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Folge 10 von 10
Schwules Leben vor 100 Jahren: Musik, bildende Kunst, Film
In der letzten Folge dieser Serie geht es nach Literatur und Theater um das, was in Musik, Malerei, Fotografie und Film das Jahr 1924 geprägt hat.

Homoerotisches Foto aus dem 1924 erschienenen Buch "Der Mensch und die Sonne" von Hans Surén
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3. März 2024, 03:26h 23 Min.
Musik
Allen, die sich aus historischer Sicht für Musik und Homosexualität interessieren, kann als Einstieg Ralf Jörg Rabers Buch "Wir sind wie wir sind. Ein Jahrhundert homosexuelle Liebe auf Schallplatte und CD" (2010) empfohlen werden. Für die Weimarer Republik (S. 21-58, 370-371) zeigt Raber anhand von rund zehn Liedern, wie unterschiedlich der Umgang mit Homosexualität sein konnte. Von einer Ausnahme abgesehen, stammen diese Lieder aus der Zeit von 1927 bis 1933.
Die spannende Ausnahme ist das "Lila Lied" (1921), das sich schnell zu einer Art Hymne der frühen Homosexuellenbewegung entwickelte und sogar auch heute wieder gehört und gesungen wird. Vor einigen Jahren habe ich hier auf queer.de die historischen Hintergründe dieses Liedes beleuchtet. Bei meinen aktuellen Recherchen in den Homosexuellenzeitschriften des Jahres 1924 habe ich allerdings keine weiteren Hinweise zu diesem Lied gefunden.
"Bubi laß uns Freunde sein" (1924): "Hör' nicht drauf, was fremde Leute sagen"
Das Lied "Bubi laß uns Freunde sein" (1924) wird bei Ralf Jörg Raber nicht erwähnt. Nach dem "Lila Lied" ist es vermutlich das zweite Lied, das für eine homosexuelle Zielgruppe produziert wurde. Bruno Balz schrieb den Text und Erwin Neuber steuerte die Musik dazu bei. Bruno Balz war von 1928 bis 1930 Redakteur der von Friedrich Radszuweit herausgegebenen Zeitschrift "Die Freundin".
In den Homosexuellenzeitschriften habe ich keine redaktionellen Beiträge über dieses Lied, aber zumindest einzelne Werbeanzeigen dazu gefunden. Die erste erschien im "Berliner Inseratenblatt" (15. August 1924), das als kostenlose Beilage u. a. der Homosexuellenzeitschrift "Die Insel" beilag. In einer Ausgabe der Homosexuellenzeitschrift "An sonnigen Ufern" (Jg. 1924, Heft 15) wurde der Refrain abgedruckt:
Hör' nicht drauf, was fremde Leute sagen; Laß sie reden. Ich schweig' still,
Kann ja küssen, wen ich will, Komm, wir werd'n uns schon vertragen. (…)
Laß dein Herz an meinem Herzen schlagen, Wenn Du mein bist und ich Dein,
Lacht die Welt im Sonnenschein, Denn der Freund hilft alles Leid ertragen.
An die Bedeutung des "Lila Liedes" konnte dieses Lied offenbar nicht anknüpfen, mir ist auch keine Tonaufnahme des Jahres 1924 aus den Zwanzigerjahren bekannt. Joaquín La Habana – ein queerer Künstler, Sänger und Tänzer, der in einigen von Rosa von Praunheims Filmen mitgespielt hat – bietet auf Youtube eine interessante Neuinterpretation dieses Liedes an.

Werbung für einen schwulen Schlager
Alexander Elster: "Musik und Erotik" (1925)
Im Februar 1925 erschien die Broschüre "Musik und Erotik" von Alexander Elster. Die Einstellung des Autors zu Homosexuellen und zur Musik wird darin deutlich. Er behauptet zunächst, dass "produktive Musikgenies" fast ausschließlich Männer seien: "Und daß hier gerade das maskuline Moment wichtig ist, ergibt sich auch daraus, daß Homosexuelle (denen doch oftmals ein größeres Stück weiblicher Seele innewohnt) zwar relativ musikalisch sind, doch als schaffende Künstler – eine beachtliche Ausnahme ist Tschaikowsky – nicht in Betracht kommen" (S. 47). Insgesamt betrachtet (s. a. S. 51-57) hören sich seine Äußerungen nach positiven Klischees über schwule Männer an. Sie ähneln den Äußerungen von Magnus Hirschfeld, auf den sich der Autor ausdrücklich bezieht. Ein emanzipatorischer Charakter dürfte aber vom Autor eher nicht beabsichtigt gewesen sein. Das "Neue Wiener Journal" (3. März 1925) griff in seiner Rezension auch Elsters Äußerungen über Homosexualität auf.
Malerei
In den Zwanzigerjahren haben Künstler*innen unterschiedliche Anregungen aufgenommen, um sich mit den Themenbereichen Freundschaften, Homoerotik und Homosexualität auseinanderzusetzen. Darstellungen von Homosexualität waren nun möglich, ohne sie wie zuvor über die Antike legitimieren zu müssen. Homosexualität in der Kunst wurde "zu einem Thema, das die gesamte Gesellschaft berührte. (…) In den unterschiedlichsten Kunstrichtungen loteten vorwiegend heterosexuelle Künstler neue Freiheiten aus" ("Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung", 1997, S. 110).
Schwule Literatur – nicht nur die klassische von Oscar Wilde, Paul Verlaine und Walt Whitman – inspirierte Kunstschaffende. Ein Beispiel dafür sind die zarten bzw. zärtlichen Illustrationen zu Granands Buch "Das erotische Komödien-Gärtlein" von Rudolf Pütz (1. Aufl., 1919/1920) und Ludwig Kainer (2. Aufl., 1920/1921) (siehe queer.de).

