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Folge 7 von 10

Schwules Leben vor 100 Jahren: Die Kneipenszene

Diese Folge behandelt die Kneipenszene von 1924. Einige Bars standen dem schwulen Herrn und der lesbischen Dame offen, wobei die lesbische Szene auch ihre ganz eigene Ausprägung hatte.


Gäste im "Eldorado" (1929)

Die homosexuelle Kneipenszene der Weimarer Republik

Um die neuen Freiheiten für Homosexuelle zu verdeutlichen, wird neben den Zeitschriften auch auf die große Kneipenszene verwiesen, die vor allem aus Berlin bekannt ist. Berlin war damals der unbestreitbare Mittelpunkt der Homosexuellenbewegung, von dem eine große Sogwirkung ausging.

Zu den ersten Versuchen, die homosexuelle Szene in Deutschland (einschließlich Vereine und Verlage) zu erfassen, gehört ein Reiseführer für Homosexuelle mit dem Titel "Der Internationale Reiseführer" (1920/1921, 64 Seiten), der in der schwulen Geschichtszeitschrift "Capri" (1991, Heft 14, S. 30-43) fast vollständig wiederabgedruckt wurde und der für die Rekonstruktion homosexuellen Lebens am Anfang der Zwanzigerjahre sehr nützlich ist. Für Berlin werden hier rund 50 Bars aufgelistet, von denen ungefähr die Hälfte in diesem Reiseführer auch Werbung schaltete. Von diesen 50 Bars existierten einige Jahre später mindestens noch zehn, was sich daran zeigt, dass von ihnen aus dem Jahr 1924 zumindest Werbeanzeigen vorliegen (Adonis-Diele, Alte Post, Bromelia, Dorian Gray, Hannemanns Restaurant, Hohenzollern-Diele, Internationale Diele, Marien-Kasino, Mikado, Nürnberger Diele). Weitere haben vielleicht existiert, aber keine Werbung geschaltet. Es ist möglich, dass es in Gerichtsakten oder andere Quellen, die ich nicht kenne, weitere Hinweise gibt. Es ist sehr schade, dass die Schwulenbewegung in den späteren Jahren der Weimarer Republik keinen weiteren Reiseführer mehr publizierte, der den Anspruch hatte, alle schwul-lesbischen Adressen unabhängig von Werbeanzeigen aufzulisten.

Curt Moreck: "Führer durch das 'lasterhafte' Berlin" (1931)

Konrad Haemmerling (1888-1957) hat unter seinem Pseudonym Curt Moreck in zwei Büchern die Berliner Homosexuellenszene beschrieben. Seine "Kultur- und Sittengeschichte der neuesten Zeit" (1929) ist für das Jahr 1924 nicht zu gebrauchen. Das liegt nicht daran, dass er eine Szene beschreibt, die es 1924 noch nicht gab, sondern daran, dass er hier fast ausnahmslos die Szene bis 1910 beschreibt, die es 1924 nicht mehr gab.

Ganz anders dagegen sein "Führer durch das 'lasterhafte' Berlin" (1931), den ich nachfolgend anhand der erweiterten Neuausgabe "Ein Führer durch das lasterhafte Berlin. Das deutsche Babylon 1931" (2018) zitiere. Morecks lebendige Berichte über das schwule, lesbische und trans* Leben (S. 115-152 in jeweils drei Kapiteln) geben seltene Innensichten aus dem damaligen Berliner Nachtleben wieder. Von den 21 von Moreck genannten Bars hat es acht auch schon 1924 gegeben. In der (vielleicht etwas naiven) Hoffnung, dass sich in den sieben Jahren zuvor nicht so viel veränderte, möchte ich einige seiner Eindrücke wiedergeben: In der "Adonis-Diele" (S. 122) in der Alexandrinenstraße erinnere leider nichts mehr "an den schönen Jüngling der Sage" und das "Dé Dé" (S. 126) wird als die "Nachtbar des Herrn" bezeichnet. Im "Café Hollandaise" (S. 126) "unter dem Hochbahnbogen der Bülowstraße gibt es allabendlich ab acht Uhr Tanz, und sonntags vereinigen sich die Freundespaare sogar zum Tanztee". Ausführlicher beschreibt Curt Moreck die bedeutendste aller Bars in Berlin: das "Eldorado".

