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Kunstgeschichte

Selbstbewusstes Queer-Reading historischer Kunst

Lange wurde die Kunstgeschichte von heteronormativen Deutungsmustern dominiert. Die Kasseler Ausstellung "Alte Meister que(e)r gelesen" ermöglicht mit einem queeren Blick auf ihre Exponate ganz neue Perspektiven. Im Michael Imhof Verlag ist der begleitende Katalog erschienen.


Peter Paul Rubens, Jupiter und Kallisto, 1613 (Bild: Hessen Kassel Heritage / Gemäldegalerie Alte Meister)

Zu den Klassikern der Antike gehört die Erzählung, wie Jupiter die Gestalt der Jagdgöttin Diana annimmt. Und zwar ausschließlich, um in ihrem Körper die schöne Nymphe Kallisto zu verführen.

Seit der Renaissance, als Tizian sein Aufsehen erregendes Gemälde "Himmlische und irdische Liebe" erschafft, dient genau dieses Motiv in der Malerei immer wieder zur Darstellung lesbischer Annäherungen. Und das, obwohl Ovid in seiner literarischen Vorlage keinen Zweifel aufkommen ließ, dass es bei der Geschichte zu keinem Zeitpunkt um weibliches homoerotisches Begehren geht: Jupiter möchte die ahnungslose Kallisto lediglich täuschen, um sich in einem günstigen Augenblick in seine ursprüngliche Gestalt zurück zu verwandeln und die Nymphe zu vergewaltigen.


Aert Mytens, Jupiter und Kallisto, 16. Jahrhundert, ehemals Gemäldegalerie Kassel, Kriegsverlust (Bild: Hessen Kassel Heritage)

Trotz dieser Wendung deutet sich in den "Jupiter und Kallisto"-Gemälden von Tizian, Rubens oder Tischbein kaum etwas von der Brutalität an, wie sie nach Ovid zu erwarten wäre – stattdessen strahlen die Bilder eine geradezu selbstbewusste gleichgeschlechtliche Erotik aus. Dass es sich bei der forschen Diana in Wirklichkeit um den Göttervater handelt, entschlüsselt sich meist erst auf den zweiten Blick. Es scheint beinahe so, als diene der Mythos in der Kunst der Alten Meister nurmehr als Anlass, um einvernehmlichen Sex unter Frauen als etwas Selbstverständliches zu präsentieren – auch wenn sich die Szene innerhalb eines mythologischen Rahmens abspielt, der zum realen Leben auf Distanz bleibt.

Allerdings führt diese Annahme zu einem argumentativen Kurzschluss. So avantgardistisch das erotische Motiv in diesem Zusammenhang auch anmuten mag – es ist davon auszugehen, dass es in erster Linie für den patriarchal-heterosexuellen Blick in Szene gesetzt wurde, zumal Werke wie diese vornehmlich von Männern stammen.

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Ausstellung und Katalog "Alte Meister – que(e)r gelesen"


Der Katalog zur Ausstellung ist für 24.95 Euro im Buchhandel erhältlich

Gut möglich, dass sich in dieser Vereinnahmung von lesbischer Sexualität bereits die "pornografische Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts" ankündigt, fokussiert auf die "Inszenierung von Frauen, die Sex mit Frauen für ein rein männliches Publikum haben." Das mutmaßt zumindest der Historiker Kero Fichter in seinem Aufsatz über queere Identitäten in der Kunst der frühen Neuzeit – einem von weit über zwanzig Beiträgen von zwölf Autor*Innen in dem kürzlich erschienenen Katalog zur Kasseler Ausstellung "Alte Meister – que(e)r gelesen", die noch bis zum 24. März in der Hessen Kassel Heritage zu sehen ist.

Justus Lange, Leiter der Kassler Gemäldegalerie, weist in seinem Text zum Jupiter-Diana-Kallisto-Motiv wiederum darauf hin, "dass Frauen diese Arbeit ebenso genossen", obwohl "der Großteil der Darstellungen zunächst für die Augen der Männer gedacht war." Im Übrigen lasse sich Jupiters Verwandlung auch als Cross-Dressing deuten. Viele von diesen Kunstwerken verfügten "über eine gewisse Ambiguität, die unterschiedliche Lesarten nicht nur ermöglichen, sondern vielfach geradezu erfordern", so Lange. Diese in einen entsprechenden Kontext einzuordnen, ist Teil einer Praxis, die sich "Queer-Reading" nennt und heteronormative Deutungsmuster in der Kunstgeschichte auf den Prüfstand stellen möchte.


Unbekannt, Gabrielle d'Estrées und eine ihrer Schwestern, 16. Jh. (Bild: Musée du Louvre, Paris)

Die Methode des Queer-Readings bildet einen Schwerpunkt in diesem Band. Wer sich darauf einlässt, wird erkennen, dass es sich dabei keineswegs um ein rein postmodernes Verfahren handelt, sondern vielmehr um eine Form der Kunstinterpretation und -appropriation, die längst selbst historisch geworden ist. So wurde lesbische Sexualität bereits während der italienischen Renaissance mit der Jagdgöttin in Verbindung gebracht und als "Spiel der Diana" bezeichnet. In verschiedenen Prozessen klagte man Frauen an, die sich teilweise selbst als "Anhängerinnen der Diana" bezeichneten – auch wenn "die lesbische Liebe in der Regel weniger harte strafrechtliche Verfolgung" traf, wie Justus Lange die Quellenlage aus dem 15. und 16. Jahrhundert zusammenfasst, weil "Sex ohne Penetration" als "nicht vollwertig" galt: "Wenn es zur Verurteilung von gleich­geschlechtlich liebenden Frauen kam, dann erfolgte dies meist aufgrund der Tatsache, dass sich eine davon als Mann kleidete und ausgab."

