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Folge 8 von 10

Schwules Leben vor 100 Jahren: Literatur

1924 publizierte Thomas Mann "Der Zauberberg" und sein Sohn Klaus Mann fing an zu schreiben. Oscar Wildes "De Profundis" erschien erstmals vollständig in deutscher Sprache.


Der junge Schriftsteller Klaus Mann (1906-1949) mit Zigarette (Bild: Monacensia)

Homosexuelle Belletristik in der Weimarer Republik

Mittlerweile gibt es mehrere wissenschaftliche Werke, die sich mit der schwulen Literaturgeschichte der Weimarer Republik beschäftigen, wie z. B. Marita Keilson-Lauritz' Dissertation "Die Geschichte der eigenen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung" (1997). Die Bewertung von dem, was in der Weimarer Republik an schwuler Literatur möglich war und erschien, bleibt jedoch subjektiv. Als Beispiele gehe ich zunächst auf die beiden Literaturwissenschaftler René Kallinger und Wolf Borchers ein, die in ihren Arbeiten zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Danach stelle ich alphabetisch die – nicht unbedingt zeitgenössischen – Autoren vor, deren Werke in homosexuellem Zusammenhang 1924 veröffentlicht oder rezipiert wurden.

In diesem Kontext ist erwähnenswert, dass in der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik die Anfänge von Verlagen zu finden sind, die einen Schwerpunkt auf homosexuelle Literatur legen wollten. Max Spohr "war ab 1893 der erste und seinerzeit einzige deutsche Buchhändler und Verleger, welcher im nennenswerten Umfang offene Publikationen rund um das Thema Homosexualität veröffentlichte" (Wikipedia). Weitere kamen in der Weimarer Republik hinzu: Dazu gehört der Steegemann-Verlag, der 1919 von Paul Steegemann in Hannover gegründet wurde (s. queer.de). Im selben Jahr gründete Karl Schultz seine "Karl-Schultz-Verlagsgesellschaft", in der er Homosexuellenzeitschriften herausgab (Wikipedia), ähnlich wie Friedrich Radszuweit, der ebenfalls einen Verlag gründete, den er später zu einer Verlags-Buchhandlung ausbaute.

René Kallinger – die Weimarer Republik als Blütezeit der schwulen Literatur

Nach René Kallinger ("Freundesliebe – Liebesfreuden?! Die Darstellung männlicher Homosexualität in der Literatur der Weimarer Republik", Diplomarbeit, 2011) war die Weimarer Epoche "eine Blüte- und Hochzeit der schwulen Literatur" (S. 55). Damals sei "eine selbstverständliche Unbefangenheit in der Gestaltung des Themas" erreicht worden (S. 56). Einige Romane seien humorvoll bzw. satirisch. "Einige Autoren machten sich auf, die homosexuelle Identität zu ergründen, unternahmen Versuche der Selbstbehauptung und Selbstbefreiung" (S. 56). Nie zuvor sei die Sexualität als Teil der Identität schwuler Männer so in den Fokus der literarischen Aufmerksamkeit gestellt worden, so dass sich "eine charakteristische neue Deutlichkeit in der Darstellung der Gleichgeschlechtlichkeit" ergeben habe (S. 83). "Was die Tiefe, die Vielschichtigkeit und vor allem die Einzigartigkeit der in ihr dargestellten Charaktere anging, setzte die schwule Literatur der Weimarer Republik ganz gewiss neue Maßstäbe." "Nie zuvor in der Geschichte der schwulen deutschen Literatur hat diese so viele unterschiedliche und vor allem realistische Lebensmodelle aufgezeigt (…). Hier setzten die Autoren der Weimarer Zeit neue Maßstäbe. Neu war schließlich auch, dass man begonnen hat, homo- und heterosexuelle Charaktere als Personen mit den selben Zielen, Sorgen und Bedürfnissen darzustellen" (S. 178-179). Die Autoren hätten einen Aufbau des Selbstbewusstseins und einen Abbau von Vorurteilen erreicht. Das "bleibt ihr größter [richtig: größtes] Verdienst" (S. 180).

Wolf Borchers – nur traditionsverhaftete, sentimentale Erbauungsliteratur

Wolf Borchers kommt in "Männliche Homosexualität in der Dramatik der Weimarer Republik" (Dissertation, 2001) zu einer anderen Bewertung: "Die Mehrzahl der originär homoerotischen Literatur der jungen Republik bietet ein traditionsverhaftetes Bild. Als habe keine Revolution stattgefunden, gleicht der Tenor der Werke einer sentimentalen Erbauungsliteratur, erhaben über jegliche Realität von Krieg, Chaos, Inflation – und damit auch der Radikalität einer sexuellen Befreiung" – als Beispiel nennt er u. a. die "Ephebische Trilogie" (1924) von Albert H. Rausch. Die Romane bewegten sich allesamt im Aristokraten- oder Künstlermilieu und spielten vorwiegend in historischer Vergangenheit. Entweder werde von den homosexuellen Protagonisten ein sentimentaler Verzicht (zuweilen mit anschließendem Selbstmord) geübt oder es werde ein Happy End geboten, das jedoch "der Manier von Trivialromanen gleicht". "Die Konflikte sind zumeist außerordentlich konstruiert und kolportagehaft – mit den gesellschaftlichen Problemen der Zeit haben sie jedenfalls wenig zu tun. Entsprechend haben die Figuren sämtlich ein elitäres Gepräge, sind (…) von rührender Isoliertheit. Die sexuelle Praxis bleibt vorwiegend aus der Darstellung ausgeklammert. (…) Letztlich werden (…) konventionelle Sentiments fortgeschrieben, die gesellschaftliche Situation in Selbstmitleid sublimiert bzw. der Ausweg in die Irrealität gesucht" (S. 117).