Homoerotische Illustrationen von Rudolf Pütz und Ludwig Kainer
Renée Sintenis – die Pubertierenden im "Tigerschiff" (1923)
Ähnlich verspielt wie die Illustrationen für das "Komödien-Gärtlein" sind die vier Aktstudien von pubertierenden Jugendlichen, die die Bildhauerin und Grafikerin Renée Sintenis (1888-1965) für "Das Tigerschiff" (1923) von Hans Siemsen beisteuerte. Sie "sind weniger direkt als so manche andere Illustration der Knabenliebe, aber in der besonderen Intimität der Jungen werden die Radierungen zu einem Sinnbild homosexueller Liebe und der menschlichen Liebe und Zuneigung überhaupt" ("Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung", 1997, S. 114).
Thema der homoerotischen Kunst dieser Zeit sind nicht selten pubertierende Knaben und Jünglinge. Dieser Umstand drückt in erster Linie nicht die sexuellen Präferenzen von erwachsenen Männern aus, sondern ist hier als eine Möglichkeit der Legitimation anzusehen. Sigmund Freud hatte einen großen Einfluss auf die frühe Homosexuellenbewegung und beschrieb die "Homosexualität als Phänomen der Pubertät und damit als Entwicklungsmoment auch des heterosexuellen Mannes" ( "Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung", 1997, S. 111). Es ist eine Form der Entschärfung homosexueller Handlungen, wenn "lediglich Knaben und Jungen diese 'Kindereien' begehen" (Ausstellungskatalog "Eldorado", 1984, S. 91).

Eine Illustration von Renée Sintenis zu "Das Tigerschiff" von Hans Siemsen (1923)
Otto Schoff – die "Elegien der Knabenliebe" (1923)
In der ersten Hälfte der Zwanzigerjahre gab es viele illustrierte Bücher, die Homosexualität als "unschuldige" Knabenliebe abbildeten. Ein Beispiel dafür sind die Illustrationen des Malers Otto Schoff (1884-1938), der vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zu seinem Tod in Berlin ein Atelier besaß. "Frauen, Erotik sowie männliche und weibliche Homosexualität bilden zentrale Themen seines Werkes" (Wikipedia).
Aus den Zwanzigerjahren gibt es einige literarische Werke, die seine künstlerische Handschrift tragen. So enthält das Buch "Sappho oder Die Lesbierinnen" von Étienne de Jouy (1920) Radierungen von Otto Schoff und eine Auswahl der Gedichte von August von Platen ("Der verfemte Eros. Aus den Gedichten des Grafen August von Platen", 1921) wurde von Otto Schoff mit Lithografien ausgestattet. Das bekannteste Buch, das er mit homoerotischen Motiven illustrierte, ist aber wohl eine Ausgabe von Gedichten des römischen Dichters Albius Tibullus: "Das Buch Marathus. Elegien der Knabenliebe" (1923), das fünf Radierungen von Schoff enthält. Zurzeit wird dieses Buch antiquarisch für rund 800 Euro angeboten.
Otto Schoff – die Subkultur vom "Männerball" bis zum lesbischen Tanzlokal
In der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre entstanden "zahlreiche künstlerische Abbildungen der schwulen Subkultur. Und wieder waren es zumeist heterosexuelle Künstler, von denen derartige Darstellungen überliefert sind. Deren Interesse, weniger Voyeurismus, ging einher mit ihren sonstigen Darstellungen von sozialen Außenseitern der Gesellschaft und sozialkritischer Anklage" ("Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung", 1997, S. 120). Im Fokus von Künstlern wie Otto Dix, Christian Schad und Otto Schoff war das schwule Berlin mit seinen unzähligen Kneipen: "Erstmals wurde die Darstellung schwulen und lesbischen Lebens, besonders das der Bars, zu einem Thema gerade für nicht homosexuelle Künstler". (Ausstellungskatalog "Eldorado", 1984, S. 91).
Leider ist bei den zeichnerischen Darstellungen der homosexuellen Subkultur von Otto Schoff eine genaue zeitliche Zuordnung nicht möglich, weil sie aus Gründen der Zensur ohne Nennung von Ort, Verlag und Jahr erschienen. Verweisen möchte ich trotzdem auf Curt Morecks breit rezipiertes Buch "Kultur- und Sittengeschichte der neuesten Zeit" (1929), das elf Radierungen von Schoff enthält, in denen er nicht nur private Momente, sondern auch die homosexuelle Subkultur festgehalten hat. Mehr als die Hälfte der hier veröffentlichten Radierungen stehen in einem homosexuellen Zusammenhang, wie "Kosendes Freundespaar" (S. 197, aus "Das Buch Marathus") und "Männerball" (S. 213). In vier Radierungen zeigt er Szenen aus dem lesbischen Leben, nämlich "Freundinnen" (S. 277), "Verliebte Spiele" (S. 280), "Tanzlokal" (S. 291) und "Lesbierinnen" (S. 305).