"Eldorado" – "Hier ist's richtig!"

Die Stimmung im "Eldorado" beschreibt Moreck so: "Eine männliche Chanteuse singt mit ihrem schrillen Sopran zweideutige Pariser Chansons. Ein ganz mädchenhafter Revuestar tanzt unter dem Scheinwerferlicht weiblich graziöse Pirouetten. Er ist nackt bis auf die Brustschilde und einen Schamgurt, und selbst diese Nacktheit ist noch täuschend, sie macht den Zuschauern noch Kopfzerbrechen, sie läßt noch Zweifel, ob Mann ob Frau. Eine der entzückendsten und elegantesten Frauen, die im ganzen Saale anwesend sind, ist oft der zierliche Bob" (S. 151-152, Fotos S. 124, 150).

Das "Eldorado" wurde am 22. März 1924 in der Kantstraße eröffnet. Für das Lokal wurde vor allem in der Homosexuellenzeitschrift "Die Fanfare" geworben, so zur Eröffnung (Heft 11), zum Seifenblumenfest am 7. Oktober (Heft 40) und zur Silvesterparty 1924/1925 (Heft 52). Daneben wurde auch auf die bunten Abende, eine Jazzband und die günstigen Preise hingewiesen (Heft 44). Offenbar gab es 1924 aber auch schon Irritationen: Da werden in Werbeanzeigen unklare Gerüchte erwähnt (Heft 28) und eine neue Geschäftsführung muss erklären, dass die günstigen Preise nicht mehr gültig seien (Heft 46).


Anzeige zur Eröffnung des "Eldorado" bzw. "El Dorado" am 22. März 1924

1927 zog das "Eldorado" in die (Martin-)Lutherstraße und ab 1931 ins Eckhaus an der Motz- und Kalckreuthstraße. Wegen eines Streits mit einem Unterpächter gab es über einige Jahre an beiden Orten jeweils eine "Eldorado"-Bar. Zu keinem anderen damaligen Szenelokal gibt es so viele Quellen und Bilddokumente wie zu den "Eldorados". Es existieren Zeichnungen und Fotos, die das Leben darin veranschaulichen. Von dem Eckhaus an der Motz- und Kalckreuthstraße gibt es drei vielfach publizierte Fotos: eins mit der Tafel "Hier ist's richtig!" (1932) sowie zwei andere mit Hakenkreuzfahnen (Anfang 1933). Sie zeigen in beängstigender Form, wie schnell sich politische und gesellschaftliche Verhältnisse ändern können.

Die Bar war Kult und ist Kult bis heute. "Eldorado" war auch der Titel einer vielbeachteten Ausstellung zur lesbisch-schwulen Geschichte Berlins im Jahr 1984 (samt gleichnamigem Katalog), organisiert von einer Gruppe, aus der sich später das Schwule Museum entwickelte. Eine lesbisch-schwule Hörfunksendung (seit 1986) heißt "Eldoradio". Sehr sehenswert ist die neue Film-Dokumentation "Eldorado – Alles, was die Nazis hassen" (2023). In seinem Buch "Vom Dorian Gray zum Eldorado. Historische Orte und schillernde Persönlichkeiten im Schöneberger Regenbogenkiez" (2012) hat Andreas Pretzel die Geschichte der früheren Szene und dieser Bars gut dokumentiert. Pretzel nennt hier auch andere wichtige Berliner Bars, die es schon 1924 gab, wie die "Adonis-Diele", das "Dorian Gray" und das ""Kleist-Kasino".


