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Sammelband

"Mein lesbisches Auge 23": Tief bewegende Texte und ein wenig Transphobie

Die neue Ausgabe von "Mein lesbisches Auge" ist teilweise schmerzhaft zu lesen – und das nicht nur, weil das Thema Einsamkeit lautet.


Einsam trotz Katze: Illustration aus der neuen Ausgabe von "Mein lesbisches Auge" (Bild: Konkursbuch Verlag)
  • Von Corinna Saal
    20. Januar 2024, 08:29h 8 Min.

Die aktuelle Ausgabe des jährlich erscheinenden Sammelbands "Mein lesbisches Auge" dreht sich rund um das Thema "Einsamkeit". Das ist wirklich kein leichtes Thema. Laut den Herausgeberinnen habe sich dies schon bei den Einsendungen gezeigt: Es waren zu Beginn deutlich weniger, dafür aber mehr anonyme Einsendungen als sonst.

Einsamkeit ist für viele ein mit Schmerz behaftetes Thema und dann auch noch ein sehr aktuelles, wie Claudie Gehrke (Verlegerin) und Regina Nössler (Lektorin und Redakteurin) in ihrem Vorwort schreiben: "Nach einer aktuellen Studie (2023) fühlt sich rund ein Viertel der Erwachsenen in Deutschland einsam – 21 Prozent der zwischen 60- und 69-Jährigen und sogar 26 Prozent der Jüngeren zwischen 18 und 59. Abgesehen davon, dass keine über 70-Jährigen befragt wurden, widerspricht das einem gängigen Klischee, dass nämlich Einsamkeit vorrangig ein Problem zurückgezogen lebender Älterer ohne Kontakte zur Außenwelt sei. Und natürlich sagt diese Studie nichts über Einsamkeit speziell in lesbischen und queeren Kreisen aus."

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Einsamkeit – ein schmerzhaftes Thema


"Mein lesbisches Auge 23: Einsamkeit" ist als 320 Seiten starkes Softcover für 16,80 Euro erhältlich

Das übernimmt dafür "Das lesbische Auge" mit den verschiedensten Beiträgen – von mal mehr, mal weniger eindrücklichen Fotografien über klanghafte und auch klanglose Lyrik hin zu Kurzgeschichten, die verschiedenste Einblicke in die Thematik geben.

Schmerzhaft ist es, sich das Porträt "Bullet in The Head" von Xenia Hausner oder auch das Foto von Lilith Terra anzuschauen. Es steckt so viel Verzweiflung in der Einsamkeit, die hier gezeigt wird. Unter der Poesie sticht vor allem Lucia Billers "Blackoutpoetry" hervor. Diese gibt bereits verewigten Worten nicht nur eine neue (einsame) Bedeutung, sondern auch bildlich was her. Dabei passen die Gedichte besonders gut zum Thema Einsamkeit, da die einzelnen Worte auf den geschwärzten Seiten fast schon verloren wirken.

Beim Lesen nicht weniger der Kurzgeschichten musste auch ich mich mit dem Schmerz, den die Einsamkeit hervorrufen kann, konfrontiert sehen. Mal, weil eine Geschichte mich an einen schmerzhaften Moment in meinem Leben erinnerte. Mal, wenn die Geschichte so mitreißend wurde, dass ich alles um mich herum vergaß und in die Einsamkeit der Protagonist*­innen eintauchte.

Zu diesen mitreißenden Texten gehörten für mich etwa "Der Erste" von Malou Berlin, "Nachrichten" von Ariane Rüdiger und "Das Zimmer am Ende der Welt" von Jeannette Oertel. Die Lektüre dieser und auch der anderen Kurzgeschichten ist nicht immer leicht. Denn sie halten dem*der Leser*in den Spiegel vor. Erinnern an unliebsame Lebensmomente oder konfrontieren mit der eigenen Einsamkeit. Nicht selten haben die Texte in mir unbequeme Fragen hervorgerufen, die ehrlich zu beantworten sehr schmerzhaft sein kann.