Otto Schoff: "Das Buch Marathus" und seine Zeichnung eines "Männerballs"
Otto Dix – das feminine Porträt Karl Kralls (1923)
Auch der Maler und Grafiker Otto Dix (1891-1969), der sich in seiner künstlerischen Grundhaltung dem Realismus verpflichtet hatte, gehörte zu den Künstlern, die die Subkultur porträtierten. Mit seinem Gemälde "Eldorado" (1927) – gemeint ist das bekannteste Berliner Homosexuellenlokal dieser Zeit – proträtierte er zwei Frauen.
An zwei interessanten Porträts aus dieser Zeit lässt sich viel über Geschlechterrollen und -klischees aufzeigen und auch darüber, wie Eigen- und Fremdwahrnehmung in einem Gemälde zum Ausdruck kommen können: am Porträt Adolf Brands von Arnold Siegfried (dazu siehe unten) und an einem Bild von Otto Dix aus dem Jahr 1923. Es zeigt den homosexuellen Juwelier Karl Krall (1893-1938) aus (Wuppertal-)Elberfeld. Die Art der Darstellung ist dem "Typus des femininen Homosexuellen mit weichen Hüften und weiblichen Brüsten (…) verpflichtet. Selbstbewusst präsentiert sich der effeminierte Homosexuelle. Die Spannung des Bildes erwächst aus den unterschiedlichen Rot-, Rosa- und Brauntönen, die mit dem Nebeneinander männlicher und weiblicher Indizien der abgebildeten Person einhergehen. Angelehnt an Hirschfelds Theorie hat Dix dem Juwelier Brüste unters Jackett gemalt" ("Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung", 1997, S. 119).
Arnold Siegfried – das maskuline Porträt Adolf Brands (1924)
Adolf Brand und die von ihm gegründete "Gemeinschaft der Eigenen" versuchten die homosexuelle Emanzipation mit den Mitteln der Kunst zu erreichen und hatten dementsprechend ein großes Interesse an der Zusammenarbeit mit Künstlern. In diesem Zusammenhang ließ sich Adolf Brand im Jahre 1924 von seinem Hauskünstler Arnold Siegfried porträtieren, vielleicht anlässlich seines 50. Geburtstages. Er ließ sich jedoch nicht als "Dandy, der typischen Form schwuler Selbstdarstellung um 1900, darstellen. Oscar Wilde (und andere) hatten sich noch als Dandy gegeben, doch für Adolf Brand war dies offenbar zu feminin. Entsprechend seiner Ablehnung der Hirschfeldschen Thesen von einem Zwittergeschlecht ließ er sich sehr männlich, aber nicht weniger selbstbewusst als Homosexueller abbilden, umgeben von den nackten Objekten seines Begehrens. Diese Darstellungsweise war neuartig und in ihrer erotischen Offenheit einzig in ihrer Zeit" ("Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung", 1997, S. 118-119).

Der feminine Karl Krall und der maskuline Adolf Brand
Sascha Schneider – die Männerwelt nach antikem Vorbild
Sascha Schneider (1870-1927) war Professor, Bildhauer und Maler, der vor allem als Schöpfer von Umschlagbildern für Karl Mays Reiseerzählungen bekannt wurde. Zum 150. Geburtstag von Sascha Schneider habe ich hier auf queer.de einen Artikel über diesen Künstler und seine Freundschaft mit Karl May veröffentlicht.
In den Jahren 1923/1924 erschienen zwei Werke von bzw. über Sascha Schneider, die man fast miteinander verwechseln könnte: Das eine ist Sascha Schneiders Buch "Kallisthenie – Körperkultur" (1923/1924), das einen (kurzen) Text von Felix Zimmermann und zwölf farbige Tafeln von Schneider enthält. Das andere ist das Buch von Felix Zimmermann "Sascha Schneider" (1924, 80 Seiten), das ebenfalls Illustrationen von Schneider und einen (längeren) Text von Zimmermann enthält. Wie in seinen anderen Werken, sind auch hier Schneiders Gemälde und Zeichnungen von Lichteffekten und starker Symbolsprache geprägt, die oft religiöse Überhöhung und dämonische Bedrohung zum Ausdruck bringen. Einige seiner Werke erinnern an die von Fidus, dem Zeichner der Lebensreformbewegung. Es ist eine archaische fast reine Männerwelt, wobei er viele Männer nach antikem Vorbild inszenierte.
Es lässt sich leicht belegen, dass Schneider in Schwulenzeitschriften früher nicht nur rezipiert wurde, sondern dass er auch als "einer von uns" angesehen wurde. Dies wird deutlich in einer Rezension, die in "Der Eigene" (Jg. 1924, S. 369-370) erschien: Schneiders Kunstrichtung sei an den "formalen Schönheitskult der antiken Kunst angelehnt. Charakteristisch für Schneider und für den 'Eigenen' von besonderem Interesse ist seine ausgesprochene und eindeutige Kultivierung männlicher Schönheit, von der er selbst schreibt: 'Mich interessiert ausschließlich der männliche Körper.'" Weniger deutlich ist der Umstand, dass Sascha Schneiders "Knabenkopf" auf dem Titelbild der "Fanfare" (Jg. 1924, Heft 24, S. 1) abgedruckt wurde.
Welcher Wert Schneiders Zeichnungen heute beigemessen wird, ist daran zu erkennen, dass sein Buch "Kallisthenie" zur Zeit des Entstehens dieses Artikels antiquarisch für rund 1.750 Euro angeboten wird.