Das "Eldorado" in der Dokumentation "Eldorado – Alles, was die Nazis hassen" (2023)

Über die vielleicht 100 Bars, die es 1924 in Berlin gab

Die Anzahl der Berliner Bars in der Weimarer Republik wird manchmal auf 100, manchmal auf 150 geschätzt, wobei offensichtlich die Anzahl der Bars gemeint ist, die von 1919 bis 1933 insgesamt existierten, einschließlich erzwungener Schließungen und Neueröffnungen unter einem anderen Namen. Nach Auswertung der Homosexuellenzeitschriften des Jahres 1924 lässt sich zumindest feststellen, dass rund 60 Berliner Bars, Kneipen und Dielen in diesem Jahr inseriert haben. Vermutlich waren dies aber nicht alle, die es zu diesem Zeitpunkt gab. Eine Schätzung von 80 bis 100 Bars, Kneipen und Dielen im Jahr 1924 ist durchaus realistisch.

An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf die schwule Geschichtsforschung in Hamburg. In ihrem Buch "Hamburg auf anderen Wegen" (2005, S. 20-26) schätzen Bernhard Rosenkranz und Gottfried Lorenz, dass es in den Zwanzigerjahren ca. 30 Homosexuellenlokale in Hamburg gab, wobei auch hier vermutlich nicht alle Kneipen mit einer Anzeige in den Homosexuellenzeitschriften vertreten waren. Ihre Hauptquellen sind Polizeiakten. Bei den Hamburger Homosexuellenbars gab es eine starke Fluktuation, sie sprachen sich auch durch Mundpropaganda herum und mussten meistens nach ein bis zwei Jahren wieder schließen.

Über die 15 Bars, die 1924 neu eröffnet wurden – und was Anita Berber damit zu tun hat

Eine starke Fluktuation deutet sich auch im Berlin von 1924 an. Das Wort "Neueröffnung" in einer Werbeanzeige ist wohl meistens als Hinweis auf eine neu eröffnete Bar und nicht als Hinweis auf eine längere Renovierungspause anzusehen. Nach den Inseraten in Homosexuellenzeitschriften zu schließen, gab es im Berlin des Jahres 1924 15 Neueröffnungen, wobei diejenige des "Eldorado" am 22. März die bedeutsamste des Jahres war. Am 4. Oktober 1924 wurden sogar drei Neueröffnungen gefeiert. Auf die Neueröffnung des "Alexander-Palastes" ("A. P.") an diesem Tag möchte ich besonders hinweisen, weil hier kurz danach, am Freitag, dem 17. Oktober 1924, Anita Berber (1899-1928) auftrat, die in den Zwanzigerjahren eine bekannte Nackttänzerin, Stummfilmdiva und "kokainschnüffelnde Galionsfigur der prassenden Dekadenz-Gesellschaft" war (s. Wikipedia). Viele Gäste des "A. P." kannten Anita Berber vermutlich auch aus dem Homosexuellenfilm "Anders als die Andern" (1919). Viele Jahrzehnte später hat ihr Rosa von Praunheim mit dem Film "Anita. Tänze des Lasters" (1987) ein Denkmal gesetzt.


Anita Berber (hier 1920) war am 17. Oktober 1924 zu Besuch im "Alexander-Palast"

Bei den Neueröffnungen des Jahres 1924 handelt es sich um: "Café am Turmhaus" (29. Februar), "Eldorado" (22. März), "Csardas-Palast" (1. Mai), "Regina Tanzpalais" (3. Mai), "Passauer Kasino" (19. Juli), "Como" (früher "Marburger Diele", 23. August), "Traviata" (13. September), "Naschkeller" (o. D., 38. KW, im "neuesten" Betrieb), "Continental-Club" (27. September), "Erasmus-Diele" (4. Oktober), "A. P." (="Alexander-Palast", 4. Oktober), "Platon" (4. Oktober), "Club des Westens" (1. November), "Verona Palais" (15. November) und "Palast Austria" (6. Dezember). Über die Gründe der erkennbar starken Fluktuation der Berliner Bars liegen mir keine Angaben vor.

"Lila Nächte" und "Lumpenbälle" – wie wurde gefeiert?