Hugo Bettauer: "Das entfesselte Wien" und "Die Menschenfalle"

Hugo Bettauer (1872-1925) war ein österreichischer Schriftsteller und Drehbuchautor. Acht seiner Romane wurden verfilmt, darunter "Die freudlose Gasse" (1924). In der Verfilmung von Georg Wilhelm Pabst von 1925 feierte Greta Garbo ihr internationales Leinwanddebüt. Ab 1924 gab Bettauer die Zeitschrift "Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik" heraus, in der er sich in scharfer Form gegen die strafrechtliche Verfolgung von Homosexualität einsetzte (Wikipedia). Wegen "Anpreisung" und "Rechtfertigung" der Homosexualität ("Illustrierte Kronen-Zeitung", 19. September 1924) wurde ihm im September 1924 der Prozess gemacht, der mit einem Freispruch endete.

Trotz dieses Prozesses fand der Autor 1924 die Zeit, noch mindestens sechs Bücher zu veröffentlichen. In "Das entfesselte Wien. Ein Roman von heute" (1924) sollen Jutta und die Komtesse Magda Huttwitz ein lesbisches Verhältnis haben. Anfang 1924 erschien Hugo Bettauers Novelle "Die Menschenfalle" in der Wiener Zeitung "Der Tag" (23. März 1924). Darin schildert er recht empathisch das Leben des 39-jährigen Kaufmanns Emil G., der wegen seiner Homosexualität erpresst wird und sich deshalb das Leben nimmt.

Nimmt man Bettauers (später noch zu behandelndes) Drama "Die blaue Liebe" und ein Kabarett-Programm dazu, gibt es kaum einen Autor aus der Zeit Mitte der Zwanzigerjahre, in dessen Werk Homosexualität einen so breiten Raum einnahm und der Homosexualität so leidenschaftlich verteidigte.


Artikel gegen die strafrechtliche Verfolgung von Homosexualität, erschienen in "Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik" (1924)

Erich Ebermayer: "Dr. Angelo" – vorsichtige Thematisierung der eigenen Lebensproblematik

Erich Ebermayer (1900-1970) war ein deutscher Schriftsteller, der zu mehreren schwulen Männern, wie dem Reformpädagogen Gustav Wyneken, den er seit Mai 1923 kannte, in freundschaftlichem Kontakt stand. Als 23-Jähriger veröffentlichte Erich Ebermayer "Dr. Angelo. Drei Novellen" (1924), worin er "bereits seine eigene Lebensproblematik, die Homosexualität, vorsichtig thematisierte". Hier gibt ein Mann "angesichts einer Schwärmerei für männliche Jugendliche (…) sein bisheriges Dasein zugunsten eines kurzen, verbotenen Glücks" auf und gerät "in einen Teufelskreis aus Verleumdung und Meidung" (Wikipedia). Das Werk zeigt Einflüsse von Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig". Mit Thomas Manns Sohn Klaus Mann war Ebermayer seit Anfang der Zwanzigerjahre befreundet (Bernd-Ulrich Hergemöller: "Mann für Mann", 2010, Teilband 1, S. 278).

Erich Ebermayers Vater war Ludwig Ebermayer (1858-1933), der von 1921 bis 1926 Oberreichsanwalt war. Unter der Überschrift "Oberreichsanwalt Ebermayer tritt für die Schuldlosigkeit der Homosexuellen ein" erschien ein Artikel in der Homosexuellenzeitschrift "Die Fanfare" (Jg. 1924, Heft 27), in dem eine Äußerung von ihm als Erfolg der Homosexuellenbewegung interpretiert wird. Zwischen den Veröffentlichungen des Sohnes und des Vaters über Homosexualität im selben Jahr ist ein Zusammenhang zumindest vorstellbar.


Foto von Erich Ebermayer (l.) und seinem Vater (r.), 1922

Karl Eske: "Roupy" und der Aufrausch der Lust

Der heute weitgehend vergessene Autor Karl Eske (1890-?) hat mit seiner Erzählung "Roupy" über mehrere Jahrzehnte hinweg unter Schwulen Aufmerksamkeit erregt. Sie erschien erstmals 1924 in der Homosexuellenzeitschrift "Der Eigene" (Jg. 1924, Heft 3, S. 133-136) und handelt von zwei Soldaten im Ersten Weltkrieg, von denen einer am Ende den Tod findet. Die offene Schilderung ihres sexuellen Verhältnisses ist außergewöhnlich: Sie "lagen in enger Umarmung" und "atmeten die Welt ihres Körperduftes". Die Rede ist von der "Ergebenheit des Empfangens" und dem "höchsten Aufrausch der Lust". Die Formulierung "Sie schieden voneinander in dem Wissen, daß ihr Erleben einzig war und keine Wiederholung hatte" verweist auf das, was heute als "One-Night-Stand" bezeichnet wird.