Eine Geschichte über Einsamkeit, die wehtut

Eine Geschichte, die besonders schmerzhaft, aber umso eindrucksvoller zu lesen ist, wird schon im Vorwort bemerkt: "Wir freuen uns, dass eine der Autorinnen, Viola Voigt, ihren Text nach Sylvia Plaths Roman "Die Glasglocke" benannt hat." In "Die Glasglocke" beschreibt Viola Voigt den schmerzhaften Kampf gegen den Krebs und die damit einhergehende Depression. Es tut weh, diesen Text zu lesen. Schmerz ist eine allzu vertraute Begleitung von Einsamkeit. Depression und Krankheit wohl auch. Es sind allesamt Tabuthemen. Themen, über die wir in unserer Gesellschaft wenig bis gar nicht reden. Wir haben verlernt, mit Schmerz umzugehen und verdrängen ihn daher.

Deswegen ist diese Kurzgeschichte so wundervoll. Es tut weh, sie zu lesen und die Lektüre zwingt uns dazu, uns mit dem Thema Schmerz auseinanderzusetzen. Nicht nur, weil die Inhalte mit Schmerz verbunden sind, sondern auch, weil die Protagonistin Schmerz erfährt. Der Text macht auf sehr eindrucksvolle Art zugänglich, wie Schmerz und Depression sich miteinander paaren und wie Menschen darunter leiden. Wie sehr eine Depression und/ oder Schmerz uns vom Leben abhalten können. Wie schwer selbst der Toilettengang wird. Wie furchtbar man sich fühlt, wenn man nicht einmal den eigenen Anblick im Spiegel erträgt – und trotzdem jedes Mal guckt.

Ein Schmerz, der aus den Widersprüchen bei der Lektüre entsteht

Schmerzhaft ist es auch beim Lesen der Kurzgeschichten in "Mein lesbisches Auge 23" die Widersprüche zu ertragen, die in den Texten stecken.

In einem sehr eindrucksvollen und persönlich klingenden Text mit dem Titel "Träum weiter" beschreibt Bettina Mankowski die schmerzhafte Einsamkeit, wenn man als nichtbinäre Person diskriminiert wird. Dabei schildert Mankowski nicht nur, wie die Person aus ihrer Erzählung als das "Abnormale" von der heteronormativen Gesellschaft ausgeschlossen wird. Sondern auch, wie die Hauptfigur in queeren Kreisen aneckt, weil ihr einmal aus Unachtsamkeit das falsche Pronomen entwischt.

Das Erfrischende daran, die nichtbinäre Person weiß um ihren Fehler, steht dazu und entschuldigt sich. Anstatt sich herauszureden, heißt es im Text: "Meine Verantwortung werde ich tragen und will mich nicht mit einem halben Jahrhundert herausreden, in dem anders gesprochen wurde, oder dass ich 'alt' bin." Doch der Text plädiert eindeutig dafür, dass Fehler machen, erlaubt sein muss.

Und das finde ich absolut richtig, denn nur so können wir lernen. Wenn die Angst davor Fehler zu machen, uns dermaßen lähmt, dass wir zum Beispiel das Gendern nicht ausprobieren oder gar nicht mehr über eine Person reden aus Angst vor den falschen Pronomen, dann ist das nicht nur schade, sondern gefährlich. Denn es hindert einen Prozess, den unsere Gesellschaft so dringend benötigt: eine gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Sprache zu entwickeln.

Schmerzhaft, weil ärgerlich und diskriminierend, ist der Text "Einst waren die Gedanken frei, jetzt wandern sie in meinem Kopf herum". Er ist anonym geschrieben – und das aus gutem Grund. Der Text ist das lautstarke "Mimimi" einer Person, die eine mehrfache Diskriminierung erfährt (Frau, lesbisch, behindert, Alter) und deren ohnmächtige Wut sich in die falsche Richtung entleert. Anstatt den Fehler im (patriarchalen und kapitalistischen) System zu sehen, tritt die Autorin nach unten. Auf Personen, die noch stärker diskriminiert werden: "Ich sehe Männer, die behaupten, Frauen zu sein, und Lesben, Frauen, Frauen, Lesben, die mit Unterwerfung und Schuldgefühlen reagieren, weil diese doch so 'arm dran' seien. Ich sehe Freundinnen, Kolleginnen, die aus Jobs gemobbt werden, weil sie es wagen, öffentlich ihre Meinung zu sagen."

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Die für viele schmerzhafte Wahrheit über die eigene Meinung

In dieser ständig weiter nach rechts rückenden Welt (die wahre Gefahr für Frauen*, queere Personen, Menschen mit Behinderung und PoC) ist es mir wichtig, das an dieser Stelle ausdrücklich zu schreiben: Rassismus ist keine Meinung. Diskriminierung ist keine Meinung. Hass ist keine Meinung. Wenn diese Freundinnen und Kolleginnen den Job verlieren, dann, weil sie, wie auch die anonyme Autorin des Textes Hassrede mit einer gehaltvollen Meinung verwechseln – oder nicht einsehen wollen, dass sie aus Hass sprechen.