Der Betrieb in den einschlägigen Lokalen unterschied sich in vielerlei Hinsicht von dem heutigen: Man saß überwiegend an Tischen, während sich an der Theke nicht viel abspielte. Auf gute Kleidung wurde viel Wert gelegt, Anzüge und Krawatten waren üblich. Der Umgang miteinander war förmlicher, gute Manieren hatten einen hohen Stellenwert. Einzelne Lokale hatten Tischtelefone und eine eigene Musikkapelle, zu deren Musik getanzt wurde. Oft wurden Bälle und Feste veranstaltet, die ein Motto trugen, zu dem sich die Gäste kostümierten (s. "Dornröschen. Das Leben der 'Verzauberten' im Köln der 20er Jahre", hg. vom Arbeitskreis schwule Geschichte Kölns, 1987, S. 16). Drei dieser Motto-Bälle möchte ich kurz vorstellen:

In der "Erasmus-Diele" wurde samstags die "Lila Nacht" gefeiert ("Die Fanfare", Jg. 1924, Heft 38, 39). In Deutschland war Lila in den Zwanzigerjahren die Symbolfarbe von Schwulen und Lesben. Das bekannteste Beispiel dafür ist das "Lila Lied". Die Bedeutungen von Lila als Zeichen der Frauen-, Lesben- und Schwulenbewegung lassen sich nicht immer klar trennen. Heike Schader ("Virile, Vamps und wilde Veilchen. Sexualität, Begehren und Erotik in den Zeitschriften homosexueller Frauen im Berlin der 1920er Jahre", 2004, S. 170-172) geht mit vielen Beispielen auf Lila als Code der schwulen und lesbischen Subkultur ein. In der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre erfuhr Lila, so Schader, eine Bedeutungsveränderung und wurde zu einem Symbol des Verruchten und des Verführerischen.

Im "Como" feierten die Gäste am 6. September 1924 einen "Lumpenball" ("Die Fanfare", Jg. 1924, Heft 36) und im "Zum Iltis" wurde ein solcher sogar an jedem Samstag und Sonntag gefeiert ("Die Fanfare", Jg. 1924, Heft 37). Solche "Lumpenbälle" sind seit 1872 als traditionelle Veranstaltungen während der Karnevalszeit bekannt, bei denen die Kostüme aus zerschlissener, abgetragener Kleidung (Lumpen) bestehen (Wikipedia). Gleichzeitig bezieht sich der Begriff auch auf die Bezeichnung eines unordentlichen, unmoralischen Menschen als "Lump". Wie im Buch "'Verführte Männer'. Das Leben der Kölner Homosexuellen im Dritten Reich" (1991, S. 24-25) aufgezeigt wird, galten Künstler- und Lumpenbälle in den Zwanzigerjahren als Treffpunkte schwuler Jecken und waren der Schrecken der bürgerlichen Karnevalsvereine, weil ihnen der Ruf sexueller Freizügigkeiten anhaftete. In Berlin fanden sie offenbar unabhängig vom Karneval statt.


Ein "Lumpenball" ("Die Fanfare", Jg. 1924, Heft 36), auf dem der größte "Lump" prämiert wird

Im August 1924 wurden im "Café Dorian Gray" an drei Abenden "Apachenfeste" gefeiert. "Apachenfeste" erfreuten sich allgemein großer Beliebtheit. "Apache" war in Paris eine Bezeichnung für kriminelle Zuhälter, die mit ihren Prostituierten die Freier beraubten. Sie waren grell und salopp gekleidet und tanzten angeblich erotische und wilde "Apachentänze". Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dieser Tanz gern in Varietétheatern aufgeführt (s. Rosenkranz/Lorenz: "Hamburg auf anderen Wegen", 2005, S. 21).


Werbung für die "Apachen-Feste" im "Café Dorian Gray" im August 1924


Lesbisches Leben in der Weimarer Republik

Mit Beginn der Weimarer Republik veränderte sich auch das Leben von Frauen in einem vorher nicht gekannten Maße. Es gab eine neue Liberalität in der Gesellschaft, starre Geschlechterrollen wurden in Frage gestellt und neue Vorstellungen von Sexualität und Moral wurden diskutiert und praktiziert. Zu den Errungenschaften der Demokratie und der Frauenbewegung gehörte die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen.