Zwei Illustrationen von Sascha Schneider aus "Kallisthenie" und "Sascha Schneider"
Romaine Brooks – das androgyn-lesbische Gemälde einer Lady
Von der amerikanischen Malerin Romaine Brooks (1874-1970) sind mehrere Liebesbeziehungen mit Frauen überliefert. Bekannt wurde sie für sensible, androgyne und selbstbewusste Frauenporträts, an denen ihr "Einfühlungs- und Enthüllungsvermögen geschätzt" wurde (Wikipedia). Im Jahre 1925 erreichte Brooks mit drei Ausstellungen in Paris, London und New York den Höhepunkt ihrer Karriere. Trotz der fehlenden Verbindung nach Deutschland möchte ich auf ein Portrait verweisen.
Das Porträt "Una Lady Troubridge" entstand 1924. Die britische Schriftstellerin Radclyffe Hall (1880-1943), Verfasserin des lesbischen Romans "Quell der Einsamkeit" (1928), hatte es in Auftrag gegeben und als Geschenk für ihre Liebhaberin Lady Troubridge vorgesehen. In diesem Porträt wird Troubrigde "als eine wohlhabende und aristokratische, mannähnliche Lesbe abgebildet. Sie ist groß, schlank und elegant, ihr Haar ist kurz geschnitten, sie trägt ein weißes Hemd mit hohem Kragen und Krawatte, eine schwarze Jacke und dunkle Hosen. Ihre mannähnliche Erscheinung wird durch das Monokel verstärkt." Diese Darstellung ist im Zusammenhang mit dem Umstand zu sehen, dass in den Zwanzigerjahren viele lesbische Frauen als Teil ihrer sozialen und sexuellen Identität nicht nur rauchten, sondern auch Männerkleidung und kurzes Haar trugen. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog sich Romaine Brooks aus der Öffentlichkeit weitgehend zurück. (Zu dem Zitat und den Hintergründen zum Porträt siehe James Smalls: "Homosexualität in der Kunst", 2003, S. 190-194, 213, hier S. 273).

Das Porträt "Una Lady Troubridge" von Romaine Brooks
Aktfotografie
Wer sich für historische Aktfotografien für eine homosexuelle Zielgruppe interessiert, kennt vor allem Wilhelm von Gloeden (1856-1931), der einer der Pioniere künstlerischer Aktfotografie war und sein Handwerk von seinem Vetter Wilhelm Plüschow gelernt hatte. Bekannt wurde Gloeden vor allem durch seine Akte sizilianischer Knaben mit antikisierenden Requisiten und Kostümen. Für die Zeit der Weimarer Republik scheint er jedoch keine große Bedeutung mehr gehabt zu haben. Nach dem Ersten Weltkrieg fotografierte er nur noch selten, wurde erst ab den Sechzigerjahren wiederentdeckt und inspirierte von nun an Künstler wie Robert Mapplethorpe, Andy Warhol und Bruce Weber.
Für die Zwanzigerjahre waren andere Aktfotograen ausschlaggebend. "Mit der Lockerung der Bekleidungsfragen und moralischen Dingen nach dem Weltkrieg nahm auch das Interesse an einem gesünderen oder doch zumindest attraktiveren Körper zu. Die Freikörperkultur erlebte einen neuen Auftrieb." Es entwickelte sich daher der Trend, "Männerakte im Kontext körperlicher Gesundheit und Ertüchtigung zu fotografieren" (David Leddick: "The Male Nude", 1998, S. 160). Es mag zunächst verwundern, dass im Folgenden FKK-Fotos unter Kunst subsumiert werden. Die Grenze zwischen einfachen Knipsfotos und künstlerischen Fotos ist jedoch fließend und ohne den Wunsch, auch erotisch ansprechende Bilder zu schaffen, wären auch die letzteren nicht entstanden.
Hans Surén: "Der Mensch und die Sonne" – FKK als Alibi?

