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Folge 6 von 10

Schwules Leben vor 100 Jahren: Die Zeitschriften der Szene

In der Weimarer Republik gab es rund 20 Homosexuellen-Zeitschriften. Einige von ihnen erschienen auch im Jahr 1924. Konnte man sie am Kiosk kaufen und Kontaktanzeigen aufgeben?


"Der Eigene" – "ein Blatt für männliche Kultur" (so einer der Untertitel) – war die erste Homosexuellen-Zeitschrift der Welt, die von 1896 bis 1932 von Adolf Brand (1874-1945) herausgegeben wurde

Die Homosexuellen-Zeitschriften der Weimarer Republik

Als Beispiel für die neuen Freiheiten der Weimarer Republik wurde und wird oft die große Anzahl der Homosexuellen-Zeitschriften genannt. Dies ist nur bedingt richtig, weil es sich bei einigen dieser Zeitschriftentitel nur um Titeländerungen handelt ("Die Insel" → "Das Freundschaftsblatt"). Zudem wurden und werden manchmal auch Titel erwähnt, die als Sondernummer ("Die Tante") oder Beilage ("Merkur") bibliografisch keine Aufnahme als Zeitschriftentitel rechtfertigen. In einigen Fällen handelt es sich um rechtlich erzwungene Titeländerungen ("Der Freund", "Garçonne", "Ledige Frauen"), die Zensur und eben kein breites Zeitschriftenangebot belegen. Stefan Micheler ("Selbstbilder und Fremdbilder der 'Anderen'. Männer begehrende Männer in der Weimarer Republik und der NS-Zeit", 2004, S. 52) weist darauf hin, dass die Hamburger Gewerbepolizei 1924 sogar ein Verkaufsverbot für verschiedene Homosexuellen-Zeitschriften verhängte. Trotzdem gilt, dass diese Zeitschriften von der Vielfalt und von der Zielgruppe her eine bedeutende Weiterentwicklung, verglichen mit dem nur begrenzten Zeitschriftenangebot der wilhelminischen Zeit, darstellten. Sie sind heute wichtige historische Quellen, die die mannigfaltigen emanzipatorischen Bestrebungen der Zeit belegen.

Vermutlich erschienen in der Zeit der Weimarer Republik rund 20 verschiedene Zeitschriften für Homosexuelle, wobei ich vier kurzlebige Ableger der Zeitschrift "Der Eigene" (s. u.) nicht mitgezählt habe. Es geht um Zeitschriften wie "Blätter idealer Frauenfreundschaft" (1926-1927), "Das 3. Geschlecht" (1930-1932), "Eros" (1926-1932), "Frauenliebe" (1926-1931), "Freundschaft und Freiheit" (1921), "Neue Freundschaft" (1928), "Die Sonne" (nur ein Heft von 1920 überliefert) und "Uranos" (1921-1922; der 1. Jg. ist als Reprint verfügbar). Die wichtigste Publikation des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) war das "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" (1899-1923), das jedoch nur bis 1923 erschien und eine Lücke hinterließ, die auch mit den "Mitteilungen des WHK" (1926-1933) nicht gefüllt werden konnte. Die Homosexuellen-Zeitschriften, die im Jahr 1924 erschienen, stelle ich nachfolgend etwas ausführlicher vor. "Die Freundin" (1924-1933) – also die erste lesbische Zeitschrift der Welt und die einzige des Jahres 1924 – werde ich in der nächsten Folge vorstellen.

"Blätter für Menschenrecht" – die Vereinszeitschrift des Bundes für Menschenrecht

Die "Blätter für Menschenrecht" (BfM, 1923-1933) wurden von Friedrich Radszuweit herausgegeben. Er war Vorsitzender des "Bundes für Menschenrecht", die BfM waren seit dem ersten Erscheinen das Organ dieses Vereins und setzten sich dementsprechend ebenfalls für die Rechte Homosexueller ein. Die BfM gehörten zu den wenigen Homosexuellen-Zeitschriften, die aus unbekannten Gründen nie mit der Zensur zu kämpfen hatten.

