchung des Niederrheines schlimmster Art befürchten" ließ ("Niederrheinische Landeszeitung", 15. November 1924).
Einen Monat später standen vier Männer wegen des gleichen Delikts vor dem Bielefelder Schöffengericht. Die drei "junge(n) Burschen" Willi Welge, Anton Horstkötter und Ernst Schulte seien, so hieß es in der Zeitungsmeldung, dem vorbestraften älteren Kaufmann Franz Keltenich "ins Garn gegangen". Die Öffentlichkeit wurde während des Prozesses wegen "Gefährdung der guten Sitten ausgeschlossen". Weil Franz Keltenich mit seinem "Lebenswandel und Verhalten" die drei "jugendlichen Opfer verdorben und deren Seelen vergiftet" habe, wurde er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Die anderen drei erhielten Gefängnisstrafen von vier Monaten, deren Aussetzung zur Bewährung in zwei Fällen geprüft wurde (u. a. "Westfälische Zeitung", 17. Dezember 1924).
Der Prozess gegen Alexander von Hochberg und Werner von der Schulenburg
Im November 1924 saßen im schlesischen Waldenburg sechs junge Männer wegen § 175 auf der Anklagebank. Dabei ging es um homosexuelle Handlungen zwischen ihnen, die u. a. im "Teehäuschen" der Fürstin von Pless, einem Fachwerkhäuschen in der Nähe des Schlosses Fürstenstein, stattgefunden hatten. Auslöser für das öffentliche Interesse an diesem Gerichtsverfahren war vor allem der Umstand, dass mit Alexander von Hochberg und Werner von der Schulenburg auch zwei Adlige vor Gericht standen. Überregionale Zeitungen berichteten sensationsheischend, zeichneten ein "Bild wüster Orgien" und verwiesen dabei auch auf einen "Lila-Club" im Schloss, in welchem "homosexuellen Neigungen gehuldigt" werde ("Prager Tagblatt", 25. November 1924). Die Farbe Lila war früher die Farbe der Homosexuellenbewegung. Am 21. November 1924 wurden die Urteile verkündet: Fünf der sechs Angeklagten erhielten Gefängnisstrafen von zwei Wochen bis zu zwei Monaten. Zu der mit Abstand höchsten Strafe von einem Jahr Gefängnis wurde der Fleischergeselle Fritz Langner verurteilt. Durch die Art, wie die beiden Adligen im Prozess alle Schuld auf ihn abwälzten und sich als "Verführte" darstellten, drängt sich der Verdacht auf, dass es sich bei Langner um ein "Bauernopfer" handelte, was die Bedeutung der sozialen Stellung vor Gericht verdeutlicht. Kurz nach dem Urteil erhängte sich Langner am 25. November 1924. (Mit Dank an Raimund Wolfert für den Hinweis auf seinen Aufsatz "In memoriam Fritz. We are stardust oder Was bleibt, ist eine Erzählung", in: "Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft", Nr. 68, 2022, S. 49-62.)

Das Fachwerkhäuschen der Fürstin von Pless, das an die Märchen der Brüder Grimm erinnert
Die Verurteilung von Max Maria von Hohenlohe-Langenburg in München
Ausführliche Informationen liegen auch zu Max Maria von Hohenlohe-Langenburg (1901-1943) vor, der wegen homosexueller Handlungen an Minderjährigen, die sich über den Zeitraum von 1921 bis 1923 erstreckten, im Februar 1924 ins Münchner Gefängnis Stadelheim eingewiesen und am 30. April 1924 zu zehn Monaten verurteilt wurde. In den Zeitungen, wie z. B. dem "Ohligser Anzeiger" (8. Mai 1924), wurde vor allem mit Kurzmeldungen über ihn berichtet. Später emigrierte er nach Frankreich und war dort ab 1933 im Widerstand gegen das NS-Regime tätig. Nach seiner freiwilligen Rückkehr nach Deutschland wurde er des Hochverrats beschuldigt und zum Tod verurteilt. Das Urteil wurde im Juli 1943 vollstreckt.
Sexuelle Denunziationen
Die vielen Homosexuellenskandale und die Verurteilungen nach § 175 haben der Bevölkerung bestimmt eindrucksvoll gezeigt, wie effektiv sexuelle Denunziationen sein konnten und dass manchmal schon ein Verdacht ausreichte, um eine missliebige Person zu schädigen. Mittlerweile gibt es mehrere Sachbücher, die sich mit sexuellen Denunziationen beschäftigen und die aufzeigen, dass die Motivation für eine solche Tat in politischen Interessen, privaten Konflikten und anderen individuellen Motiven bestehen kann.
Privat motivierte sexuelle Denunziationen

Der Denunziant und Hochstapler Adolf Pochwadt
Für privat motivierte Denunziationen lassen sich aus dem Jahr 1924 einige Beispiele aus der Presse aufzeigen: Unter der Überschrift "Die Karriere eines Hochstaplers" wurde ausführlich und sogar mit einer Zeichnung über Adolf Pochwadt berichtet. Er habe seinen eigenen Stiefbruder offenbar nur deshalb wegen Homosexualität angezeigt, weil dieser zuvor gegen ihn in einem Verfahren wegen Betruges ausgesagt habe ("Die Stunde", 3. September 1924, S. 3-4).