Nacktfoto aus Hans Suréns "Der Mensch und die Sonne" (1924)
Hans Surén (1885-1972) begann 1924 seine Tätigkeit als freier Sportschriftsteller und versuchte dabei die Jugend zu Sport und Freiluftleben hinzuführen. In seinem bekanntesten Buch "Der Mensch und die Sonne" (April 1924) legte er seine Gedanken zum sportlichen, nackten Leben in der Sonne dar. Dieses Buch wurde umgearbeitet zu einem Bestseller mit Weltgeltung, der bis Ende des Zweiten Weltkrieges 250.000-mal verkauft wurde. 1924 nahm Surén seinen Abschied von der Reichswehr, um sich ganz der Publikation weiterer ähnlicher Schriften zu widmen.
Bei dem Text und den Fotos in "Der Mensch und die Sonne" fällt auf, dass sich Surén auf "Alt Hellas", also das antike Griechenland, bezog. Es gibt in diesem Buch fast nur Aktfotos von Männern, die bei Sportübungen unter sich bleiben. Dabei sieht man nicht nur eine durch Sport bedingte körperliche Nähe, sondern auch eine Umarmung (S. 64/65). Sind die männlichen Aktfotografien in diesem Buch ein Ausdruck von Suréns Homosexualität?
In Bernd-Ulrich Hergemöllers Lexikon "Mann für Mann. Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mann-männlicher Sexualität im deutschen Sprachraum" (1998, S. 684-685) steht: "Voller Begeisterung für die Schönheit des jungen männlichen Körpers fertigte er Tausende von Aktaufnahmen", die zum Teil in "Der Mensch und die Sonne" eingingen. In diesem Werk "konnte er sowohl seine voyeuristischen Neigungen als auch seinen neurotischen Narzißmus zur Geltung bringen." Diese Äußerungen vernachlässigen den Umstand, dass Surén, wenn auch in einem geringeren Umfang, auch nackte Frauen und Kinder fotografierte und viele Fotos im Buch gar nicht von ihm selbst stammen. Um in Hans Surén einen Homosexuellen zu sehen, erscheint mir die im Lexikon aufgeführte Quellenlage als zu dürftig. In der späteren Ausgabe von "Mann für Mann" (2010) ist der Artikel über Surén nicht mehr enthalten und offenbar kamen Hergemöller ähnliche Zweifel, ob man von diesen Fotos auf das sexuelle Begehren des Autors schließen kann.
Auch die Rezension in der Homosexuellenzeitschrift "Der Eigene" (Jg. 1924, Heft 7/8, S. 369) mit dem Hinweis, dass Surén mit viel "Wärme" von der "Körpererziehung im antiken Griechenland" schreibe, ändert nichts daran, auch wenn damit eine homosexuelle Rezeption deutlich wird.
Adolf Koch: "Körperbildung, Nacktkultur" – FKK als Alibi?
Adolf Koch (1897-1970) war Pädagoge, Sportlehrer, Begründer einer nach ihm benannten gymnastischen Bewegung und Vorreiter der Freikörperkultur. Als Lehrer ließ er Jungen und Mädchen gemeinsam nackt turnen und wurde deshalb im Januar 1924 zuerst suspendiert und einige Monate später entlassen. Im selben Jahr gründete er die "Körperkulturschule Adolf Koch" und veröffentlichte sein Buch "Körperbildung, Nacktkultur" (September 1924).
Da es sich bei "Körperbildung, Nacktkultur" um ein pädagogisches Buch handelt, sind darin vor allem Fotos nackter Kinder beiderlei Geschlechts bei gemeinsamen Sportübungen abgedruckt. Die zweite Hälfte des Buches befasst sich mit den gegen Koch vorgebrachen Beschuldigungen, die bis zur Bezeichnung als "Kinderschänder" (S. 139) reichten, wobei sich die Verteidigung offenbar auch auf gleichgeschlechtliche Sexualität bezieht ("Hellas gedeiht nun einmal nicht auf märkischem Sand", S. 178). Eines der zitierten und Koch entlastenden Gutachten stammt von Magnus Hirschfeld, der ihm auf dem Briefpapier des Instituts für Sexualwissenschaft am 14. Januar 1924 bescheinigte, er habe sich selber davon überzeugen können, dass es bei Kochs Nacktsport nicht um irgendeine "Lüsternheit" gehe (S. 205).
In der Homosexuellenzeitschrift "Der Eigene" (Jg. 1924, S. 366-367) wurde Kochs Buch rezensiert, was aber – ähnlich wie bei Surén – noch keine Rezeption als homosexueller Autor belegt. Ein Satz aus der Rezension von Kochs Buch in der "Volkswacht" (18. September 1924) belegt die den FKK-Fotos von anderer Seite zugeschriebene Erotik und ist ein interessantes Beispiel für Heteronormativität: "Ob der Anblick eines nackten Körpers eines andersgeschlechtlichen Menschen, zumal wenn er schön ist, ein Lustgefühl erregt, kann nur subjektiv beantwortet werden."

Nacktfoto aus Adolf Kochs "Körperbildung, Nacktkultur" (1924)
Magnus Weidemann: "Ideale Körperschönheit" – heterosexuelle Zielgruppe
Magnus Weidemann (1880-1967) war Fotograf, Autor, Redakteur einer FKK-Zeitschrift und Mitbegründer der Freikörperkultur innerhalb der Lebensreform-Bewegung. Von 1922 bis 1924 beteiligte er sich in unterschiedlicher Form an sechs Veröffentlichungen über Aktfotografie (Wikipedia).
Zwei dieser Bücher von 1924 gibt es online, sie bieten einen guten Überblick über die von ihm erstellten Fotos bzw. über die von ihm unterstützte Aktfotografie: "Ideale Körperschönheit" (2. Band, Fotos: Weidemann, 1924, S. 17, 25) und "Körperschönheit im Lichtbild. Ein Führer durch das Gebiet der Aktlichtbildkunst" (Hrsg. Weidemann, 1924, S. 12, 13). Beide Bücher beinhalten jeweils nur zwei Aktfotos von Männern und machen damit sehr deutlich, dass heterosexuelle Männer die Zielgruppe dieser Bücher sind. In diesen Artikel über Homosexualität wird auf Weidemanns Bücher hingewiesen, weil sie im Vergleich mit dem Buch von Hans Surén aufzeigen können, wie unterschiedliche erotische Interessen mit demselben Genre bedient werden können.