Friedrich Radszuweit war stets um die Vergrößerung seines Zeitschriftenangebotes bemüht. Am 4. April 1924 erschien erstmals die Beilage "An sonnigen Ufern. Wöchentliche Unterhaltungsbeilage des B.f.M.", wobei angekündigt wurde, dass diese Beilage demnächst auch als selbstständige Zeitschrift erscheinen sollte. Von der eigenständigen Zeitschrift "An sonnigen Ufern. Monatsschrift der Blätter für Menschenrecht" liegen jedoch bis Ende 1924 nur einzelne fragmentarische Ausgaben vor (u. a. Heft 16 vom 17. Oktober 1924), die keine genaueren Angaben zulassen.

"Der Eigene" – die erste Homosexuellen-Zeitschrift der Welt

Von Adolf Brands historisch bedeutsamer Zeitschrift "Der Eigene" (1896-1906, 1919-1932) geht eine große Faszination aus, weil sie – spätestens mit dem Jahrgang 1898 – die erste regelmäßig erscheinende Homosexuellen-Zeitschrift der Welt war. Es ist der Berliner Humboldt-Universität zu verdanken, dass diese Zeitschrift mittlerweile auch digitalisiert online vorliegt. Während des Jahres 1924 sind sechs Hefte in acht Nummern erschienen (Doppelnummern 1/2, 7/8), in denen belletristische Texte, Aufsätze und Aktbilder veröffentlicht wurden. "Der Eigene" zeigte sich in diesem Jahr "kämpferischer und politischer" als in den Jahren zuvor (Marita Keilson-Lauritz: "Die Geschichte der eigenen Geschichte", 1997, S. 133).

Mit seiner Zeitschrift "Der Eigene" hatte Brand viel mit der Zensur zu kämpfen. Der von Brand gegründete Lesezirkel der "Gemeinschaft der Eigenen" sollte davor einen gewissen Schutz bieten. Diese Absicht erklärt auch die Zeitschriftenableger "Gemeinschaft der Eigenen" (1904-1907, 1919-1925), "Extrapost des Eigenen" (1911-1912), "Freundschaft und Freiheit" (1921-1922) und "Eros" (1926-1932), die leider nicht digitalisiert wurden. Eine Auswertung des Jahrgangs 1924 wäre nur bei der Zeitschrift "Gemeinschaft der Eigenen" möglich gewesen (7. Jg., 1924/1925). Weil jedoch viele Hefte aus diesem Jahrgang nicht mehr existieren, habe ich das unterlassen.

"Die Fanfare" – ab 1924 eine Zeitschrift für freies Menschentum

"Die Fanfare" (1924-1926) trug anfänglich den Zusatz "für freies Menschentum". Später wurde aus der Zeitschrift laut ihrem Untertitel "Das Magazin für Junggesellen". Sie war stark literarisch geprägt, orientierte sich an Berlin und stand vermutlich dem Berliner "Theater des Eros" nahe. Neben politischen und kulturellen Beiträgen erschienen hier auch Kleinanzeigen, darunter vorsichtig formulierte Kontaktanzeigen.

Aus dem Jahrgang 1924 habe ich viele Hinweise auf Neueröffnungen von Bars und auf Vorträge entnommen. Einige Artikel verweisen auf Auseinandersetzungen zwischen der Redaktion und dem "Bund für Menschenrecht" bzw. dessen Vorsitzendem Friedrich Radszuweit. Enge Verbindungen gab es zu Magnus Hirschfeld, der anlässlich seines 56. Geburtstags im Mai 1924 als die "Seele unserer Bewegung" bezeichnet wird ("Die Fanfare", 1924, Heft 19). Begründer und Herausgeber des in Berlin erschienenen Blattes war Curt Neuburger, der seine Zeitschrift vermutlich in Zusammenhang mit Zensurmaßnahmen einstellen musste.