Mittlerweile gibt es nicht nur viele Publikationen über die Geschichte lesbischer Frauen, sondern sogar viele, die sich speziell mit dem lesbischen Leben in der Weimarer Republik beschäftigen, wie die Bücher von Claudia Schoppmann ("'Der Skorpion'. Frauenliebe in der Weimarer Republik", 1991) und Heike Schader ("Virile, Vamps und wilde Veilchen. Sexualität, Begehren und Erotik in den Zeitschriften homosexueller Frauen im Berlin der 1920er Jahre", 2004).


Tanz im "Eldorado" (1930)

"Die Freundin"

Die Zeitschrift "Die Freundin" (1924-1933) mit ihrem Untertitel "Das ideale Freundschaftsblatt" erschien in Berlin. Sie gilt als erste lesbische Zeitschrift der Welt und als einzige des Jahres 1924. Ab August 1924 wurden hier Texte über Politik, lesbisches Leben, belletristische Texte und private Kontaktanzeigen veröffentlicht. Die Zeitschrift ist heute eine der wichtigsten Quellen für die Rekonstruktion lesbischen Lebens. Katharina Vogel verweist in ihrem Aufsatz "Zum Selbstverständnis lesbischer Frauen in der Weimarer Republik. Eine Analyse der Zeitschrift 'Die Freundin' 1924-1933" (in dem Ausstellungskatalog "Eldorado", 1984, Neuauflage 1992, S. 162-168) auf die politischen Hintergründe und auf die Zensur von Einzelheften.

Nach Julia Hürner ("Lebensumstände lesbischer Frauen in Österreich und Deutschland – von den 1920er Jahren bis zur NS-Zeit", 2010, S. 38-39) kann "Die Freundin" "wohl als Symbol der lesbischen Identität im Berlin der 1920er Jahre gedeutet werden (…) und war vermutlich die populärste unter den Lesbenzeitschriften in der Weimarer Republik". Sie zitiert die Autorin Ruth Margarete Röllig ("Berlins lesbische Frauen", 1928), die mit ihrer sehr kritischen Meinung über "Die Freundin" und anderer Lesbenzeitschriften vermutlich alleine stand: "Marktschreierisch wirken in erster Linie schon die nackten Frauenbilder auf der Umschlagseite, wohl in der Hauptsache dazu bestimmt, Käufer aus jeder Sphäre heranzulocken. Und dann die Titel! So grob und derb wie möglich, so daß man sich gar nicht vorstellen kann, Frauenblätter vor sich zu haben, zumal das literarische Niveau so ziemlich unter null ist." Wer sich selber ein Urteil über diese Zeitschrift bilden möchte, sei an die Homepage des "Forums Homosexualität" in München verwiesen, wo viele Hefte aus den Jahren 1927 bis 1933 online gestellt sind.

Die Aktivistin Helene Stöcker – Kritik an einer reinen Männersicht auf die Welt

Es gibt nur wenige weibliche Aktivistinnen, die bereits 1924 für eine schwule bzw. lesbische Emanzipation eintraten. Zu ihnen gehörte die Frauenrechtlerin und Sexualreformerin Helene Stöcker (1869-1943), zu deren 150. Geburtstag ich auf queer.de einen Artikel geschrieben habe. Die offenbar heterosexuelle Helene Stöcker fand den ersten Kontakt zur noch jungen und von Männern dominierten Homosexuellenbewegung rund um das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) vermutlich bei einem Treffen am 8. Oktober 1904. In einer ihrer Schriften – "Erotik und Altruismus" (1924, S. 29-32) – setzt sie sich kritisch mit Hans Blühers Buch "Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft" auseinander. Sie kritisiert, dass Blüher die ganze Welt nur vom männlichen Standpunkt aus betrachte, eine Grundauffassung, die zu einer Geschlechtsherrschaft durch Männer führe. Ihr Hinweis auf männliche Prostituierte, die "zu homosexuellen wie heterosexuellen Akten bereit" seien, geht leider nicht über eine Erwähnung hinaus.

