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Filmklassiker in der Kritik

Über Quentin Tarantinos nur spärlich verhüllte Homophobie

Heute vor 30 Jahren – am 21. Mai 1994 – war die Premiere von "Pulp Fiction". Für viele ist er einer der besten Filme aller Zeiten. Für mich nicht.


Mörder und Moral: Filmszene aus "Pulp Fiction" (Bild: Miramax Films)

Viele lieben den Kultfilm "Pulp Fiction" (USA 1994) wegen seiner coolen Actionhelden, der Ironie, den Filmzitaten und wegen John Travolta. Wegen der analen Vergewaltigung eines Mannes durch einen Mann verdient der Film auch aus schwuler Perspektive eine genauere Betrachtung.

Der Hype um den Film

Im "Filmdienst" (früher: "Lexikon des internationalen Films") kann man lesen: "Mit lakonischem Humor zeigt die brillante schwarze Komödie eine Gesellschaft, die von Brutalität, Dummheit, moralischer Indifferenz und grotesken Zufällen beherrscht wird. Bekannte Muster der Trivialkultur und des amerikanischen B-Pictures werden auf intelligente Weise variiert und konterkariert." Der Film wurde für sieben Oscars nominiert – darunter in der Kategorie Bester Film – und gewann in der Kategorie Bestes Originaldrehbuch. Auf dem Filmfestival in Cannes wurde er mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.

Es gibt in diesem Film nicht, wie meistens üblich, eine eindeutig positive oder als bewundernswert dargestellten Figur, die zur Identifikation einlädt. Das Spiel mit der Irritation, dass die skrupellos mordenden Gangster auch menschliche Züge haben, zieht sich durch den ganzen Film. Nicht nur die Moral, sondern auch das Stereotyp des coolen Action-Helden werden ironisch gebrochen. In dem Umstand, dass ein Killer sein Gangsterleben an den Nagel hängt, kann man sogar eine Art "Läuterungsgeschichte" erkennen. Der Film entzieht sich einer klar festzulegenden moralischen Botschaft, was zum Schillernden des Films beiträgt. Die Erzählung der Episoden in nicht-chronologischer Reihenfolge erschwert die Einordnung, hat aber künstlerische Qualität.

Die Vergewaltigungsszene in "Pulp Fiction"


Die Vergewaltigung des Gangsterbosses Marsellus Wallace (Ausschnitt)

In der dritten Episode "The Gold Watch" (s. a. Wikipedia) geraten die beiden Kontrahenten Butch Coolidge (D: Bruce Willis) und Marsellus Wallace (D: Ving Rhames) in die Gefangenschaft der homosexuellen Sadisten Maynard und Zed. Während diese Marsellus in ein Nebenzimmer führen, um ihn dort zu vergewaltigen, gelingt es Butch, sich zu befreien. Butch überlegt kurz, ob er flüchten soll, entscheidet sich dann aber dafür, Marsellus mit einem Schwert zu befreien. Dabei sehen die Zuschauenden kurz, wie der nach vorne fixierte Marsellus von Zed anal vergewaltigt wird. Während Butch den Voyeur Maynard mit dem Schwert tötet und Zed in Schach hält, befreit sich Marsellus. Er legt seine Auseinandersetzung mit Butch bei und kündigt an, sich an Zed zu rächen, indem er ihn zu Tode foltern werde.

Nicht Mord und Totschlag, wohl aber diese Vergewaltigung fällt bei den beiden Gangstern unter ein sprachliches Tabu. Marsellus fordert von Butch: "Erzähl niemandem von dieser Nummer!" Das gehe schließlich "niemanden was an". Dies zeigt, wie sehr die anale Vergewaltigung von den Protagonisten vor allem als tiefgehende Verletzung männlicher "Ehre" angesehen wird, auch wenn Marsellus äußerlich gefasst wirkt. Die rund zehnminütige Szene gibt es bei Youtube online.

Diese Episode – also "The Gold Watch" – handelt in recht bizarrer Form auch von der großen Bedeutung einer goldenen Armbanduhr, die von Butchs Vater während seiner Kriegsgefangenschaft in Vietnam und – nach seinem Tod – von einem Kriegskameraden jahrelang in ihrem Rektum versteckt wurde. Ein möglicher Bezug zwischen der analen Vergewaltigung und einer rektal geschmuggelten Armbanduhr bleibt im Film offen.

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Die gängige Bewertung der Vergewaltigungsszene

Quentin Tarantino hat es geschafft, dass die meisten der mir bekannten Autor*innen, die sich über den Film geäußert haben, die von ihm zum Ausdruck gebrachte Moral übernommen haben. Eine "Moral", nach der Mord für Gangster legitim ist, aber nicht die Vergewaltigung eines Mannes. Überspitzt formuliert: Der Film zeigt coole (heterosexuelle) Mörder und schlimme (homosexuelle) Vergewaltiger. Ich bin nicht irritiert über die moralische Verurteilung der Vergewaltiger, sondern nur über die Betonung der moralischen Integrität ihrer Mörder. Diese "Moral" wird in Filmbesprechungen nicht nur nicht hinterfragt, sondern auch unreflektiert übernommen.