"Die Freundschaft" – die über Jahre wichtigste Homosexuellen-Zeitschrift

"Die Freundschaft" (1919-1933), herausgegeben vom "Deutschen Freundschaftsverband", erschien zuerst am 13. August 1919 mit einer Startauflage von 20.000 Exemplaren als erste neue Homosexuellen-Zeitschrift der Weimarer Republik. Die Redaktion war offen für Lesben, aber es waren hauptsächlich Männer, die diese Zeitschrift gestalteten. Heute wird sie zumindest für die Zeit bis 1922 als wichtigste Homosexuellen-Zeitschrift dieser Zeit angesehen, danach verlor sie ihre zentrale Bedeutung als Sprachrohr der Homosexuellenbewegung. Als sie nach einer zensurbedingten Zwangspause im Mai 1923 wieder erschien, gab es den "Deutschen Freundschaftsverband" nicht mehr und "Die Freundschaft" verstand sich nun als "unabhängiges Organ der ganzen Bewegung". Unter der Überschrift "Die erste schwule Kiosk-Zeitschrift wird 100" habe ich hier auf queer.de 2019 einen Artikel über diese Zeitschrift veröffentlicht. In den Jahren 1922 und 1923 veröffentlichte Magnus Hirschfeld in der "Freundschaft" unter der Überschrift "Von einst bis jetzt" eine Artikelserie mit 53 Folgen über die Geschichte der Homosexuellenbewegung, die 1986 unter dem gleichen Titel als Buch erschien.


Die erste Ausgabe der Zeitschrift "Die Freundschaft" vom 13. August 1919

Zwischen 1919 und 1923 gab es mehrere Gerichtsverfahren und Verurteilungen gegen die "Freundschaft". Das letzte Verfahren führte dazu, dass nach der Ausgabe von Oktober 1923 die nächste erst wieder im April 1924 erscheinen konnte. Viele Leser*innen waren bereits von einer endgültigen Einstellung der Zeitschrift ausgegangen. Ein unfreundlicher Nachruf "Das Ende der 'Freundschaft'" erschien in der "Deutschen Reichszeitung" (28. März 1923): Hinter den Herausgebern verberge sich "die Gilde der Homosexuellen Deutschlands" und "Die Freundschaft" sei eine von "vielen, teils sonderbaren, teils direkt abstoßenden" Zeitschriften Berlins. Der Artikel ist ein seltenes Beispiel dafür, dass eine Homosexuellen-Zeitschrift von nicht-homosexuellen Zeitungen überhaupt zur Kenntnis genommen wurde.

"Die Insel" – ein "Magazin der Einsamen"

Von Friedrich Radszuweit erschien in den Zwanzigerjahren auch eine Zeitschrift, deren bibliografische Erfassung schwierig ist. Als "Die Insel. Magazin der Einsamen" war sie zunächst eine Beilage der "Blätter für Menschenrecht", aber bereits mit einer eigenen Jahrgangszählung (1. Jg., ab Dezember 1923).

Von Mitte 1924 bis Mitte 1925 erschien sie als "Die Insel" in eigenständiger Form mit den wechselnden Untertiteln "Literarische Monatsschrift", "Wochenschrift für Aufklärung und Unterhaltung" und "Das deutsche Freundschaftsblatt". Ab Mitte 1925 erschien sie als "Das Freundschaftsblatt" mit ebenfalls wechselnden Untertiteln bis 1933. In der zentralen bibliothekarischen Zeitschriftendatenbank (ZDB) ist "Die Insel" (1923-1925) mit dem Nachfolger "Das Freundschaftsblatt" (1925-1933) richtig erfasst.