Die Aktivistin Aenne Weber – über Vorurteile gegenüber Lesben und die Reichstagswahl

Eine der wenigen namentlich bekannten lesbischen Aktivistinnen der Zeit um 1924 war Aenne Weber, die 1. Vorsitzende der Damengruppe des Bundes für Menschenrecht. 1924 und 1925 war Weber die verantwortliche Redakteurin der Zeitschrift "Die Freundin" und verfasste für sie zahlreiche eigene Beiträge. So beschrieb sie im ersten Heft der "Freundin" zwei Arten von homosexuellen Frauen, die "männliche" und die "weibliche" Frau, wobei sie die bis heute gängigen Stereotypen bediente. Zusätzlich ging sie auf die Vorurteile ein, die es gegenüber lesbischen Frauen gab, und brachte auch ihre eigenen Erfahrungen in diesen Beitrag ein (Julia Hürner: "Lebensumstände lesbischer Frauen in Österreich und Deutschland – von den 1920er Jahren bis zur NS-Zeit", 2010, S. 22, 40, 41, 46).

Am 10. November 1924 hielt Aenne Weber im "Luisenstadt-Kasino" in der Alten Jakobstraße einen Vortrag über "Die homosexuelle Frau und die Reichstagswahl" zur Wahl am 7. Dezember. Der Eintritt war frei und Gäste waren willkommen ("Die Insel", Jg. 1924, Heft 1, 7. November). Einzelheiten zum Inhalt sind leider nicht bekannt.


Werbung für einen Vortrag von Aenne Weber am 10. November 1924

"Garçonne", "Gefährtin" und "Kameradin" sind 1922/1924 geprägte Begriffe

Mehrere Bezeichnungen für lesbische Frauen lassen sich auf den französischen Autor Victor Margueritte (1866-1942) zurückführen, der sie in seinen Romanen popularisierte. So bezeichnete der Begriff "Garçonne" in den Zwanzigerjahren vor allem junge, selbstbewusste Frauen mit Bubikopf und modisch-männlicher Kleidung. Eine zusätzliche lesbische Bedeutung bekam die Bezeichnung wohl auch, weil sich die Protagonistin Monique in Marguerittes Roman "La garçonne" (1922) mit Männern und Frauen vergnügt. Die lesbische Zeitschrift "Garçonne. Junggesellin" erschien von 1930 bis 1932.

Die Bezeichnungen "Gefährtin" und "Kameradin", bei denen sich sexualreformerische und frauenbewegte Ideale mischen, stehen mit Marguerittes Roman "Le Compagnon. Gefährten" (Februar 1924) in Verbindung. Beide Hinweise habe ich Hanna Hackers Buch "Frauen und Freund_innen. Lesarten 'weiblicher Homosexualität'. Österreich, 1870-1938" (2015, S. 300-303) entnommen.

Auch andere Quellen zeigen die lesbische Bedeutung dieser Begriffe und verweisen auf Victor Margueritte. Nach dem "filmlexikon" der Uni Kiel wurde die "Garçonne" im Paris und Berlin der Zwanzigerjahre zum "Typus der 'neuen Frau'". Die "inszenierte Androgynität" habe "Öffnungen zu latent oder offen ausgelebter lesbischer Sexualität" vorbereitet. Als Beispiel wird Marlene Dietrich genannt, die in "Marokko" (1930) die tragende weibliche Hauptrolle als Garçonne verkörperte.

Der Bubikopf – eine lesbische "Maske" oder eine "Modenarrheit"?

Das neue Lebensgefühl der Zwanzigerjahre drückte sich auch in der Kleidung und durch die Frisur von Frauen aus. Die "neue Frau" trug Bubikopf und rauchte. Die "Vermännlichung" der weiblichen Mode wurde öffentlich diskutiert. Insbesondere Lesben wurde ein eher maskuliner Kleidungsstil zugeschrieben und so wurde auch der Hosenanzug zu einem Symbol des Lesbischen (Julia Hürner: "Lebensumstände lesbischer Frauen in Österreich und Deutschland – von den 1920er Jahren bis zur NS-Zeit", 2010, S. 17).