In der Schweizer Homosexuellenzeitschrift "Der Kreis" wurde die Novelle nicht nur während des Zweiten Weltkrieges nachgedruckt (Jg. 1943, Heft 4, S. 5-7), sondern sie erschien hier später auch in englischer Übersetzung (Jg. 1959, Heft 6, S. 33-35). Weitere zwei Jahrzehnte später erschien der Text auch in der Anthologie "Der heimliche Sexus" (1979, S. 11-15). Die Angaben des Herausgebers Joachim S. Hohmann über weitere Veröffentlichungen des Autors (S. 283) können nicht bestätigt werden.

Eugen Ludwig Gattermann – "Die Erlösung der Freunde" und ein schwuler Herzog

Eugen Ludwig Gattermann (1886-1934) veröffentlichte seit 1913 Gedichte, davon ungefähr 20 in der Zeitschrift "Der Eigene". Sein Roman "Die Erlösung der Freunde" (1921) enthält eine Einleitung von Magnus Hirschfeld. Hirschfeld wies später auf die Probleme hin, die der Autor bekam, weil ihm wegen dieses Romans "Verbreitung unzüchtiger Schriften" vorgeworfen wurde (Magnus Hirschfeld: "Von einst bis jetzt", 1986, S. 70-71). Dabei ist dieser Roman eigentlich nur schwuler Kitsch, oder anders ausgedrückt: Dieser "Trivialroman" ist ein "typisches Beispiel der neuen Massenliteratur, die den 'Freundschaftseros' als Themenbereich für populäre Unterhaltungs- und Erbauungsliteratur entdeckt und verwertet" hat (Ausstellungsband "Goodbye to Berlin", 1997, S. 105).

Im "Eigenen" wurde Gattermann von Hannes Heyl (Jg. 1921/22, S. 29-31) porträtiert, er kommt aber hier auch ausführlich selber zu Wort: "Als ich meinen jungen Freund kennen lernte, kam endlich Sonne in mein Leben." Nur anfangs sei er der Ansicht gewesen, "dass Freundschaft keine Erotik in sich bergen dürfte".

Im "Eigenen" publizierte Gattermann 1924 u. a. acht Gedichte (S. 171 ff., 203 ff.) und "Kulturpolitische Briefe" (S. 357 ff.). Besondere Beachtung verdient seine dort abgedruckte Erzählung "Der Geiger des Herzogs von Aosta" (S. 340-356). Bei mehreren Autoren habe ich den Hinweis gefunden, dass diese Geschichte von der Ufa noch im selben Jahr "bereinigt" verfilmt worden sei, wozu ich jedoch keine belastbaren Quellen recherchieren konnte.


Eugen Ludwig Gattermann veröffentlichte Gedichte und erzählte von seinem Freund

Franz Grillparzer: "Sappho" – gemeinsames Leben "trauter Schwestern"

Die antike griechische Dichterin Sappho aus Lesbos (lebte ca. 600 v. Chr.) kann als eine Art Urmutter aller Lesben bezeichnet werden. Die Bezeichnung "lesbische" Liebe basiert auf dem Namen der Insel, von der sie stammte. Über den österreichischen Dramatiker Franz Grillparzer (1791-1872) und sein Drama "Sappho" (1819) habe ich hier auf queer.de bereits einen Artikel geschrieben und dabei auch auf Angela Steideles Äußerungen dazu in ihrer Dissertation "'Als wenn Du mein Geliebter wärest'. Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750-1850" (2003, S. S. 135-146) verwiesen. Auf überzeugende Weise verortet sie Grillparzers "Sappho"-Drama im Vergleich zu "Sappho"-Dramen anderer Autoren und weist dabei auf Sapphos Wunsch hin, mit ihrer Gefährtin Melitta als "traute Schwestern" zu leben. Grillparzers Theaterstück kam auch 1924 einige Male zur Aufführung, so in Neuerburg bei Bitburg ("Kölnische Zeitung", 3. Juni 1924), ohne dass in der Ankündigung allerdings der homosexuelle Aspekt thematisiert wurde.

Es lohnt sich ein kurzer Hinweis auf eine andere Sappho-Erwähnung: 1894 hatte der französische Autor Pierre Louÿs (1870-1925) behauptet, die von ihm verfassten "Lieder der Bilitis" (hier Ausgabe von 1900) seien Übersetzungen der Gedichte einer Frau namens Bilitis, die eine Zeitgenossin und Bekannte von Sappho gewesen sei. In den Gedichten ging es auch um die lesbische Liebe von Bilitis zu Mnasidika. Nachdem die Fälschung aufgeflogen war, wurde das Buch weiterhin vermarktet und hieß nun korrigierend "Lieder der Bilitis. Freie Nachdichtung nach Pierre Louys" (1923, 1930). Anlässlich der Neuausgabe von 1923 verwies u. a. der "Remscheider Generalanzeiger" (18. September 1924) noch einmal auf Pierre Louÿs' Fälschung.