In einem anderen Fall wehrte sich ein Mann erfolgreich gegen seinen Nachbarn. Am 9. September 1924 wurde dieser namentlich nicht genannte Nachbar zu einer Geldstrafe von 100 Mark verurteilt, weil er den anderen zu Unrecht der "widernatürlichen Unzucht" beschuldigt habe (u. a. "Westfälische Neueste Nachrichten", 11. September 1924).
Bei einer Angabe in der "Westfälischen Zeitung" (13. Mai 1924), dass ein Betrüger und falscher Prinz "übrigens in homosexuellen Kreisen verkehrte", sehe ich Parallelen zu ebenfalls beiläufig wirkenden Erwähnungen eines "homosexuellen Milieus" in späteren Jahrzehnten, die ebenfalls zur Diskreditierung von Menschen beitragen sollten.
In Österreich verbreitete ein namentlich nicht genannter Aristokrat die "Tratschnachricht", dass Erich Salm-Reifferscheid homosexuell sei, woraufhin dieser am 9. Mai 1924 eine Strafanzeige gegen sich selbst stellte, damit die Polizei in diesem Fall ermitteln sollte. Zum Ausgang der Ermittlungen liegen keine Angaben vor. Eine Strafanzeige Salm-Reifferscheids wegen Verleumdung wurde vom Gericht zurückgewiesen (u. a. "Die Stunde", 4. Juni 1924). Selbst wenn sich die Beschuldigungen später als falsch herausstellten, bleibt die Frage, ob von den Gerüchten etwas hängenblieb, das den betreffenden Personen schadete.
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Politisch motivierte sexuelle Denunziationen
Politisch motivierte Denunziationen waren in einigen Fällen von dem hehren Wunsch getragen, aktiv gegen Nazis vorzugehen. Das bekannteste Beispiel dafür ist der SA-Führer Ernst Röhm, der in den Dreißigerjahren denunziert wurde. Aus dem Jahr 1924 sind weniger bekannte Beispiele überliefert. So wies die politisch linke Presse darauf hin, dass die Hannoveraner "Hakenkreuzler" Ulrich, Lauterbach und Ochsemann aus ihrer Partei ausgeschlossen werden sollten, weil sie in homosexuellen Kreisen verkehrten. Lauterbach soll zudem junge Leute zu "Unsittlichkeiten" verführt haben ("Arbeiterzeitung", 22. August 1924).
Nähere Informationen liegen über den Nationalsozialisten Franz Kirschthaler aus München vor, der wegen Verstößen gegen den § 175 bereits im November 1923 zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Mehrere Zeitungen wiesen darauf hin, dass er 1924 erneut "wegen widernatürlicher Unzucht zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt" wurde ("Volkswille", 2. Dezember 1924). Eine dritte Verurteilung folgte 1935 wegen "tätlicher Beleidigung mit homosexuellem Hintergrund zum Nachteil eines Jugendlichen" (s. Bernd-Ulrich Hergemöller: "Mann für Mann", 2010, 2. Bd., S. 654). Richard Köhler war 1924 als völkischer Spitzenkandidat für die Reichstagswahlen im Wahlkreis Frankfurt/Oder aufgestellt worden. Vier österreichische Zeitungen (u. a. "Arbeiterzeitung", 6. Dezember 1924) wiesen auf seine Verhaftung wegen § 175 hin. Diese Zeitungsmeldungen stellen Versuche dar, einen Menschen wegen seiner Homosexualität zu denunzieren. Dies könnte als legitim angesehen werden, wenn damit auf die Doppelmoral von Nazis hingewiesen und die Ungerechtigkeit des § 175 betont werden würde. Die Artikel verfolgten aber offenbar nur die Absicht, schwule "Hakenkreuzler" und Homosexualität miteinander in Verbindung zu bringen und als unmoralisch hinzustellen.
Politisch motivierte sexuelle Denunziationen richteten sich auch gegen Sozialdemokraten. Franz von Puttkamer (1890-1937) spähte als politischer Aktivist für die sozialdemokratische Presse die völkische Bewegung in München aus, geriet ins Visier der Polizei und kam ungerechtfertigterweise oft in Haft. Die sozialdemokratische "Volkswacht" (14. Juli 1923) verwies darauf, dass er auch unter dem Vorwand "widernatürlicher Unzucht" festgenommen wurde, um ihn damit "unschädlich zu machen". In diesem Zusammenhang nutzte die "Volkswacht" die Gelegenheit, um sich deutlich gegen den "barbarischen Paragraphen" 175 RStGB zu positionieren. Eine seltene Stellungnahme in der Zeit nach Haarmanns Verhaftung, die bei einem schwulen Nazi wohl nicht geäußert worden wäre.
Mehr zum Thema:
» Einführung: Schwules Leben vor 100 Jahren (30.12.2023)
» Folge 1: Politik und Unrecht (31.12.2023)
» Folge 2: Skandale und Gewalt (07.01.2024)
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