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Kritik an Erinnerungskultur

Alexander Zinn: Bundestag ehrte schwulen "Missbrauchstäter"

Letztes Jahr ehrte der Bundestag erstmals queere Opfer des Nazi-Regimes. Historiker Alexander Zinn glaubt jedoch, dass dabei einige Fehler unterlaufen seien.


Im Deutschen Bundestag wurde letztes Jahr an Karl Gorath (1912-2003) erinnert. Laut Alexander Zinn ist er aber kein gutes Beispiel für ein Paragraf-175-Opfer (Bild: Deutscher Bundestag)

  • 18. Januar 2024, 13:47h 3 Min.

Der Berliner LGBTI-Aktivist, Historiker und Soziologe Alexander Zinn hat in einem am Dienstag veröffentlichten Beitrag für die "Welt" (Bezahlartikel) die deutsche Erinnerungskultur an queere Verfolgte der Nazi-Diktatur scharf kritisiert. Er bemängelte besonders, dass der Bundestag zur Holocaust-Gedenkstunde vor einem Jahr mit Mary Pünjer (1904-1942) und Karl Gorath (1912-2003) zwei Personen als Verfolgte des Dritten Reiches geehrt hatte, deren Lebensgeschichten nicht so eindeutig seien, wie es bei der Veranstaltung dargestellt worden sei. Damals lasen die queeren Schauspieler*innen Maren Kroymann und Jannik Schümann im vollbesetzten Bundestag vom Historiker Lutz van Dijk verfasste Texte vor, in denen an Pünjer und Gorath erinnert wurde.

Zinn bezeichnete Gorath in der "Welt"-Überschrift als "Missbrauchstäter", der "nicht wegen einvernehmlicher Homosexualität nach Paragraf 175 verurteilt worden [ist], sondern wegen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen nach den Paragrafen 176 und 175a". So sei aus seinen Zuchthausakten hervorgegangen, dass er 1934 erstmals wegen "unzüchtiger Handlungen" mit Kindern schuldig gesprochen worden sei. Fünf Jahre später folgte die zweite Verurteilung, weil er einen 15-Jährigen sexuell bedrängt haben soll – beides waren freilich Urteile von Nazi-Richtern, die kaum rechtstaatliche Prinzipien anwendeten.

Im Fall von Mary Pünjer sei laut Zinn nicht bewiesen worden, dass sie wegen "lesbischen Verhaltens" angeklagt worden sei. "Das ist frei erfunden, denn zu Pünjers Verhaftung sind keine Dokumente überliefert", so der Historiker. Zwar habe ein KZ-Arzt notiert, dass die "verheiratete Volljüdin" auch "lesbische Lokale" aufgesucht habe, allerdings sei das wohl nicht der Grund für ihre Verhaftung gewesen.

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"Einige NS-Opfer sind zuvor auch selbst zu Tätern geworden"

"Der Historiker Lutz van Dijk, der die Gedenkfeier initiiert, in langjähriger Lobbyarbeit durchgesetzt und auch die Redetexte zu Gorath und Pünjer verfasst hat, hat den in der NS-Zeit verfolgten Homosexuellen damit einen Bärendienst erwiesen", so Zinn. "Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Deportation in Konzentrationslager war immer Unrecht, egal aus welchen Gründen sie geschah. Im Gedenken jedoch kann man nicht einfach ignorieren, dass einige NS-Opfer zuvor auch selbst zu Tätern geworden waren."

Laut Zinn seien "gewöhnliche Homosexuelle in der Regel nicht von KZ-Einweisungen betroffen" gewesen, sondern "vor allem sogenannte 'Jugendverderber', Strichjungen und 'Berufsverbrecher'". Die Aufarbeitung von Schwulenorganisationen sei von "Übertreibung und Dramatisierung" geprägt gewesen. "Damit einher ging die Neigung, bei der Aufarbeitung von Opferbiografien 'unschöne' Aspekte auszublenden. So etwa Vorstrafen wegen Jugendverführung, Kindesmissbrauchs oder anderer krimineller Delikte, die auch heute strafbar wären", so Zinn.

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Zinn kritisiert Erinnerungskultur schon länger

Zinn, der unter anderem die Website rosa-winkel.de betreibt, hatte in den letzten Jahren immer wieder die Erinnerungskultur in Deutschland kritisiert und angezweifelt, dass lesbische Frauen von den Nazis gezielt verfolgt worden sind. 2018 kam es zu einem Eklat, weil Zinn von der "Legende einer Lesbenverfolgung" im Nationalsozialismus sprach (queer.de berichtete). Tatsächlich hat der berüchtigte Paragraf 175 nur Homosexualität bei Männern geahndet; viele Aktivist*innen argumentieren jedoch, dass homosexuelle Frauen ebenso gezielt verfolgt worden seien, etwa als "Asoziale".

Letztes Jahr kritisierte Zinn bereits in einem "Welt"-Interview (Bezahlartikel) die Gedenkstunde im Bundestag, weil dort von "queeren Opfer des Nationalsozialismus" die Rede war: "Aus historischer Perspektive ist das Quatsch. Dieser Begriff war in Deutschland bis in die 1990er-Jahre weitgehend unbekannt. Das verweist auf ein Grundproblem des Gedenkens. Wir schauen aus der heutigen Perspektive auf die Geschichte und interpretieren hinein, was uns wichtig ist." In sozialen Medien gab es damals scharfe Kritik. So wurde dem Historiker "Leugnung der Verfolgung" vorgeworfen. (dk)

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