Nacktfoto aus Magnus Weidemann: "Ideale Körperschönheit"
Adolf Brand: Aktfotos in "Der Eigene" – schwule Zielgruppe
Am deutlichsten ist die homosexuelle Zielgruppe wohl bei den Aktfotos in der Homosexuellenzeitschrift "Der Eigene", die von der Humboldt-Universität zu Berlin digitalisiert und online gestellt wurde. Warum diese Uni meinte, von den insgesamt zehn Aktfotos des Jahres 1924 (u. a. S. 85, 91, 209, 311, 321, 341, 351) drei unbedingt pixeln zu müssen (S. 75, 169, 187), bleibt schleierhaft, weil es sich weder um Nahaufnahmen von Genitalien noch um eine anstößige Inszenierung handelt. Alle Fotos stammen von Adolf Brand, der sie alle in der freien Natur aufnahm. Von zwei Aufnahmen, die Männer zu zweit (S. 91) oder zu dritt (S. 209) zeigen, abgesehen, sind die Abgebildeten in der Natur alleine und erscheinen häufig verträumt. Es sind Fotos, die eine große Ruhe ausstrahlen. Ob man bei dem Flötenspieler (S. 169) bzw. bei Stöcken und Speeren (S. 85, 311, 321) eine phallische Symbolik erkennen möchte, bleibt wohl der jeweiligen Phantasie überlassen.

Ein nachträglich gepixeltes (S. 75) und ein ungepixeltes Aktfoto (S. 209) von Adolf Brand in "Der Eigene" (1924)
"Die Erotik in der Photographie" – andere Formen der Legitimation
Das online verfügbare Buch "Die Erotik in der Photographie" (1931) möchte ich an dieser Stelle erwähnen, nicht obwohl, sondern weil das Jahr der Veröffentlichung vom Jahr 1924 weit entfernt ist. Sieben Jahre später ging es nicht mehr um FKK und eine vermeintliche sexuelle Unschuld beim Baden oder in der Natur, sondern deutlich um Erotik, Begierde und angedeuteten Sex. Aber auch diese Form der Darstellung brauchte eine Legitimation. Zum einen sind dies die akademischen Titel der Autoren unter der Leitung von "Ministerialdirektor Dr. Erich Wulffen". Zum anderen wird betont, dass man das, was man genüsslich in allen Variationen zeigt, richtig schlimm und krank finde, was bereits der Untertitel "Die geschichtliche Entwicklung der Aktphotographie (…) und ihre Beziehung zur Psychopathia sexualis" ausdrückt.
Wenn es um die "Psychopathia sexualis" geht, sind Schwule und Lesben meist nicht fern. Auch wenn es nur kurze Erwähnungen sind (u. a. S. 86, 93, 96-98, 124, 126, 134, 152, 208, 241): Homosexualität ist hier offenbar eine Art Komparativ unsittlicher Handlungen, denn es geht um Heterosexualität, aber auch um "Tribadie und Päderastie und Sodomie" (S. 84). Als Sammelband mit Texten von unterschiedlichen Autoren ist das Bild aber uneinheitlich. Der Beitrag von Erich Wulffen "Die behördliche Verfolgung des geheimen Photohandels" (S. 187-210) und die Statistik über den Anteil homosexueller an allen Aktfotografien von 1911 bis 1925 (S. 137) sind sogar recht informativ. Dass das gesamte Buch fast nur Aktfotos von Frauen zeigt (Ausnahmen sind zwei Aktfotografien von Männern auf S. 170, 174), sagt auch hier etwas über eine heterosexuell-männliche Blickrichtung und die Zielgruppe des Buches aus.