"Die Insel. Magazin der Einsamen", hier die Ausgabe vom 15. Mai 1924

"Hellasbote" – der homosexuelle Geist der Antike

Der "Hellasbote" (1923-1924) trug den Untertitel "Für freies Menschentum. Gegen Unrecht u. Unverstand". Auch die grafische Gestaltung unterstreicht den Bezug auf die Antike, die historisch mit der Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Sexualität assoziiert wird. Dass "Hellas" zu dieser Zeit ein Signalwort für Homosexualität sein konnte, zeigt u. a. auch die Überschrift eines Zeitungsartikels "Hellas in Schlesien" ("Reichspost", 5. August 1924), in dem es um sexuelle Handlungen von Männern mit 14- bis 16-jährigen männlichen Jugendlichen ging. "Der Hellasbote" orientierte sich – ähnlich wie "Die Fanfare" – in Form, Gestaltung und Inhalt an den Jahrgängen 1919 bis 1922 der "Freundschaft".

Im "Hellasboten" ging es um Politik, Kunst und Kultur. In Kleinanzeigen suchten Männer andere Männer für gedanklichen Austausch – so heißt es zumindest im Wortlaut der Anzeigen. Inhaltlich suchte die Redaktion die Nähe zu Magnus Hirschfeld und ging wie die "Fanfare" auf Abstand zu Friedrich Radszuweit (Jg. 1924, Heft 2). Das Heft 3 von 1924 wurde beschlagnahmt, wobei die Gründe der Redaktion nicht mitgeteilt wurden (s. Jg. 1924, Heft 4). Es drängt sich die Möglichkeit auf, dass die Kleinanzeigen zu einer Zensur geführt hatten, obwohl es in diesem Heft ausschließlich Anzeigen gab, in denen, zumindest vordergründig, nur berufliche Anstellungen gesucht wurden.

Homosexuellen-Zeitschriften am Kiosk

Der Hinweis in der Literatur, dass "Die Freundschaft" seit ihrem ersten Erscheinen 1919 auch an Kiosken verkauft wurde, erscheint zunächst wie ein Beleg für eine gesellschaftliche Offenheit und Akzeptanz. Das ist nur bedingt richtig, denn zum einen galt dies nicht für jede Stadt, nicht für die ganze Zeit bis 1933, nicht für alle Zeitschriften und auch nicht für jeden Kiosk. So wurde in der "Fanfare" darauf hingewiesen, dass diese zwar in Leipzig an jedem Kiosk gekauft werden könne, aber in Berlin nur an insgesamt neun Kiosken, deren Adressen im Anschluss genannt wurden ("Die Fanfare", Jg. 1924, Heft 19).

Ab August 1928 war "Die Freundschaft" nicht mehr am Kiosk, sondern nur noch im Abonnement erhältlich. Diese Entscheidung musste die Redaktion treffen, um sich vor strafrechtlicher Verfolgung wegen "unsittlicher Schriften" und die Kund*innen vor Erpressungen zu schützen. Insofern zeigt der Kiosk-Verkauf in den Anfangsjahren der Weimarer Republik nicht nur die Liberalität der Gesellschaft, sondern auch deren Grenzen auf. Wenn also heute behauptet wird, dass es in den Zwanzigerjahren homoerotische Magazine an jedem Kiosk zu kaufen gegeben habe ("Berliner Zeitung", 15. August 2023), ist das schlicht falsch.


Ein Zeitungskiosk in Berlin in den Zwanzigerjahren, auf der linken Seite ist die "Freundschaft" mit ihrem charakteristischen "F" auf dem Cover zu sehen

Die Kontaktanzeigen in den Schwulen-Zeitschriften

In Homosexuellen-Zeitschriften gab es zensurbedingt nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, Kontaktanzeigen zu schalten. Die Münchener Zeitschrift "Der Seelenforscher" (1902-1904) gehörte schon im Kaiserreich zu den ersten Schwulenzeitschriften, die auch Kontaktanzeigen veröffentlichten. Sie wurde wegen dieser Anzeigen 1904 verboten.

