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Roman
Schmerzhafte Rückkehr zur ersten und einzigen Liebe
Im beeindruckenden Debütroman "An Rändern" von "Close"-Autor Angelo Tijssens kommt ein junger Mann nach zehn Jahren zurück in seine Heimat. Die Begegnung mit dem Ex tut gut und weh zugleich, die Erinnerung an die gewalttätige Mutter ist ausschließlich schmerzvoll.

Angelo Tijssens im Dezember 2022 bei der Verleihung des 35. Europäischen Filmpreises in Reykjavik (Bild: IMAGO / Future Image)
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13. Februar 2024, 10:21h 3 Min.
Es schüttet, es windet. Der Sturm am Himmel will sich nicht legen. Der Sturm im Inneren des namenlosen Ich-Erzählers jedoch schon, zumindest langsam, sobald er seiner ersten, seiner einzigen großen Liebe in dem kleinen Bungalow an der Küste gegenübersitzt. Lange hat er gezögert, ob er wirklich hierherfahren soll. Wozu, weshalb? Er hat keine richtige Antwort darauf, außer der Sehnsucht in ihm. Der Kamin knistert, der Hund hat sich in seinen Schoß gelegt. Zehn Jahre ist es her. Lange Zeit, sagt er. Lange Zeit, antwortet sein Gegenüber.
Die Rückkehr in die Heimat ist eine gern gewählte Ausgangslage für Romane oder Filme, vor allem für queere Figuren. Den alten Fesseln entkommen, das Leben endlich unabhängig und eigenmächtig gestaltet, Sehnsüchte ausgelebt – und dann die Konfrontation mit der Vergangenheit. Ein Kontrast, der funktioniert. Doch selten wurde diese Geschichte so beeindruckend und frisch erzählt wie in Angelo Tijssens' Debütroman "An Rändern" (Amazon-Affiliate-Link ).
Die Mutter trinkt und schlägt den Sohn

Der Roman "An Rändern" ist am 13. Februar 2024 bei Rowohlt erschienen
Dass es sich um ein besonderes Buch handelt, wird schon beim Durchblättern deutlich. Es gibt keine Seitenzahlen, und die Zeilen sind nicht symmetrisch gesetzt, der Text ist an den oberen rechten Rand verschoben: Eine Spielerei in Anlehnung an den Titel und/oder ein werkinterner Paratext, der auf die Unausgeglichenheit der Hauptfiguren verweist, auf ihr Nicht-Angekommen-Sein.
Besonders ist auch, dass Angelo Tijssens die Erzählperspektive wechselt: (Fast) immer wechseln sich von Kapitel zu Kapitel ein Ich-Erzähler und die sonst eher seltene Du-Ansprache ab. Das ist zunächst irritierend, sorgt aber für eine große Intimität.
In der Du-Perspektive wird die Figur direkt angesprochen: So werden Erinnerungen an die Vergangenheit geweckt, an eine offenbar alleinerziehende Mutter, die nach Wein und Zigaretten riecht und zu Gewaltausbrüchen neigt. Es sind kleine Szenen, die von einer fürchterlichen Kindheit berichten, von Narben, über die geschwiegen wird, von Schuldzuweisungen – von Verzweiflung auf beiden Seiten, von Angst auf einer.
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Der erste Roman des "Close"-Drehbuchautors
Der Ich-Erzähler beschreibt dazu abwechselnd seine Rückkehr in den Ort, an dem er aufgewachsen ist. Die Läden, die jetzt leer stehen, die Kreuzung, an der ein Mitschüler überfahren wurde. Die Begegnung mit der ersten Person, die er geliebt hat, nimmt am meisten Raum ein. Nach anfänglichem Zögern ist da wieder etwas zurück, was offenbar nie ganz weg war.
Der Belgier Angelo Tijssens ist vor allem für seine Drehbücher zu den queeren Filmen "Girl" oder zuletzt "Close" bekannt, die der Regisseur Lukas Dhont inszenierte. Seinen Debütroman schreibt er in einer ruhelosen und hastigen Sprache, die es schwer macht, das schmale Buch überhaupt aus der Hand zu legen. Seine Beschreibungen sind präzise und knapp zugleich. Tijssens reduziert "An Rändern" auf das Wesentliche und bleibt dabei elliptisch, viele Hintergründe sind, wenn überhaupt, angedeutet. Die Selbstreflexion der Hauptfigur kommt dennoch nicht zu kurz.
Wie der Ich-Erzähler von seinen (Sex-)Dates – viele namenlos, oft das Handtuch im Bett schon bereitliegend, manchmal Tränen auf dem Heimweg – schreibt, ist so authentisch, dass es lustig und entlarvend zugleich ist. "An Rändern" ist ein absolut beeindruckendes Buch. Auf weniger als 130 Seiten schafft Angelo Tijssens eine bewegende Auseinandersetzung mit den vielen Traumata der Vergangenheit, vom Verletzt- und Verlassenwerden, von Einsamkeit und Ablehnung – zutiefst queeren Themen also. Die Geschichte zeugt von der Stärke, die trotz aller Widrigkeiten entstehen kann, die aber nach wie vor fragil sein kann – und darf.
Angelo Tijssens: An Rändern. Roman. Übersetzt von Stefanie Ochel. 128 Seiten. Rowohlt Buchverlag. Hamburg 2024. Gebundene Ausgabe: 22 € (ISBN 978-3-498-00400-2). E-Book: 19,99 €
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