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Ein hetero Paar tauscht die Rollen


Wilhelm Böttner, Jupiter und Ganymed, 1803-04 (Bild: Hessen Kassel Heritage / Gemäldegalerie Alte Meister)

Zu den Bildmotiven, die in dem fast zweihundert Seiten umfassenden und reich bebilderten Band verhandelt werden, zählt auch der Mythos von Jupiter und Ganymed, die Ausschweifungen von Dionysos oder die alttestamentarische Geschichte von David und Jonathan. Bemerkenswert ist auch die weniger bekannte Überlieferung von Herkules und Omphale, einem heterosexuellen Paar aus der griechischen Mythologie, das während seiner Beziehung die Rollen tauscht. Der für seine Muskelkraft berühmte Held hüllt sich in weibliche Gewänder und versucht sich im Umgang mit einer Spindel, während seine Partnerin ein Löwenfell trägt und die Keule schwingt.

Nach Ansicht von Malena Rotter, Projektleiterin der Kasseler Ausstellung, dient die Verbildlichung des Mythos in der Kunstgeschichte überwiegend einer subtilen Propaganda, um vor dem männlichen Macht- und Potenzverlust aufgrund eines wachsenden Einflusses von Frauen zu warnen. "Effeminierte Männlichkeit" werde als "lächerlich und – noch drastischer – als Bedrohung konstituiert", um Heteronormativität zu reproduzieren.

Dieser historischen Perspektive lässt sich zumindest eine Ausnahme aus der Musikgeschichte entgegenhalten: In Händels Barockoper "Orlando" ringt der Titelheld mit der Frage, was ihn als Mann auszeichne. Dabei führt er Herkules an der Seite von Omphale als positives Beispiel für einen sanften Helden an. Doch das Kassler Projekt dreht sich zunächst einmal um die bildenden Künste, und der Fokus richtet sich dabei vor allem auf den eigenen Bestand. Es geht darum, das Interesse für "neue Blicke auf wohlbekannte Sammlungsstücke" zu wecken, wie es in der Einleitung heißt – und das Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten zu erweitern.


Franz Friedrich Riepenhausen und Johannes Christian Riepenhausen, Herkules und Omphale, um 1811 (Bild: Hessen Kassel Heritage / Graphische Sammlung)

Widerstand gegen die Auslöschung queerer Spuren

So selbstbewusst das Thema in der Ausstellung und im Katalog präsentiert wird, gibt es auf diesem Feld noch viel zu tun. Birgit Bosold, Vorstandsmitglied im Schwulen Museum Berlin, beklagt in ihrem Text zur Frage nach historischen Belegen, dass Queer Reading bis heute gegen erheblichen Widerstand zu kämpfen habe. Seit jeher wird in der Kunstgeschichte etwa homo­sexuelles Begehren unter den Teppich gekehrt – und selbst Künstlerinnen aus dem späten 19. oder 20. Jahrhundert, wie Ottile Roederstein oder Lotte Laserstein, spricht man ihre lesbische Identität ab. "Warum die unerbittliche Forderung nach Evidenz, nach Beweisen, die natürlich schwer aufzutreiben sind, wenn es um Praktiken geht, die über die längste Zeit der Geschichte kriminalisiert wurden, mindestens aber pathologisiert und immer stigmatisiert waren." Das habe dazu geführt, dass entscheidende Aufzeichnungen verschwunden oder zerstört wurden. Bosold ruft dazu auf, sich gegen "die Auslöschung queerer Spuren im kollektiven Gedächtnis" zu wehren – in der Geschichtsschreibung, in Sammlungen und Archiven und in den Museen.

Im vergangenen Jahr sind bereits mehrere Publikationen erschienen, die ein ähnliches Ziel verfolgen wie das Kassler Projekt. Dazu zählen der Katalog zur Ausstellung "Verdammte Lust!" im Freisinger Diözesanmuseum, der Sammelband "Queerness in der Kunst der frühen Neuzeit?" aus dem Böhlau Verlag wie auch Reinhard Brökers fundierte Auseinandersetzung mit Albrecht Dürers Homosexualität in dem Werk "Dürer und die Männer".

Auch in den beiden letztgenannten Publikationen wird das Problem des Straightwashing angesprochen – der Versuch, queere Ansätze zu relativieren oder auch bereits im Keim zu ersticken. Doch die Erkenntnis, dass Kunstgeschichte lediglich ein Konstrukt ist, das sich auch wieder ändern und erweitern lässt, zieht immer weitere Kreise. Auch der im Michael Imhof Verlag erschienene Katalog "Alte Meister – que(e)r gelesen" (Amazon-Affiliate-Link ) leistet dazu einen entscheidenden Beitrag.

Infos zum Buch

Justus Lange, Malena Rotter: Alte Meister que(e)r gelesen. Katalog zur Ausstellung der Hessen Kassel Heritage. 192 Seiten. 92 Farb- und 5 SW-Abbildungen. Michael Imhof Verlag. Petersberg 2023. Paperback-Ausgabe: 24.95 € (ISBN 978-3-7319-1373-3)

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