Offenbar hofften viele Schwule zunächst, dass durch die politischen Veränderungen nach 1918 Kontaktanzeigen nun eher möglich wären. In meinem Artikel über "Die Freundschaft" hier auf queer.de habe ich auch auf die Kontaktanzeigen in den Jahren 1919 bis 1920 hingewiesen und für diesen Zeitraum rund 80 Kontaktanzeigen aus Köln ausgewertet, in denen Schwule unmissverständlich einen Partner suchten. Strafanzeigen waren u. a. wegen "Kuppelei" möglich. Wegen der Verbreitung "unzüchtiger" Kontaktanzeigen in "Der Eigene" wurde u. a. Adolf Brand zu einer Geldstrafe verurteilt ("Das Volk", 11. Januar 1922). Als wie problematisch solche Kontaktanzeigen angesehen wurden, zeigt auch eine in der Presse indirekt wiedergegebene Rede des Abgeordneten Faßbender (Zentrum) im preußischen Landtag, in der er sich über die am Kiosk angebotenen Zeitschriften aufregte und sie als "Schmutz" bezeichnete. "Besonders sei der Anzeigenteil einer Reihe von Zeitungen nur der Anbahnung unzüchtigen Verkehrs gewidmet, wodurch unter der Jugend entsetzliche Wirkungen auch in der Richtung der Verbreitung der Homosexualität entständen" ("Ruhrwacht", 9. September 1924).

Es lässt sich feststellen, dass so offenherzige Kontaktanzeigen, wie sie 1919 und 1920 abgedruckt wurden, 1924 nicht mehr zu finden waren. In der "Freundschaft", der "Insel" und den "Blättern für Menschenrecht" wurde vollständig auf sie verzichtet. In der "Fanfare" und in "Hellas" erschienen zwar Kleinanzeigen, bei denen es sich aber fast nur um Stellenangebote und -gesuche, nur selten um die Suche nach persönlichen Kontakten handelte. Die Kleinanzeigen in der "Fanfare" (Jg. 1924, Heft 10) scheinen mir repräsentativ zu sein. Gesucht wurden hier auch ein "Bummelkamerad", ein Französisch-Lehrer, ein Gedankenaustausch und eine "ideale Freundschaft". Was davon ist wohl eine Chiffre und inwieweit waren auch diese Anzeigen von Zensur bedroht?


Vom "Bummelkameraden" bis zur "idealen Freundschaft": Kontaktanzeigen in der "Fanfare" (1924)

Kontaktanzeigen in nicht-homosexuellen Zeitungen

Wenn Schwule und Lesben vorsichtig formulierten, konnten sie auch über Kontaktanzeigen in nicht-homosexuellen Zeitungen Gleichgesinnte kennen lernen. Die Formulierungen mussten hierbei so gewählt werden, dass weder die Anzeigenredaktionen noch die Durchschnittsleser*innen Verdacht schöpfen konnten. Bei Kontaktanzeigen von Schwulen konnte eine Formulierung wie "Reisepartner nach Italien gesucht" eine Chiffre darstellen, bei Kontaktanzeigen von Lesben gilt dies für Begriffe wie "intim", "modern" und "freidenkend".

Im April 1924 gab es zwischen zwei österreichischen Zeitungen einen interessanten Schlagabtausch. Das sozialdemokratische, in Linz erscheinende "Tagblatt" (16. April 1924) warf der Linzer "Tages-Post" vor, ein (angeblich) homosexuelles Inserat mit dem Text "Idealist sucht nach gleichgesinntem Freunde. Angebote unter 'Ideale Freundschaft'" veröffentlicht zu haben. Die "Tages-Post" sei damit ein "Organ der Linzer Homosexuellen" geworden und habe "die Interessen jener gefördert, denen dies Trieb und Befriedigung ist". Die "Tages-Post" (17. April 1924) reagierte auf diesen "Vorwurf" innerhalb eines Tages. Sie teilte mit, dass das Inserat von einem Sozialdemokraten ohne homosexuelle Absichten aufgegeben worden sei, und verband dies mit dem Hinweis: "Die schmutzige Schnüffelei ist übrigens umso seltsamer, als ja bekanntlich auch die weitestgehende sexuelle Freiheit zu dem sozialdemokratischen Glaubensbekenntnis gehört." Dieser Schlagabtausch lässt sich als ein Eigentor der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) bezeichnen.