An anderer Stelle heißt es im Text: "Viele, viele, Heteras und Lesben, meinen, dass 'wir' – Frauen – es denen, die noch unterdrückter seien als Frauen, schulden, auf unsere 'Privilegien' als Frauen zu verzichten."

An dieser Stelle ist es wichtig zwischen Privilegien und Rechten zu unterscheiden. Denn ja, Frauen haben wenige Privilegien. Weiße, hetero cis Frauen aber definitiv mehr, als Frauen* mit Mehrfachdiskriminierung. Und diese Privilegien beruhen auf der Ausbeutung diskriminierter Randgruppen. Das ist nicht ok. Und ja, es tut weh, Privilegien abzugeben. Deswegen heulen ja die ganzen alten weißen cis Männer rum, dass man(n) nichts mehr sagen darf. Aber Privilegien sind keine Rechte!

Und der (intersektionale) Feminismus will ganz sicher nicht, dass Frauen anfangen, auf erkämpfte Rechte zu verzichten. Aber es ist sehr wohl unsere Verantwortung für andere Randgruppen mitzukämpfen. Schließlich stehen trans Personen seit Beginn der Protestbewegungen an vorderster Front. Und das, obwohl ihnen von rechter und TERF-Seite fälschlicherweise immer wieder Gewalt gegen Frauen vorgeworfen wird und das vollkommen unbegründet, wie es auf Gegen-antifeminismus.de heißt: "Aus Ländern, in denen bereits ein selbstbestimmter Geschlechtseintrag möglich ist, gibt es keinerlei Hinweise auf Missbrauch oder einen damit zusammenhängenden Anstieg von Gewalt gegen (cis) Frauen. Die Annahme, dass cis Männer das Selbstbestimmungsgesetz zur Änderung ihres Geschlechtseintrages nutzen, um Zugang zu Frauenhäusern zu erlangen und dort Gewalt auszuüben, ist absurd. Gewalt gegen Frauen wird zum überwiegenden Teil durch cis Männer ausgeübt, die sich dabei selten an gesetzlich vorgeschriebene Beschränkungen orientieren."

Im Gegenteil, weiter heißt es, dass trans Personen besonders häufig von Gewalt betroffen sind, wie auch in diesem anonym verfassten Text, der cis Frauen vorwirft, "Männer, die behaupten, Frauen zu sein (…)." zu sein: "Trans Personen sind selbst besonders häufig von sexualisierter und körperlicher Gewalt betroffen. Die Fundamental Rights Agency (FRA) kam in einer Studie 2020 zu dem Ergebnis, dass trans Menschen in Europa in den letzten fünf Jahren im Vergleich zu anderen queeren Personen deutlich mehr sexualisierte Gewalt und Belästigung erfahren haben. Die Anfeindungen sind so stark und allgegenwärtig, dass sie eine tatsächliche Auseinandersetzung mit (sexualisierter) Gewalt gegen trans Personen verhindern. Dies führt dazu, dass der Ausbau von Unterstützungsstrukturen für trans Gewaltbetroffene gehemmt wird."

Die Ausgrenzung, Diskriminierung und Gefährdung, derer trans Menschen täglich ausgesetzt sind, führt sogar dazu, dass trans Jugendliche und Kinder häufiger Suizid verüben als heterosexuelle cis Kinder und Jugendliche (queer.de berichtete).

In "Schwertlilien können singen" beschreibt Waltraud Schwab eindrücklich, wie die Trauer darüber aussieht, wenn eine geliebte trans Person sich das Leben nimmt. Es ist schmerzhaft, so einen sanften, liebevollen und voller Trauer steckenden Text im gleichen Sammelband zu wissen, in dem auch einem transphoben Narrativ Raum gelassen wurde.

Infos zum Buch

Laura Méritt (Hrsg.): Mein lesbisches Auge 23: Einsamkeit. Mit Beiträgen u.a. von Waltraud Schwab, Malou Berlin, Sabine Brandl, Lilli Limonius, Julia Dankers und Ulrike Voss. 320 Seiten. Konkursbuch Verlag. Tübingen 2023. Taschenbuch: 16,80 € (ISBN 978-3-88769-923-9)

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