Grillparzers lesbische Andeutungen in seinem "Sappho"-Drama

John Henry Mackay: "Die Bücher der namenlosen Liebe"

John Henry Mackay (1864-1933) wurde sich mit Hilfe von Krafft-Ebings "Psychopathia sexualis" seiner Homosexualität bewusst und nahm 1905 mit der frühen Homosexuellenbewegung Kontakt auf. Sein Leben ist durch Hubert Kennedys Biografie "John Henry Mackay (Sagitta). Anarchist der Liebe" (2007) gut erschlossen. Kennedy weist darauf hin, dass das Pseudonym "Sagitta" zwar schon in Prozessen gegen Mackay 1908/1909 gelüftet, aber wohl vor allem durch Emil Szittyas Buch "Das Kuriositäten-Kabinett" (1923) bekannt wurde.

Während Mackay seinen ersten Roman "Der Schwimmer. Die Geschichte einer Leidenschaft" (1901) unter seinem Namen veröffentlichte, verwendete er für andere Schriften über die "namenlose" oder "griechische" Liebe, d. h. die Zuneigung erwachsener Männer zu männlichen Adoleszenten, das Pseudonym Sagitta (= Pfeil). Dazu gehören "Die Bücher der namenlosen Liebe" (1913), die vor allem bei Wandervögeln sehr beliebt gewesen sein sollen und 1924 in einer vermehrten, revidierten und endgültigen Ausgabe erschienen. Zwei Jahre später folgte "Der Puppenjunge. Die Geschichte einer namenlosen Liebe aus der Friedrichstraße" (1926).

Einige seiner Werke erschienen ab den Siebzigerjahren als Reprint. Bei Männerschwarm sind Hubert Kennedys Mackay-Biografie sowie von Mackay selbst "Fenny Skaller" (2007, das dritte Buch der "Bücher der namenlosen Liebe"), "Zwanzig Gedichte" (2007) und "Der Puppenjunge" (2022) erschienen. Sehr zu empfehlen sind auch die Ausführungen von Wolfgang Popp über Mackay in seinem Buch "Männerliebe. Homosexualität und Literatur" (1992, S. 32-40, 156-163).


John Henry Mackay: "Die Bücher der namenlosen Liebe" (1924)

Thomas Mann: "Der Zauberberg" – ein Bleistift als Phallus

Der Schriftsteller Thomas Mann (1875-1955) war einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts. Seine Schwärmereien für Jünglinge bzw. junge Männer fanden in seinen Werken "Buddenbrooks" (1901), "Tonio Kröger" (1903) und vor allem in seiner Novelle "Der Tod in Venedig" (1911) literarischen Niederschlag.

Im November 1924 erschien Manns neuer Roman "Der Zauberberg". Er war von einem Davoser Sanatorium inspiriert worden, das Thomas Mann 1912 bei einem Besuch seiner lungenkranken Ehefrau kennengelernt hatte. Im Roman (hier zitiert nach der Ausgabe des S. Fischer-Verlags von 1929, S. 160-164) ist der junge Hans Castorp zur Behandlung in diesem Sanatorium und erinnert sich dort an sein Verhältnis zu Pribislav Hippe, das er in seinem 13. bis 15. Lebensjahr hatte. Hans hat Pribislav heimlich beobachtet und bewundert. Dabei hat er sich "wenig Sorge um die geistige Rechtfertigung seiner Empfindungen oder gar darum, wie sie etwa notfalls zu benennen gewesen wären", gemacht. Erst nach zwei Jahren hatte er den Mut, Pribislav anzusprechen und dabei auch "Nähe und Körperlichkeit" zu suchen. Hans hatte in der Zeichenstunde seinen Bleistift vergessen und bat Pribislav darum, ihm einen auszuleihen. Er bekam einen Bleistift mit einer Bleistiftverlängerung, woran ein Ring befestigt war, "den man aufwärts schieben musste, damit der rot gefärbte Stift aus der Metallhülse wachse". Pribislav erläuterte den Mechanismus, "während ihre beiden Köpfe sich darüberneigten".

Dieser Bleistift mit der Verlängerung wird für Hans "fast zur Reliquie und weckt durch seine Größe und Gestalt phallische Assoziationen" (Wikipedia). Die sexuelle Bedeutung dieser Szene wird – so Wikipedia – auch dadurch klar, dass sich später der erwachsene Hans auch von einer geliebten Frau einen Bleistift ausleiht, der aber "dünn und zerbrechlich" ist.


Die Bleistift-Szene aus Thomas Manns "Der Zauberberg" in der Verfilmung von 1981

Wie andere Werke von Thomas Mann wurde auch "Der Zauberberg" mehrfach verfilmt. In "Der Zauberberg" (1981, 00:00-1:45 Min.) ist die (kongenial umgesetzte) Filmszene mit dem phallischen Bleistift gleich am Anfang des Films zu sehen, was die große Bedeutung verdeutlicht, die ihr von dem Regisseur Hans W. Geißendörfer (Produzent der "Lindenstraße" ab 1985) beigemessen wurde. Im Vergleich zu anderen Texten, in denen Thomas Mann homoerotische Empfindungen umschreibt oder auf die Mittel der Travestie und der literarischen Maskierung ausweicht, ist diese Szene erstaunlich direkt sexuell angelegt. Sie hat wohl nur deshalb nicht zu Protesten geführt, weil der Autor hier sexuell noch nicht gefestigte Kinder bzw. Jugendliche darstellte. Wolfgang Popp geht in "Männerliebe. Homosexualität und Literatur" (1992, S. 389-392) übrigens nicht auf den Bleistift ein, sondern vor allem auf das Thema Krankheit, die bei Mann eine Metapher für Homosexualität ist.