Einen ähnlichen Fall gab es auch in Deutschland: Ein Leser der "Blätter für Menschenrecht" berichtete, dass er in der "Chemnitzer Allgemeinen Zeitung" eine Kontaktanzeige aufgegeben habe, was die sozialdemokratische "Chemnitzer Volksstimme" dafür genutzt habe, dem Konkurrenzblatt Geschäftemacherei, Unsittlichkeit und Kuppelei vorzuwerfen. Die "Chemnitzer Allgemeine Zeitung" habe ihm daraufhin die Antworten auf sein Inserat nicht aushändigen wollen. Für Stefan Micheler ("Selbstbilder und Fremdbilder der 'Anderen'. Männer begehrende Männer in der Weimarer Republik und der NS-Zeit", 2004, S. 34) zeigt dieser Bericht, wie sozialdemokratische Zeitungen Homophobie schon Mitte der Zwanzigerjahre für ihre Politik instrumentalisierten.


Die Bedeutung der Antike – Geschichte legitimiert

Die Zeitschrift "Hellasbote" (1923-1924) möchte ich an dieser Stelle zum Anlass nehmen, um auf die Bedeutung von Bezügen auf die Antike für schwule Männer einzugehen. Das Ausleben gleichgeschlechtlicher Sexualität war im antiken Griechenland weit verbreitet und ist durch zahlreiche Belege überliefert. Diese Hinweise werden oftmals – in einer die historische Realität sehr vereinfachenden Weise – als Musterbeispiel für Toleranz gegenüber Homosexualität angesehen. Mit einer idealisierenden Sicht auf die Antike konnten männliche Homosexuelle vor 100 Jahren nicht nur Forderungen nach Toleranz, sondern auch die Propagierung eines homoerotischen Schönheitsideals und einer "männlichen" Gesellschaft verbinden. Wenn sich Schwule auf die Antike bezogen, hatte dies fast immer eine legitimierende Funktion für die jeweilige Gegenwart. Schon in der wilhelminischen Zeit gab es für die literarische Darstellung von Homosexualität in in Form wirklichkeitsferner Szenarien, z. B. an Schauplätzen der Antike, einen Freiraum, was ich in meinem Buch "Anders als die Andern" (2006) am Beispiel der Autoren Ernst Bertram, Hanns Heinz Ewers, Curt Moreck, Wilhelm Schmidtbonn und Carl Maria Weber dargestellt habe.

Nachfolgend gehe ich auf (populär)wissenschaftliche Schriften von Paul Brandt und Erich Bethe zur Antike ein. Eng damit verbunden sind aber auch belletristische Werke und ihre Rezeption, z. B. von Franz Grillparzer ("Sappho"), Albert H. Rausch ("Ephebische Trilogie") und Reinhold Zickel ("Der Tod der Athene"), auf die ich in den beiden nächsten Folgen dieser Serie noch eingehen werde.

Paul Brandt und seine "Beiträge zur antiken Erotik" (1924)