Der Bubikopf war eine Kurzhaarfrisur für Frauen, die von einem neuen Selbstbild beeinflusst war und im Europa der Zwanzigerjahre sehr beliebt wurde. Eine der berühmtesten Bubikopf-Trägerinnen dieser Zeit ist wohl die Schauspielerin Louise Brooks. Es ist nicht verwunderlich, dass der Bubikopf in der öffentlichen Wahrnehmung "auch" mit Lesben in Verbindung gebracht wurde, dennoch bin ich erstaunt, dass das "Neue Wiener Journal" (2. April 1924) in dem Artikel "Der Bubenkopf" (= "Bubikopf") diesen nur im Kontext von Vermännlichung, "Transvestiten" und "Masken der gleichgeschlechtlichen Liebe" behandelt. Trotz seiner Länge wurde der Artikel einen Monat später in der Homosexuellenzeitschrift "Die Freundschaft" (Mai 1924) vollständig nachgedruckt.

Zu diesem Artikel passt ein Satz über den Bubikopf aus einem Artikel in "Der Tag" (9. Oktober 1924), in dem betont wird, dass diese Frisur ursprünglich von Frauen getragen werde, von denen die "meisten (…) keinen Wert auf die homosexuelle, die maskuline oder kindliche Note" legten. Diese Äußerung lässt sich gleichermaßen als Negierung und Bestätigung eines auch lesbischen Klischees interpretieren. Zum Artikel wurde ein Foto abgedruckt, das in der Bildunterschrift den Bubikopf als "Modenarrheit" bezeichnet.


Ist der Bubikopf ein Symbol der "neuen Frau" oder doch nur eine "Modenarrheit"?

Dielen für Damen – Kneipen für Kameradinnen

Es gibt nur wenige Inserate von lesbischen Bars, die sich in den Homosexuellenzeitschriften des Jahres 1924 finden lassen – zumindest außerhalb der "Freundin", die mir für dieses Jahr zur Auswertung leider nicht vorlag. So gab es in Berlin neben "Verona. Domino. Die Diele der Dame" in der Marburgerstraße 13 ("Die Fanfare", Heft 47) das "Café Kobold" in der Holzmarktstraße 3, wo zunächst zwei (Heft 47) und kurz danach drei "Damenabende" pro Woche (Heft 51) angeboten wurden. Trotz der vergleichsweise wenigen Hinweise auf Lokale für Lesben im Jahr 1924 halte ich es dennoch für möglich, dass es in den Zwanzigerjahren in Berlin insgesamt "etwa 50 Lokalitäten für (ein) lesbisches Publikum" gab (Julia Hürner: "Lebensumstände lesbischer Frauen in Österreich und Deutschland – von den 1920er Jahren bis zur NS-Zeit", 2010, S. 16). Auch das oben behandelte "Eldorado" war offen für lesbische Gäste. Ich gehe jedoch – ähnlich wie bei den Lokalitäten für ein schwules Publikum – davon aus, dass es auch hier starke Fluktuationen gab und dass die einzelnen Bars nicht lange bestanden.

Wegen des liberalen Klimas in Berlin halte ich es für möglich, dass sich Schwule und Lesben auch in anderen Kneipen wohl fühlen konnten. Unter der Überschrift "Berliner Allerlei" beschrieb die "Bergisch-Märkische Zeitung" (27. Dezember 1924) die Atmosphäre in einem typischen Café mit einem Reim, wobei es sich dabei auch einfach nur um die Phantasie einer Provinzzeitung über das wilde Berlin handeln könnte: "Paar urnische Männlein, paar lesbische Weiber, Paar Reimer, paar Zoter, paar Schnüffler, paar Schreiber".


Werbung für "Verona. Domino. Die Diele der Dame"

Lesbische Theatergruppen – mit Tanz, Gesang und Rezitation

Zwei Werbeanzeigen enthalten Hinweise auf lesbische Theatergruppen. Die eine weist auf einen Auftritt der Kleinkunstgruppe "Lila Vogel" in der Lutherstraße 32 am Freitag, dem 2. Mai 1924 hin. Eine andere kündigt die Eröffnung eines "Damentreffpunkts" im "Nationalhof" am 30. September 1924 an, wobei die "Lila Kabarett-Bühne" mit einem Programm aus Tanz, Gesang und Rezitation auftreten sollte.


