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Verbände schlagen Alarm

Erschreckender PrEP-Mangel: "Anstieg der Neuinfektionen unvermeidlich"

Die Prophylaxe PrEP ist eine Waffe im Kampf gegen HIV-Neuinfektionen unter Schwulen. Doch das Medikament ist kaum noch zu haben.


Die Wirkstoffkombination aus Emtricitabin und Tenofovirdisoproxil ist in Deutschland Mangelware (Bild: Tony Webster / wikipedia)
  • 16. Januar 2024, 13:28h 4 Min.

"Es gibt in Deutschland nicht mehr genug Medikamente zur HIV-Prophylaxe, um alle Nutzer*innen zu versorgen." Das teilte die Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin (dagnä) am Dienstag mit. Der Verein zitiert dabei aus einer selbst durchgeführten Umfrage: Demnach meldeten knapp 90 Prozent der HIV-Schwerpunktpraxen, dass sie von den Lieferengpässen der Wirkstoffkombination Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil betroffen seien – also dem einzigen Mittel, das in Deutschland für die HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) zugelassen ist.

Knapp über die Hälfte der Praxen gab an, dass nur noch reduzierte Packungsgrößen herausgegeben werden könnten. Mehr als ein Drittel meldete, dass PrEP-Nutzer die regelmäßige Einnahme der Mittel unterbrechen mussten. Weil das Medikament auch in der Behandlung von Menschen mit HIV eingesetzt wird, meldeten mehr als ein Viertel der Praxen, dass wegen des Mangels auch laufende HIV-Therapien umgestellt werden mussten.

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Scharfe Kritik am Bundesgesundheitsministerium

"Wir sind an dem Punkt, vor dem Praxen und Apotheken seit Monaten warnen", sagt dagnä-Vorstandsmitglied Stefan Mauss. Das Bundesgesundheitsministerium von Minister Karl Lauterbach (SPD) sei seitens der Berufsverbände bereits im November über die drohenden Lieferprobleme informiert worden, eine Reaktion des Ministeriums sei nicht erfolgt. "Es wirkt so, als kümmere sich das Bundesgesundheitsministerium nicht um das Problem", so Mauss.

Da sich in Deutschland aktuell knapp 40.000 Menschen mit der PrEP vor HIV schützen, sei laut Mauss angesichts des Mangels "ein Anstieg der Neuinfektionen unvermeidlich" – das bedeute einen "Rückschlag für die jahrelange erfolgreiche Präventionsarbeit". Besonders bedrohlich könne die Situation für HIV-positive Menschen werden, die Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil im Rahmen einer sogenannten Salvage-Therapie einnehmen, also wenn andere Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind. Ihnen fehle plötzlich ein lebenswichtiges Medikament. "Der Schaden ist groß", sagte Mauss.
 
Im Rahmen eines digitalen runden Tisches mit Vertretern der dagnä, der Deutschen Aidshilfe (DAH), der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) und der Arbeitsgemeinschaft HIV-kompetenter Apotheken (DAHKA) hat ein Sprecher des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Ende vergangener Woche den Ernst der Lage bestätigt. So gibt es offizielle Lieferengpässe von Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil laut BfArM bei drei Herstellern, die zusammen 71 Prozent des Marktes abdecken; Ratiopharm mit einem Marktanteil von 56 Prozent hat anhaltende Lieferschwierigkeiten bis mindestens März genannt – das sei nicht mehr durch andere kompensierbar. Nun wolle das Bundesinstitut prüfen, ob Hersteller im Ausland wirstoffgleiche Medikamente mit europäischer Zulassung für den Gebrauch in Deutschland verfügbar machen können. Jetzt dürfe nicht noch mehr Zeit verloren werden, mahnte Mauss an.
 
Nach Einschätzung von DAHKA-Vorstand Erik Tenberken ist die Lage noch dramatischer als die Zahlen des Bundesinstituts suggerierten: "Aktuell beliefert uns keiner der einst 14 Hersteller in gewohnten Umfang; zwei Unternehmen haben die Produktion ganz eingestellt", sagte er.

Keine Lieferungen aus europäischem Ausland zu erwarten

Dass der Mangel in Deutschland von Herstellern im europäischen Ausland kompensiert werden könne, halten Mauss und Tenberken für unwahrscheinlich. "Die Lage ist nirgendwo so dramatisch wie in Deutschland, aber in den Nachbarländern können meist auch nur die Heimatmärkte bedient werden", sagt Tenberken. So haben auch Schweden, Belgien und Spanien gemeldet, dass einige Hersteller nicht lieferten. Dass Apotheken im Fall von Lieferengpässen auch teurere, wirkstoffgleiche Mittel an Kassenpatient*innen abgeben können – etwa das Originalmedikament Truvada von Gilead – ist für Tenberken "hilfreich, aber eher ein Tropfen auf den heißen Stein". Gilead habe zwar angekündigt, die Produktion zu erhöhen, doch viele Apotheken dürften Truvada nur zögerlich bestellen, weil sie auf den Kosten sitzen bleiben könnten, wenn wieder günstige Generika verfügbar seien. "Hier ist der Gesetzgeber gefordert, dass den Apotheken kein Risiko entsteht."
 
Dagnä, DAIG, DAHKA und DAH erarbeiten aktuell gemeinsam Strategien, um die Versorgung so gut wie möglich aufrechtzuerhalten: etwa neue Dreimonatspackungen zu stückeln oder Patient*innen auf die Möglichkeit einer anlassbezogenen PrEP hinzuweisen, die weniger Tabletten erfordert, allerdings nicht für alle Nutzer als geeignet gilt.

Jetzt ist Politik am Zug

Alle Beteiligten betonen, dass die Verantwortung nun vor allem bei der Politik liege. "Die PrEP ist ein wesentlicher Bestandteil der HIV-Prävention – wenn dieser Schutz vor HIV weiter ausfällt, wird das fatale Auswirkungen haben", sagt Sven Warminsky vom Vorstand der Deutschen Aidshilfe. Dass auch Therapien HIV-positiver Menschen nicht mehr gewährleistet sind, sei erst recht nicht hinnehmbar. "Die Politik darf Menschen, die dieses Medikament dringend brauchen, nicht im Stich lassen." (pm/dk)

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