Klaus Mann – der Beginn seiner Karriere


Ein Foto von Klaus Mann in der Homosexuellenzeitschrift "Der Eigene" (1925)

Klaus Mann (1906-1949) war der älteste Sohn von Thomas Mann. Seine ersten homo­erotischen Begegnungen hatte er wohl in der Odenwaldschule, die er von September 1922 bis Juni 1923 besuchte. In dieser Schule verliebte er sich in seinen Mitschüler Uto Gartmann. Im Juni 1924 verlobte sich Klaus Mann mit seiner Jugendfreundin Pamela Wedekind, der älteren Tochter des Dramatikers Frank Wedekind. Im selben Monat veröffentlichte der 17-Jährige die Erzählung "Nachmittag im Schloß" (Abdruck in "Westfälische Neueste Nachrichten", 21. Juni 1924). Eine frühere Veröffentlichung von ihm ist nicht bekannt.

Klaus Manns erster Roman "Der fromme Tanz" (Oktober 1925) gilt als einer der ersten deutschsprachigen Homo­sexuellen-Romane, mit ihm bekannte sich der Autor öffentlich zu seiner Homosexualität. Die Reaktionen auf diesen Roman waren gemischt: Für das "Volksblatt" (8. Januar 1926) war es das beste Buch des Jahres. Die "Westfälische Zeitung" (10. März 1926) äußerte sich über die Geschichte des 19-jährigen Künstlers (= Klaus Mann), der sein Vaterhaus verlässt und sich in Berlin und Paris "in zweifelhaften Pensionen, in Kabaretts, Kaschemmen unter geschminkten homo- und bisexuellen Herrchen und Dämchen" herumtreibt, kritisch. Für das "Westfälische Volksblatt" (1. November 1926) zeigt der Roman nur ein "haltloses Schwanken zwischen unnatürlichem Triebleben und moralischer Verantwortungslosigkeit". In der Homo­sexuellenzeitschrift "Der Eigene" erschienen im Dezember 1925 (Heft 12) ein "Abschnitt aus einem Entwicklungsroman" (S. 532-534), ohne Nennung des Titels, und ein Foto von Klaus Mann (S. 531). Im Gegensatz zu seinem Vater Thomas Mann lebte Klaus Mann seine Homosexualität aus; seine homo­sexuellen Beziehungen wurden von seinem Vater offenbar toleriert.

Albert H. Rausch: "Ephebische Trilogie" – Jünglingsliebe als Blut- und Boden-Kitsch?

Albert Heinrich Rausch (1882-1949) war ein Schriftsteller, der unter seinem Pseudonym Henry Benrath einige homo­erotische Novellen und Erzählungen veröffentlichte, wie "Jonathan/Patroklos" (1916), "Eros Anadyomenos" (1927) und "Märchen unter Palmen" (1928). Für Wolfgang Popp ("Männerliebe. Homosexualität und Literatur", 1992, S. 276) sind seine Erzählungen literaturgeschichtlich von "sekundärer oder marginaler Bedeutung" und seine Texte spielen in der schwulen Literaturgeschichte sogar eine "unangenehme Rolle", weil der Autor homo­erotische Männerfreundschaften mit "nationalistischem Größenwahn" koppelt.

In "Ephebische Trilogie" (1924) variiert der Autor die Liebe des gereiften Mannes zum ephebenhaften Jüngling. Wolfgang Popp ist nicht der Einzige, der die Ansicht vertrat, dass Rausch auch bei diesem Werk "spürbar in Blut- und Boden-Kitsch" verfalle (S. 277). Der zeitgenössische Rezensent Christian von Kleist lobte die Trilogie ("Der Eigene", Jg. 1925, Heft 10, S. 487), weil sie "unmittelbar im Gefühl" und doch dezent und diskret sei. Über Rauschs Bedeutung in der frühen Homo­sexuellenbewegung erfährt man einiges in der Dissertation "Die Geschichte der eigenen Geschichte" (1997) der Literaturwissenschaftlerin Marita Keilson-Lauritz. Zu Rausch liegen mittlerweile einige Forschungen vor. Für den Sammelband "Albert H. Rausch. Henry Benrath. Ein vergessener Dichter?" (2002) steuerte Marita Keilson-Lauritz einen Aufsatz über Rauschs Stellung in der schwulen Literaturwissenschaft bei.