Eine Statistik über den Anteil "autoerotischer und homosexueller Bilder"
Filme
Es ist bemerkenswert, dass aus der Zeit der Weimarer Republik überdurchschnittlich viele deutsche Filmproduktionen wie "Metropolis" (1927) Eingang in den Kanon der internationalen Filmgeschichte gefunden haben. In diesen Jahren etablierte sich das Medium Film "trotz und wegen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Krisen" als gesellschaftlich wichtige Kunstform. Die historische Bedeutung von Filmen wie Friedrich Wilhelm Murnaus "Nosferatu" (1921) und "Die Büchse der Pandora" (1929) ist heute unbestritten. Der Tonfilm brachte neue Stars hervor, wie etwa Marlene Dietrich in "Der blaue Engel" (1930). Der Film "M" (1931) wurde u. a. von dem Fall des schwulen Serienmörders Fritz Haarmann inspiriert (filmportal).
Die Wahrnehmungen von Kinofilmen durch Homosexuelle
Heute diskutieren wir viel über Marlene Dietrich, die in ihrem ersten Hollywoodfilm "Marokko" (1930) im Smoking eine andere Frau küsst, und die Bedeutung der ersten lesbischen Filmfigur in "Die Büchse der Pandora" (1929). In einer Ausstellung erfahren wir viel über Friedrich Wilhelm Murnaus Homosexualität (Schwules Museum) und wir wissen heute, dass die Ehe des Filmschauspielers Rudolph Valentino mit einer lesbischen Schauspielerin eine reine PR-Angelegenheit war.
Beim Auswerten der Homosexuellenzeitschriften des Jahres 1924 bekam ich jedoch den Eindruck, dass sich die Bewegung für Filme anscheinend überhaupt nicht interessierte. In allen Heften dieses Jahres habe ich nur einen (unbedeutenden) Hinweis auf einen Kinofilm gefunden (zu "Aus dem Tagebuch eines Junggesellen" in "Die Fanfare", Heft 52, S. 3). Das hat mich gewundert, obwohl mir durchaus bewusst ist, dass bei der früheren Rezeption von Filmen mehrere zeittypische Hintergründe zu berücksichtigen sind, z. B. der Umstand, dass Filme, im Gegensatz zur Literatur, für den privaten Gebrauch nicht einfach mehrfach konsumiert werden konnten. Wer einen Film im Kino verpasste, hatte auch später kaum noch die Möglichkeit, ihn zu sehen. Schwulenzeitschriften durften sich auch nicht allzu deutlich auf Erotik beziehen, um nicht zensiert zu werden. In dem Buch von David Leddick "The Male Nude" (1998, S. 161) wird auf den Schauspieler Roman Novarro in "Ben Hur" (1925) verwiesen, der auch schon in "Araber" (1924) eine gute Figur gemacht habe. Erotik gab es auch in "Der Dieb von Bagdad", dem Kassenschlager des Jahres 1924, in dem der Hauptdarsteller Douglas Fairbanks fast durchgehend halbnackt zu sehen ist.

Der Kassenschlager des Jahres 1924: "Der Dieb von Bagdad"
Wolfgang Theis: "Das vage Bild der Homosexualität"
Erinnern möchte ich an die Ausführungen von Wolfgang Theis in dem Aufsatz "Verdrängung und Travestie. Das vage Bild der Homosexualität im deutschen Film (1917-1957)" im Ausstellungskatalog "Eldorado" (1984, S. 102-113). Für Theis war trotz des Ruhms von "Anders als die Andern" (1919) als weltweit erster Homosexuellenfilm das Kino in dieser Zeit nicht freizügig. Die öffentliche Meinung und die im Mai 1920 wiedereingeführte Filmzensur "ließen die Produktion eines eindeutig prohomosexuellen Films für lange Zeit undenkbar werden". Es gab im Kino kein "realistisches Bild des Homosexuellen und seiner Situation" und das Medium Film blieb prüde.
Theis zeigt gut auf, wie mehrfach verfilmte Biografien das Verschieben von Akzenten, das Verschweigen von Homosexualität und das "Heterosexualisieren" in Filmen dokumentieren können. Die Filme zum Skandal über den homosexuellen Oberst Redl (1925, 1931, 1955, 1985) sind sehr unterschiedlich, wobei die erste Verfilmung von 1925 eine erfundene heterosexuelle Erpressungsgeschichte erzählt. Bei den Verfilmungen des Lebens von Ludwig II. (1913, 1919, 1922, 1954, 1972) war der Regisseur Luchino Visconti der Erste, der 1972 den Mut besaß, die Homosexualität des Königs zu thematisieren. Auch die Travestie-Klamotte "Charleys Tante" (u. a. 1911, 1925, 1930, 1934) wurde unzählige Male verfilmt, wobei es beim Rollentausch im Genre der Travestie-Filme nie um die Lust an der Verkleidung ging, sondern diese wurde immer, z. B. durch eine Notsituation, legitimiert. Hier kann auch noch eine kleine Szene mit Buster Keaton als alte Dame in "Sherlock Jr." (1924, 32:20, 34:20-34:45 Min.) ergänzt werden.
Positiv würdigt Theis den Film "Wege zu Kraft und Schönheit" (1925, s. vor allem ab 7:00 Min.) als "eine Lobeshymne auf Körper- und Nacktkultur in teils antiker, teils moderner Szenerie", die auch im Ausland ein großer Erfolg wurde – und das wohl nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus erotischen Gründen.

Filmszene aus "Wege zu Kraft und Schönheit"
Die Filme "Anders als die Andern" (1919) und "Prinz Kuckuck" (1919)
Der Spielfilm "Anders als die Andern" (1919) von Richard Oswald entstand unter Mitwirkung von Magnus Hirschfeld und war der erste Film, der offen und deutlich Homosexualität thematisierte. Er handelt von einer Erpressungsgeschichte mit tödlichem Ausgang. Nach der Wiedereinführung der Filmzensur im Mai 1920 wurde der Film im August 1920 verboten und die Kopien wurden vernichtet. Fragmente des Films wurden in einem ukrainischen Archiv gefunden, vom Filmmuseum in München restauriert und im Oktober 2006 als DVD veröffentlicht.
Von der Literaturverfilmung "Prinz Kuckuck" (1919), die im Mai 1921 für Minderjährige verboten wurde, existieren überhaupt keine Filmkopien mehr. Durch Fotos, Besprechungen und unter Berücksichtigung des zugrunde liegenden Romans von Otto Julius Bierbaum lässt sich der Film jedoch zum Teil rekonstruieren. Zu dem Film "Anders als die Andern" – der nur einige Monate vorher seine Premiere feierte – lassen sich einige Parallelen ziehen: Beide Filme behandeln Homosexualität, entstanden zu Beginn der Weimarer Republik, als es noch keine staatliche Filmzensur gab, und in beiden Filmen verkörpert der prominente Schauspieler Conrad Veidt einen erpressten Homosexuellen (s. Artikel auf queer.de von 2019). Zumindest "Anders als die Andern" wird bei den sich ihrer Homosexualität bewussten Männern der Weimarer Republik fünf Jahre später noch in Erinnerung gewesen sein.