Ein Auftritt der "Lila Kabarett-Bühne" am 30. September 1924

Heike Schader (s. o.) erwähnt zwar noch eine Theatergruppe des Damenclubs Violetta (S. 241) und eine des Damenclubs Monbijou (S. 245), die es aber beide vermutlich 1924 noch nicht gab. Insofern lässt die derzeitige Quellenlage leider keine Beurteilung zu, ob es lesbische Theatergruppen gab, die mit der schwulen Theatergruppe "Theater des Eros", die ich in der vorletzten Folge dieser Serie behandeln werde, vergleichbar waren.

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Das "lasterhafte" Berlin der Lesben

Curt Moreck bietet in seinem oben erwähnten "Führer durch das 'lasterhafte' Berlin" (1931, hier zitiert nach der Neuausgabe 2018) auch einige Eindrücke aus der lesbischen Berliner Szene. Ich möchte Morecks Beschreibungen dreier Lokale für lesbische Frauen wiedergeben, die es auch schon 1924 gab:

Beim "Café Olala" (S. 139) in der Ziethenstraße sollte der Name, so Moreck, eigentlich ein Versprechen sein, "aber das Milieu stellt dieses Versprechen in Frage", denn es gebe hier eher "trübe Fensterscheiben", ungepflegte Räume und viele "Frauen mit dem horizontalen Handwerk". Zwei weitere Bars standen Schwulen und Lesben offen. Das Lokal "Dorian Gray" (S. 138) sei "eines der ältesten dieser Art, bereits geweihte Stätte des sapphischen Eros, an der aber auch dem mannmännlichen Bruder ein Gastrecht eingeräumt wird", wobei es aber eine strikte Trennung in Männer- und Damentage gebe (übrigens ganz im Gegensatz zur Werbung dieses Lokals, in der Schwule und Lesben gemeinsam feiernd dargestellt werden). Auch die "Verona-Diele" (S. 141-142) an der Kleiststraße, Ecke Eisenacher Straße sei für "Freundinnen, aber nicht ausschließlich" für diese. Als gemischtes Lokal kann die "Nürnberger Diele" ergänzt werden.


Orte für schwule Herren und lesbische Damen: die "Nürnberger Diele" und das "Café Dorian Gray"

Eine (auch) lesbische SM-Bar – für die erotischen Jüngerinnen Sapphos

In den sozialdemokratischen Zeitungen "Volkswacht" (26. Juli 1924) und "Essener Arbeiterzeitung" (1. August 1924) erschien der Artikel "In der Folterkammer", der eine SM-Bar in einer nicht genannten Großstadt beschreibt. In einem Zimmer, dekoriert mit Peitschen, Maulkörben und "Nachbildungen menschlicher Körperteile" (Dildos), stehe eine Art Operationstisch mit Lederkissen. All das sei nur für "den normalen Menschen ganz ohne sexuelle Schwüle". Die hier möglichen sexuellen Handlungen werden dezent beschrieben und es wird ausdrücklich betont, dass die "lesbische Liebe" hier "leidenschaftlich gepflegt" werde. In einem Schrank, einer Art "anatomisches Museum", würden daher auch "Hilfsmittel (Dildos) der erotischen Jüngerinnen Sapphos von Lesbos" aufbewahrt. (Die antike griechische Dichterin Sappho gilt als eine Art Ur-Mutter aller Lesben und stammte von der griechischen Insel Lesbos, die der lesbischen Liebe ihren Namen gab.) Am Ende verweist der Artikel auf so unterschiedliche Personen wie den Mörder Fritz Haarmann, den Sexualwissenschaftler Richard von Krafft-Ebing und den Wandervogel-Autor Hans Blüher. Der Artikel ist außergewöhnlich, bisher sind mir keine weiteren Quellen bekannt, die auf eine schwule oder lesbische SM-Szene in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg verweisen.


Zeitungsartikel über die Dildos der "erotischen Jüngerinnen Sapphos von Lesbos" (26. Juli 1924)

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