Hans Siemsen: "Das Tigerschiff" mit zarten Jungensgeschichten

Mit dem Werk des faszinierenden Schriftstellers Hans Siemsen (1891-1969) habe ich mich hier auf queer.de anlässlich seines 50. Todestages schon einmal befasst. Dabei ging es auch um seine Geschichten in dem Band "Das Tigerschiff" (1923), die sehr schön homo­erotische Stimmungen im Kontext von Freundschaften aufgreifen. Der Untertitel "Jungensgeschichten" wird heute wohl schon fast reflexhaft mit sexuellem Missbrauch assoziiert, was jedoch nicht gerechtfertigt ist. Dieses Werk ist im legalen und legitimen Bereich: Es geht um schüchterne Blickkontakte (S. 16), Küsse auf einem Fußballplatz (S. 27) und um fünf Jungen zwischen elf und 16 Jahren, die untereinander Zärtlichkeiten austauschen (S. 30-33). Die zarten Zeichnungen der Künstlerin Renée Sintenis sind eine gute Ergänzung zu den Stimmungen der Texte.

In seiner Anthologie "Der heimliche Sexus. Homo­sexuelle Belletristik in Deutschland von 1900 bis heute" (1979, S. 23, 55, 69) druckte der Herausgeber Joachim S. Hohmann gleich drei dieser Geschichten erneut ab. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Popp beschreibt Siemsen in seinem Buch "Männerliebe. Homosexualität und Literatur" (1992, S. 324-327) als einen Autor, der sich im Berlin der Zwanzigerjahre einen Namen machte: als offen auftretender Homo­sexueller, als engagierter Kämpfer gegen den § 175 und als literarisch sensibler Darsteller von Jungsgeschichten. Die Originalausgabe von "Das Tigerschiff" von 1923 ist heute unerschwinglich und selbst der Reprint von 1982 wird zurzeit nicht angeboten.


Der Reprint von "Das Tigerschiff" (1923) mit einer Zeichnung von Renée Sintenis und ein Foto des Autors Hans Siemsen

Bruno Vogel: "Es lebe der Krieg" – Gerichtsurteile über schwules "Geficke"

Das Leben des anarchistischen und pazifistischen Schriftstellers Bruno Vogel (1898-1987) ist mittlerweile durch Raimund Wolferts Biografie "Nirgendwo daheim. Das bewegte Leben des Bruno Vogel" (2012) gut erschlossen. Bereits um 1920 hatte Vogel einen Konflikt mit seinen Eltern, die ihn mit einem Freund im Bett erwischten und ihn daraufhin rauswarfen. Um 1922 gründete er die Leipziger Homo­sexuellenorganisation "Gemeinschaft Wir".

Bereits mit seiner ersten Veröffentlichung erregte Vogel Aufsehen: Sein Erzählband "Es lebe der Krieg!" (Dezember 1924, 2. Aufl. 1925) prangert den Ersten Weltkrieg an und handelt am Rande auch von Homosexualität. Seine Sprache ist dabei schonungslos offen und so ist auch von einem "schwules(n) Anarchistengeficke" die Rede. Dabei gibt sich Vogel, so Wolfert (S. 13), auch "unmissverständlich als homo­sexueller Mann und Autor zu erkennen", wobei mir unklar ist, ob der Ich-Erzähler mit dem Autor unbedingt gleichgesetzt werden sollte. "Es lebe der Krieg!" wurde als "unzüchtig" beschlagnahmt, wobei es vor allem um die Episode "Der Heldentod des Gefreiten Müller III" und die dort verwendeten Wörter wie "ficken" und "Schwanz" ging, die in der Schrift in erster Linie im nicht-homo­sexuellen Kontext verwendet wurden.

Trotz mehrerer ihn entlastender Gutachten, u. a. von Magnus Hirschfeld und Thomas Mann, wurde Vogel im Januar 1926 vom Leipziger Schöffengericht zu einer Geldstrafe verurteilt und erst im Berufungs­verfahren im März 1929 vom Landgericht Dresden freigesprochen. Der Roman blieb in der Weimarer Republik verboten und konnte als dritte und vierte Auflage (1926, 1929) nur zensiert erscheinen. Die dritte Auflage enthielt ein Beiblatt mit einer Auflistung der im "Buch schwarz überdruckten Textteile", unter denen auf Seite 43 auch "schwules … geficke" aufgelistet ist. Von den vielen Zeitungsartikeln, die zu den Verhandlungen erschienen sind, möchte ich nur auf den in der Wiener "Arbeiter-Zeitung" (16. Januar 1926) hinweisen, der sehr ausführlich das Wort "ficken" zu legitimieren versucht, ohne es selbst zu verwenden.

Vogels Verbindung zu Hirschfeld und zum Wissenschaftlich-humanitären Komitee zeigte sich auch, als er in der sozialdemokratischen "Salzburger Wacht" zwei Beiträge über "Sexualprobleme" (ohne Homosexualität) schrieb (23. November 1924 und 6. Dezember 1924). Darin nutzte er die Möglichkeit, für mehrere Bücher des SPD-Mitglieds Magnus Hirschfeld zu werben, darunter "Was soll das Volk vom dritten Geschlecht wissen?" (1911), "Die Homosexualität des Mannes und des Weibes" (1914) und "Naturgesetze der Liebe" (1912).

Auch Vogels späterer Roman "Alf" (1929, 1931) versteht sich als Buch gegen den Krieg, er ist außerdem gegen den § 175 RStGB gerichtet. Von den diversen Reprints kann ich den des Männerschwarm-Verlags aus dem Jahr 2011 empfehlen, der auch noch weitere Texte von Bruno Vogel und ein Nachwort von Raimund Wolfert enthält.