Der promovierte Philologe Paul Brandt (1875-1929) arbeitete als Lehrer an einem Gymnasium in Leipzig. Wegen eines Vorfalls mit einem jungen Mann, den er für einen Stricher hielt, wurde er 1919 nach Schneeberg im Erzgebirge strafversetzt. Heute ist er vor allem durch seine unter dem Pseudonym Hans Licht verfassten Veröffentlichungen zur Homosexualität in der altgriechischen Literatur bekannt. Brandt war nie selbst politisch aktiv, hat aber mit seinen Publikationen die frühe homosexuelle Emanzipationsbewegung unterstützt. Dies bezieht sich sowohl auf Adolf Brand, mit dem er zu den Mitbegründern der "Gemeinschaft der Eigenen" gehörte, als auch auf Magnus Hirschfeld, wie mehrere Beiträge von ihm (und über ihn) im "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" (JfsZ) aufzeigen, z. B. sein Aufsatz über den "pädagogischen Eros" in der griechischen Dichtung (JfsZ, 1906, S. 619-684). Insgesamt sind von Brandt aus der Zeit von 1905 bis zu seinem Tod rund 20 Artikel und Aufsätze sowie sieben Bücher bekannt. Sein Aufsatz "Die Homoerotik in der griechischen Literatur" (in: "Abhandlungen aus dem Gebiete der Sexualforschung", Jg. 1920/1921, Heft 3, S. 1-78) ist online. Den nachhaltigsten Einfluss hatte sein dreibändiges Werk "Sittengeschichte Griechenlands" (1925-1929). Auch Brandts Veröffentlichungen zu den Skandalen seiner Zeitgenossen Gustav Wyneken und Hans Blüher basieren, weil er sie thematisch mit dem Konzept des "pädagogischen Eros" verband, auf seiner Beschäftigung mit der altgriechischen Päderastie.

Drei seiner Veröffentlichungen aus dem Jahr 1924 stehen mit dem Thema der antiken Päderastie in Verbindung. Hier sind vor allem seine "Beiträge zur antiken Erotik" (1924) zu nennen. Während er die Liebe unter Frauen (S. 75-82) hier recht knapp im Kapitel "Von den Surrogaten der Liebe" als angebliche Ersatzhandlung, ähnlich wie die Onanie, abhandelt, behandelt er die Liebe unter Männern bzw. von Männern zu Jünglingen ausführlich in dem Kapitel "Vom anderen Ufer der Liebe" (S. 162-206). Die beiden anderen Veröffentlichungen Brandts aus dem Jahr 1924 sind eine von ihm herausgegebene Ausgabe von Platos "Gastmahl" in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher und seine eigene Übersetzung von Plutarchs "Erotikos. Ein Gespräch über die Liebe". Ein Jahr später befasste er sich auf mehr als 40% der Seiten seines Buches "Liebe und Ehe in Griechenland" (1925) mit gleichgeschlechtlicher Sexualität.

Erich Bethe: "Die griechische Dichtung" (1924)

Erich Bethe (1863-1940) war ebenfalls ein Klassischer Philologe, er lehrte an unterschiedlichen Universitäten. Sein Aufsatz "Die dorische Knabenliebe" (in: "Rheinisches Museum für Philologie", 1907, S. 438-475) soll "einen großen Einfluss auf Hans Blüher und die gesamte Homosexualitätsforschung des 20. Jahrhunderts" ausgeübt haben (Bernd-Ulrich Hergemöller: "Mann für Mann", 1998, S. 123. In der späteren Ausgabe von 2010 wird Erich Bethe nicht mehr erwähnt).

Bethe verfasste mehrere Monografien über das antike Drama und die griechische Dichtung mit Schwerpunkt auf Homer. Das Werk "Die griechische Dichtung" (1924) veröffentlichte er als Professor an der Universität Leipzig. Darin kommt er an acht verschiedenen Textstellen (s. Register) auf die Bedeutung gleichgeschlechtlicher Sexualität unter Männern und Frauen in der Antike zu sprechen. Seine Position zur Päderastie ist deutlich: "Aber nicht als Laster wurde sie empfunden, sondern öffentlich und mit Stolz bekannte man sich zu ihr, in Liedern, Chorgesängen, Tragödien wurde sie gefeiert, attische Töpfermeister schrieben (…) die Namen stadtbekannter Lieblinge auf ihre Vasen" (S. 70).


