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Historischer Roman

Verliebt im Schützengraben

Der Sanitätssoldat Rafael Pinto verliebt sich während des Ersten Weltkrieges in den Kameraden Osman. Aleksandar Hemon erzählt in "Die Welt und alles, was sie enthält" eine bestechende Liebes- und Fluchtgeschichte, die Jahrzehnte umspannt und Kontinente überwindet.


Aleksandar Hemon, 1964 in Sarajevo geboren, kam 1992 als Stipendiat in die USA. Nach dem Ausbruch des Bosnienkrieges bekam er dort Asyl (Bild: slowking4 / wikipedia)

Die Zukunft, denkt Rafael Pinto, scheine so endlos weit zu sein wie ein Meer. Das 20. Jahrhundert ist zu dieser Zeit noch frisch, sein Studium in Wien hat er beendet. Jetzt übernimmt er als jüngster Spross die Apotheken-Dynastie seiner jüdischen Familie in Sarajevo. Dort kehrt ein frischer Wind ein: Statt auf irgendwelche Heilkräuter aus den Bergen setzt er auf Laudanum.

Die Opiumtinktur empfiehlt er nicht nur seiner Kundschaft, wie damals völlig gängig. Er selbst ist wohl einer der größten Fans der schmerzstillenden, betäubenden, berauschenden Flüssigkeit, die er auf einen Zuckerwürfel träufelt. Schon Paracelsus beschrieb das Mittel, nannte es "Stein der Unsterblichkeit".

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Apotheker liebt Waisen, Jude liebt Muslim


Unsterblichkeit kann Rafael Pinto, den alle nur beim Nachnamen nennen, gut gebrauchen. Denn so endlos wie zunächst gedacht ist die Zukunft nicht, seit Erzherzog Franz Ferdinand in Pintos Heimatstadt erschossen wird. Kurz zuvor hatte er noch einem Rittmeister in seiner Apotheke schöne Augen gemacht, doch die Unbeschwertheit ist davon. Der junge Mann wird als Sanitätssoldat in die kaiserliche und königliche Armee eingezogen.

Seine Einheit kämpft in Galizien, dem nordöstlichsten Teil Österreich-Ungarns, gegen die russischen Kaisertruppen. Im Schützengraben verliebt sich der gebildete Apotheker in den Bosnier Osman, einen muslimischen Waisen, der sich zuletzt als Halva-Verkäufer in Sarajevo durchschlug – und der ein talentierter Geschichtenerzähler ist. Eine Liebe an einem Ort des Gemetzels, des Todes und des Wundbrandes, den Pinto nur notdürftig behandeln kann.

Pinto verdankt Osman sein Leben

Das Paar hat Glück, beide überleben – anders als so viele Kameraden. Pinto und Osman kommen Tausende Kilometer östlich nach Taschkent in russische Kriegsgefangenschaft. Die einzige Erklärung dafür, am Leben zu sein, sei Osman, denkt Pinto, trotz aller Schrecken immer noch ein verträumter und romantischer Mann.

"Die Welt und alles, was sie enthält" (Amazon-Affiliate-Link ) ist alleine vor diesem Hintergrund kein intuitiver Roman. Die historischen Zusammenhänge sind kompliziert (und werden auch nicht groß erläutert), die vielen Figuren und Orte machen die Geschichte genau so unübersichtlich, wie sie eben ist – und sind deshalb nur konsequent. Dass Pinto immer wieder Lieder oder einzelne Begriffe auf Bosnisch und Ladino, der Sprache der sephardischen jüdischen Gemeinschaft, nutzt, stärken diesen Eindruck – wie in einem Film, der eine fremdsprachige Figur nicht übersetzt.

Eine wichtige Konstante: Die Liebe zwischen Pinto und Osman

Der neue Roman von Aleksandar Hemon, der in Sarajevo geboren wurde, vor der Belagerung aber in die USA gereist war und blieb, kann durchaus als Epos durchgehen: "Die Welt und alles, was sie enthält" umspannt eine Zeitspanne von fast 90 Jahren und spielt nach der Kriegsgefangenschaft unter anderem noch im uighurischen Korla und in Schanghai.

Doch egal wo und wann: Pinto und Osman, später auch die von Osman mit einer russischen Jüdin in Taschkent gezeugte Tochter Rahela, haben einige Konstanten. Die wohl augenfälligste sind Flucht und Krieg und Verfolgung. Ob die Geheimpolizei Sowjetrusslands Tscheka, die Schlacht um Schanghai im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg oder kurz später der Chinesische Bürgerkrieg: Nirgendwo sind sie sicher, überall müssen sie sich bei Einheimischen verstecken.

Die jetzt kleine Familie hat kein Zuhause, alle sind ständig hungrig. Damit einher gehen Tod, Verletzungen und Blut, oft drastisch geschildert. Genauso konstant ist Pintos Verlangen nach Opium, das er jedoch erst wieder in Schanghais Opiumhöhlen wirklich stillen kann. Die für Pinto wohl wichtigste Konstante ist jedoch die Liebe zu Osman.

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Der Roman wird seinem Titel gerecht

Ein Krieg hat sie zusammengebracht, und viele weitere Kriege lassen sie verbunden bleiben. Und das, obwohl Pinto seine Liebe, seine Lust als "Yetzer Hara" wahrnimmt, als bösen Trieb, wie er in der Thora beschrieben wird. Hier, wie an vielen weiteren Stellen, scheinen seine Glaubensüberzeugungen durch.

Im letzten Drittel gewinnt der Roman noch einmal durch einen Perspektivwechsel: Rahela steht jetzt im Fokus, mittlerweile eine gut ausgebildete junge Frau, die ihren Gefühlen folgen will. Sowohl Ton als auch Dynamik verändern sich. Wie in Christian Petzolds Film "Transit" hat auch Aleksandar Hemons Roman einen Ich-Erzähler unbekannter Herkunft, der jedoch nur äußerst selten in Erscheinung tritt und die Geschehnisse nüchtern-historisch einordnet. Erst der Epilog macht klar, wessen Stimme wir lesen.

Natürlich ist es – wie in ähnlichen historischen Romanen – kaum möglich zu beurteilen, wie authentisch er ist. Es gibt schließlich kaum Zeugnisse über eine schwule Liebe zwischen Ersten-Weltkriegs-Soldaten, schon gar nicht aus der Kriegsgefangenschaft in Taschkent. Doch Aleksandar Hemons Roman überzeugt, weil alles durch die präzise Einbettung in die Geschichte zumindest möglich sein kann. Das beginnt bei Schlachten und Offizieren und hört bei Gerüchen und Geschmäckern auf. "Die Welt und alles, was sie enthält" ist ein kühner Titel – doch der Roman wird ihm vollends gerecht.

Infos zum Buch

Aleksandar Hemon: Die Welt und alles, was sie enthält. Roman. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. 400 Seiten. Claassen Verlag. Berlin 2024. Hardcover mit Schutzumschlag: 26 € (ISBN 978-3-5461-0047-2 ). E-Book: 20,99 €

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