Vogels Umgang mit Zensur: ein Zettel mit den geschwärzten Stellen seines Buches "Es lebe der Krieg!"

"Das Bildnis des Dorian Gray" – es erfasst die Seele Oscar Wildes

Auf die Verurteilung Oscar Wildes und die tolle Biografie von Frank Harris bin ich bereits im 2. Teil dieser Serie eingegangen. Wildes Drama "Salome" und Carl Sternheims Drama "Oscar Wilde" (1924) werde ich im Kapitel "Theater" behandeln. Hier geht es mir um zwei andere literarische Werke Wildes.

Oscar Wildes Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" gehört heute zur Weltliteratur und wurde unzählige Male verfilmt (s. queer.de). In der schwulen Emanzipationsgeschichte hatte der Roman eine große Bedeutung, was sich jedoch kaum über seinen Inhalt begründen lässt, der keine homo­erotischen Textpassagen enthält, sondern allenfalls die Bewunderung männlicher Schönheit durch Männer zum Ausdruck bringt. Als Ausdruck narzisstischer Liebe findet man Hinweise auf diesen Roman von der ersten Homo­sexuellenbewegung bis hin zu Rosa von Praunheims Film "Nicht der Homo­sexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" (1971).

In recht unterschiedlichen Zeitungsberichten des Jahres 1924 zeigt sich eine gewisse Form der Janusköpfigkeit in der Haltung zu Wilde und seinem Werk. Einen Grund, auf Wildes Roman einzugehen, gab es im Januar 1924, als im Aachener Stadttheater eine Morgenfeier zu Wildes Ehren abgehalten wurde. Erinnert wurde dabei nicht nur an den großen Dichter, sondern auch an seine "homo­sexuellen (…) Vergehen" ("Aachener Anzeiger", 28. Januar 1924). Der Anlass für eine Rezension in der "Kölnischen Zeitung" (26. März 1924) war vermutlich eine neue Ausgabe des Romans, die 1924 im Berliner Knaur-Verlag erschienen war. Der Journalist und Kulturhistoriker Egon Friedell schreibt hier, dass die "Seele Oscar Wildes" im "Dorian Gray" niedergeschrieben sei – einem makellos schönen Roman, der "vielleicht die moralischste Dichtung, die je geschrieben wurde", sei. Wilde habe zwar "das Laster" geliebt, aber Künstler würden halt zu "den Verirrungen des Lebens, zu den dunklen Leidenschaften und ihren Verstrickungen" hingezogen. Wenn in einem Artikel in den "Westfälischen Neuesten Nachrichten" (21. Juli 1924) betont wird, dass Oscar Wilde die Figur des Dorian Gray "so hart an eine Autobiographie grenzend beschrieben hat", hat der Autor vollkommen Recht, denn schließlich war Wilde ein Vertreter des Ästhetizismus und der Roman handelt von dem Wunsch, immer schön und jung zu bleiben. Der Artikel handelt jedoch vor allem von dem realen schwulen Mörderpaar Leopold und Loeb und davon, dass beide Männer den Roman "geradezu angebetet" hätten. (Auch auf Leopold und Loeb bin ich im 2. Teil dieser Serie bereits eingegangen). Was die Zeitung hier versucht, ist eine Gleichsetzung von Homo­sexuellen mit Mördern, womit sie leider nicht alleine dasteht. Wildes Roman wurde auch in Schwulenzeitschriften dieses Jahres rezipiert ("Die Fanfare", Jg. 1924, Heft 40).


"Das Bildnis des Dorian Gray" – hier in der Verfilmung von 1970 mit Helmut Berger in der Hauptrolle


Oscar Wilde: "De Profundis" – die erste vollständige deutsche Ausgabe von 1924

"De Profundis" ist ein offener Brief, den Oscar Wilde zwischen 1895 und 1897, während seiner Inhaftierung, an seinen früheren Freund und Liebhaber Lord Alfred Douglas schrieb. Nachdem der S. Fischer-Verlag 1905 ungefähr ein Drittel des Textes in deutscher Übersetzung veröffentlicht hatte, erschien im selben Verlag 1924 die erste vollständige deutsche Ausgabe. Der Verlag teilte mit: "Die Veröffentlichung des vollständigen Textes (…) erfolgt nunmehr in deutscher Sprache unter dem Titel 'Epistola'", der "zum ersten Mal in irgendeiner Sprache der Welt erscheint." Damit werde "die Lebenstragödie Oscar Wildes in völlig neue Beleuchtung gerückt". An "menschlicher Tiefe und an Größe des Leidens" gebe es kaum etwas Vergleichbares ("Prager Tagblatt", 8. Oktober 1924, vor der Veröffentlichung). Als "Epistola" im Dezember 1924 erschien, war die Wiener "Neue Freie Presse" (28. Dezember 1924) von diesem Werk und seinem Autor erkennbar beeindruckt, deutete seine Homosexualität mit Begriffen wie "Schuld", "Unglück" und "erhitzte Bewunderung" jedoch nur vorsichtig an.