Eine Illustration aus Erich Bethes Buch "Die griechische Dichtung" (1924)

Außerhalb der Antike – Legitimation, Diffamierung und "Ehrenrettung"

Was für die Antike gilt, gilt in veränderter Form auch für die Rezeption anderer Epochen. Die erste Homosexuellenbewegung publizierte schon ab dem Ende des 19. Jahrhunderts Texte, die versuchten, historische Persönlichkeiten als "welche von uns" darzustellen. Die emanzipatorische Absicht dahinter war, dass sich Prominente als Teil einer imaginierten "schwulen Ahnengalerie" positiv auf das Selbstwertgefühl der Homosexuellen auswirken sollten. Wertneutral wirkende Hinweise auf schwule Prominente sollten Homosexualität legitimieren. Hinweise von anderen Autoren sollten manchmal auch diffamierend wirken.

Dazu gibt es auch einige Beispiele aus dem Jahr 1924 von vermutlich nicht-schwulen Autoren, die hier gut hineinpassen, auch wenn sie nicht aus der Homosexuellenbewegung stammen. Im Januar 1924 erschien das Buch "Liebesleben in deutscher Vergangenheit" (1924) des Kulturhistorikers Max Bauer, der darin mehrfach und wertneutral auf "Päderasten" und "lesbischen Verkehr" im 13.-16. Jahrhundert eingeht (S. 63, 107-110, 275-277). Es ist beachtenswert, dass er diese Beispiele als Teil des "Liebeslebens" in der Geschichte Deutschlands schildert und damit indirekt legitimiert, was in dieser Zeit nicht selbstverständlich war.

In einigen Zeitungen wurde 1924 darüber spekuliert, welche prominenten Männer in früherer Zeit wohl homosexuell gewesen seien. Zum Beispiel rezensierte die "Kölnische Zeitung" (26. August 1924) Hans von Hentigs Buch "Robespierre. Studien zur Psychologie des Machttriebs" (1924) und erwähnte dabei, dass v. Hentig den "Schreckensmann" Robespierre als "Geschlechtszwerg" mit "homosexuellen Neigungen" darstelle. Der "Ohligser Anzeiger" (27. August 1924) bezieht sich auf das gleiche Buch und schreibt, dass Robespierre nie wirklich geliebt habe – "es sei denn einige Jünglinge". Die Erwähnung von Robespierres (angeblicher) Homosexualität unterstreicht in diesem Fall die negative Charakterisierung der historischen Person.

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Einige Artikel haben offenbar auch die Funktion einer "Ehrenrettung", wenn z. B. in der "Oberhausener Zeitung" (26. Oktober 1924) Darstellungen König Friedrichs II. "des Großen" als "homosexueller Frauenhasser" kritisiert wurden. Der Artikel wendet sich aus einer eher konservativen Sicht gegen psychologisierende Geschichtsschreibung, die historischen Personen allerlei "abnorme" sexuelle Neigungen zuschrieb und in den 1920er Jahren florierte.

Auch drei Artikel in der "Kölnischen Zeitung" können hier erwähnt werden: Hinweise auf die homoerotischen Empfindungen des englischen Dichters Lord Byron werden als "Äußerungen des undifferenzierten Geschlechtstriebes jüngerer Jahre" abgetan (5. April 1924) und Behauptungen über angebliche Homosexualität bei Friedrich Gottlieb Klopstock erscheinen dem Autor "mehr als zweifelhaft" (25. Juni 1924). Ein Jahr zuvor hatte derselbe Autor sich schon einmal über die Zeit der Weimarer Klassik geäußert, wobei er in den "Süßlichkeiten" zwischen dem Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seinem Freund Johann Georg Jacobi keine "Symptome von Homosexualität" erkennen wollte (23. Juni 1923).

Heute ist das alles wesentlich entspannter und Rosa von Praunheim kann in seinem Film "Männerfreundschaften" (2018) lustvoll und unterhaltsam der Frage nachgehen, ob Schriftsteller wie Gleim, Jacobi, Goethe oder Schiller homosexuell gewesen sind. Es ist ein Film, der sich irgendwo zwischen Wunschdenken, humoristischer Betrachtung, seichter Unterhaltung und Geschichtsklitterung bewegt.

-w-