Szene aus dem verschollenen Film "Prinz Kuckuck"
Die Filme "Salome" (1922) und "The Soilers" (1923)
Vorlage für den Stummfilm "Salome" (Erstaufführung: 31. Dezember 1922) war das gleichnamige Drama von Oscar Wilde (1893), der wegen der Vermischung von "Dekadent-Perversem" mit biblischen Figuren und Motiven stark kritisiert wurde. "Angeblich – Kenneth Anger bekräftigte das Gerücht – ließ (die Produzentin und Hauptdarstellerin Alla) Nazimova verbreiten, der Film sei als Hommage an Oscar Wilde mit einer aus Bi- und Homosexuellen bestehenden Besetzung produziert worden, und löste damit einen ungeheuren Skandal aus. Auch wegen seiner offenen Darstellung von Homosexualität wurde der Film stark zensiert" (Wikipedia), womit das im Film angedeutete homoerotische Verhältnis zwischen einem Syrer und Herodias' Page (5:10-37:05 Min.) gemeint ist.
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Der Kurzfilm "The Soilers" (Erstaufführung: 25. November 1923) zeigt den Cowboy Bob (D: Stan Laurel), der sich in langen Einstellungen mit dem Sheriff prügelt. Mehrere Kurzauftritte hat dabei ein klischeehaft dargestellter und offenbar schwuler Cowboy (u. a. 18:55, 19:25 und 23:10 Min.), der erkennbar "weiblich" und damit konträr zu den beiden "männlichen" Raufbolden inszeniert ist. Er manikürt seine Fingernägel, betrachtet sich narzisstisch im Spiegel, himmelt Bob an und will ihm eine Blume schenken. Für den Filmhistoriker Vito Russo ist diese Filmfigur ein frühes Beispiel eines "harmlosen Weichlings", wobei die Verbindung von "weiblich" und schwul deutlich erkennbar ist ("Die schwule Traumfabrik, 1990, S. 27-28). Beide Filme sind filmhistorisch bedeutsam, wobei man konstatieren muss, dass sie in den Zwanzigerjahren in Deutschland nicht zu sehen waren und daher für hier lebende Schwule keine Bedeutung hatten.

Filmszene mit einem schwulen Cowboy in "The Soilers"
Der Film "Michael" (1924)
Der Film "Michael" (1924) ist eine Literaturverfilmung nach dem gleichnamigen Roman von Herman Bang (1904) und wurde am 26. September 1924 in Berlin uraufgeführt. Der Film zeigt das Leben des berühmten Malers Claude Zoret, der sich in sein Lieblingsmodell Michael verliebt. Er adoptiert ihn und setzt ihn als seinen alleinigen Erben ein. Michael kann jedoch seine Gefühle nicht erwidern und hat zeitgleich ein Verhältnis mit einer Fürstin. Auf dem Sterbebett sagt Claude Zoret: "Nun kann ich sterben, denn ich habe eine große Liebe gesehen."
Die wenigen zeitgenössischen Rezensionen, die ich zu diesem Film gefunden habe, sahen, wie "Der Filmbote" (11. Oktober 1924), keinen homoerotischen Hintergrund. Heute ist das anders und "Michael" gehört zu den wichtigen schwulen Filmen der Weimarer Republik. Für Hermann J. Huber ("Gewalt und Leidenschaft. Das Lexikon Homosexualität in Film und Video", 1989, S. 122) ist er ein "Filmdokument von unschätzbarem Wert". Nach Einschätzung von Axel Schock und Manuela Kay ("Out im Kino", 2003, S. 249) wurden die "zaghaften homoerotischen Andeutungen Bangs" mit "dramaturgischem Geschick" herausgearbeitet. An die historische Bedeutung von "Anders als die Andern" kommt "Michael" jedoch nicht heran.

Filmszene aus "Michael" (1924)
Der Filmhistoriker Vito Russo ("The Celluloid Closet", hier zitiert nach der deutschen Ausgabe "Die schwule Traumfabrik", 1990, S. 25-26) weist darauf hin, dass "Michael" 1926, wenn auch nur kurz, in den US-Kinos zu sehen war. "Die Zensoren beanstandeten den ersten amerikanischen Verleihtitel 'The Inverts'; deshalb lief er kurze Zeit (…) als 'Chained: The Story of the Third Sex'; von einem 'wissenschaftlichen Vortrag' begleitet." Die homosexuelle Thematik war in den USA damit deutlicher als im deutschen Filmtitel.
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