Zwei Jahre seiner Haftstrafe saß Wilde im Zuchthaus von Reading ab. Hier entstand auch sein Gedicht "Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading", das 1898 als Wildes letztes Werk erschien. Im April 1924 vermeldeten mehrere deutschsprachige Zeitungen, dass das Zuchthaus, dass im Volksmund als "Reading Gaol" bekannt ist, aufgrund der Wohnungsnot in Wohnungen umgewandelt wurde (u.a. "Der Grafschafter", 12. April 1924). Dabei handelte es sich vielleicht nur um eine vorübergehende Umnutzung oder sogar um eine Falschmeldung, weil das Gefängnis in Reading bis 2014 bestand (Wikipedia).

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Ludwig Winder: "Hugo" – das Duell der Außenseiter

Ludwig Winder (1889-1946) war ein tschechoslowakischer deutschsprachiger Schriftsteller, der mit seinem Erstlingswerk "Die jüdische Orgel" (1922) bereits einen nachhaltigen Erfolg erzielte. In "Hugo. Tragödie eines Knaben" (1924, 1995, 2012) geht es in drei Episoden um die Erlebnisse des pubertierenden Hugo Bandler. In der Episode "Turnlehrer Pravda" (S. 9-67) bekommt Hugo einen neuen (homosexuellen) Turnlehrer. So, wie die Geschehnisse geschildert werden, richtet sich die Episode erkennbar gegen sexualisierte Beziehungen von Lehrern zu ihren Schülern, wobei es aber auch als unproblematisch geschildert wird, dass Schüler wie Hugo ihren Lehrer einseitig erotisch begehren. Hugo träumt von dem nackten Pravda und onaniert danach zum ersten Mal in seinem Leben: Er streicht sich "mit brennenden Fingern über den Körper" und "fühlte zum erstenmal sein Geschlecht".

Dieser Roman wurde schon zeitgenössisch als schwuler Roman wahrgenommen und positiv rezensiert. Nach Ansicht des "Illustrierten Wiener Extrablatts" (14. September 1924) ist die Episode mit dem Turnlehrer "am besten geraten". Auch der Rezensent in der "Rheinischen Volkszeitung" (25. Oktober 1924) ist voll des Lobes für diese "feinsinnige Geschichte" und die "Bilder voller Stimmung, aber auch voller Tragik". In einer Anzeige in "Die Freundschaft" (Jg. 1924, Heft 7, S. 164) wird der Roman als das "kühnste und wahrste Bekenntnisbuch unserer Zeit" angepriesen. 73 Jahre später schrieb Gerhard Härle den lesenswerten Aufsatz "Wieviel Schönheit braucht der Mann? Ludwig Winders 'Hugo' – oder das Duell der Außenseiter" (in: "Forum Homosexualität und Literatur", Nr. 30, 1997, S. 99-117).


Werbung für "Hugo" (1924) von der Karl Schultz-Verlagsgesellschaft, die auch Homosexuellenzeitschriften vertrieb

Walt Whitman: "Grashalme" – "O Captain! My Captain!" als Zeichen des Respekts

Der US-amerikanische Dichter Walt Whitman (1819-1892) gilt als einer der einflussreichsten amerikanischen Lyriker des 19. Jahrhunderts. Sein Hauptwerk ist die Gedichtsammlung "Leaves of Grass", die in deutscher Übersetzung meistens als "Grashalme" erschien. 1905 erschien im "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" (JfsZ) der Aufsatz "Walt Whitman. Ein Charakterbild" (JfsZ, 1905, S. 153-288), in dem der Autor Eduard Bertz, Unterzeichner der Petition gegen den § 175 RStGB und schwulenpolitisch aktiv, auf mehr als 130 Seiten auf Whitman eingeht. Marita Keilson-Lauritz ("Die Geschichte der eigenen Geschichte", 1997, u. a. S. 299) zeigt sehr gut auf, dass Walt Whitman in der wilhelminischen Zeit einer der wichtigsten Autoren für die frühe Homosexuellenbewegung war und wie nachhaltig der Aufsatz von Bertz wirkte.

Die Rezeption Whitmans in der Weimarer Republik ist schlechter dokumentierbar. In der Homosexuellenzeitschrift "Der Eigene" wurden in den Jahren 1919 bis 1923 einige von Whitmans Gedichten abgedruckt (7. Jg., Heft 4, 7. Jg., Heft 5 und 9. Jg., Heft 10), was eine Rezeption als schwule Literatur bzw. als schwuler Autor nahelegt. Wer sein Werk in deutscher Sprache lesen wollte, hatte 1924 die Möglichkeit, auf fünf verschiedene Übersetzungen zurückzugreifen, nämlich auf die von Wilhelm Schönermann (1904), Karl Federn (1904), Johannes Schlaf (1907, 1920), Gustav Landauer (1921) und Hans Reisiger (1922, 1924). Heute kennt man vor allem noch den Titel des Gedichtes "O Captain! My Captain!" aufgrund seiner zentralen Bedeutung in dem Spielfilm "Der Club der toten Dichter" (1989) und als Hommage an den Schauspieler Robin Williams, der in diesem Film den Lehrer John Keating verkörperte (Wikipedia).


Die "O Captain! My Captain!"-Szene aus dem Spielfilm "Der Club der toten Dichter" (1989)

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