So werden der Film und seine mordenden Protagonisten positiv bewertet, andererseits wird von den "perversen Vergewaltigern" (in: "Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft", Heft 4/43, 2000, S. 146) und von der "Abartigkeit der Folterer" (Uwe Nagel: "Der rote Faden aus Blut. Erzählstrukturen bei Quentin Tarantino", 1997, S. 130-131) geschrieben. Auch die Selbstjustiz von Butch und Marsellus wird in den Besprechungen nicht in Frage gestellt, sondern sogar als ehrenhafte Tat beschrieben. Die "unsympathische Nebenfigur" wird nur "folgerichtig umgebracht". Statt von einer analen Vergewaltigung ist hier mehrfach nur von einer "sexuellen Degradierung" die Rede, was merkwürdig tabuisierend und verharmlosend wirkt (in: "Moderne Filmtheorie", 2003, S. 99). Besonders deutlich zeigt sich die unterschiedliche Bewertung bei Christine Schmitt, die sich schon im Aufsatztitel "Moral trotz Gewalt?" ausdrückt (in: "Kopf-Kino. Gegenwartsliteratur und Medien. Festschrift für Volker Wehdeking zum 65. Geburtstag", 2006, S. 237-248). Die Mörder verfügten, so Schmitt, "trotz ihrer Verbrechen über ein Gewissen" und so ist der Umstand, dass Butch Marsellus befreit (und den Vergewaltiger tötet), für sie folgerichtig nicht nur eine legitime "Notwehrhandlung", sondern auch ein "Handeln nach den Regeln eines klaren Ehrenkodexes". Der Mord an den "Perversen" mit ihren "abartigen Bedürfnisse(n) (…) "empfindet man hier als gerecht und notwendig", weil sich Butch schließlich damit "seine moralische Integrität" bewahren könne. Es stimmt, dass das Handeln der Figuren nach den Regeln von einem Ehrenkodex erfolgt. Wie man diesen jedoch bewertet und ob man ihn für legitim hält, ist eine andere Frage.

Gegenstimmen

Der oben schon zitierte "Filmdienst" schreibt ergänzend: "Dabei schreckt der Film auch nicht vor exzessiven, wenn auch satirisch überspitzten Gewaltszenen zurück, die teilweise nur schwer verdaulich sind." Damit ist offenbar auch die Vergewaltigungsszene gemeint. Es gibt also durchaus Stimmen, die den Film kritisch sehen. Die US-Schwulenzeitschrift "The Advocate" nennt "Pulp Fiction" 1996 als ein Beispiel dafür, dass Hollywood kein Problem mit schwulem Sex habe, solange dieser gewalttätig verlaufe, sondern dass das Problem in der Darstellung schwuler Liebe bestehe. Anders ausgedrückt: Für den größten Teil des Mainstream-Publikums war (bzw. ist) die Darstellung der Vergewaltigung eines Mannes vermutlich erträglicher als Szenen mit Zärtlichkeiten zwischen zwei Männern. Auch dies ist ein guter Ansatz, über Moral im Kino nachzudenken. Der "Advocate"-Artikel ist jetzt 28 Jahre alt ist und ich bin froh, dass sich bei der Darstellung von Homosexualität in Mainstream-Filmen und bei der Einstellung des Publikums vieles zum Positiven verändert hat.


Die Vergewaltigung von Marsellus Wallace – etwas näher betrachtet

Für Peter Biskind ("Sex, lies & pulp fiction. Hinter den Kulissen des neuen amerikanischen Films", 2005) zeigt dieser Film Quentin Tarantinos "nur spärlich verhüllte(r) Homophobie" (S. 205). Es scheint, als wenn Tarantinos Homophobie – ähnlich übrigens wie sein Fußfetischismus (S. 513) – Spuren im Film hinterlassen hat.

Vergewaltigungen von Männern in der Filmgeschichte

Schon vor mehr als 50 Jahren begann im Kino die Enttabuisierung analer Vergewaltigungen von Männern. Die erste in Szene gesetzte Vergewaltigung eines Mannes ist wohl in "Katanga" (1968) zu sehen, worin der Soldat André de Surrier als Kriegsgefangener vornüber auf den Tisch gebeugt, fixiert und vergewaltigt wird. Es ist nur eine kurze Filmszene von wenigen Sekunden, ebenso wie die kurzen Szenen in "Asphalt-Cowboy" (1969). Joe Buck (D: Jon Voight) versucht in New York sein Glück zu finden und wird bei seinem Bestreben, als Callboy zu arbeiten, von seinem Freund Rizzo (D: Dustin Hoffman) unterstützt. In zwei Flashbacks erinnert sich Joe jedoch auch daran, wie er früher von Männern vergewaltigt wurde. Auch aufgrund dieser Szenen wurde der Film, der drei Oscars gewann, erst ab 18 Jahren freigegeben.


Eine schlimme Erinnerung in Schwarz-Weiß – aus dem Kult-Klassiker "Asphalt-Cowboy" (1969)

Der Film "Beim Sterben ist jeder der Erste" (1972) wird recht häufig und irrtümlich als erster Film bezeichnet, der eine mann-männliche Vergewaltigung zeigt, was wohl daran liegt, dass die Vergewaltigung fünf Minuten lang ausführlich gezeigt wird. Wegen des Darstellers Burt Reynolds, wegen einer Banjo-Szene, weil der Film das Genre des sogenannten Backwoods-Films mitbegründet hat, aber auch wegen der Vergewaltigungsszene ist der Film bis heute bekannt.

Ab den Achtzigerjahren folgten viele weitere Filme wie "Spetters" (1980). Zu den Mainstream-Filmen gehört – neben "Pulp Fiction" – auch noch "American History X" (1998), der die Vergewaltigung im Rahmen von Gewalt im Knast recht typisch verortet. Nicht nur "Pulp Fiction", sondern auch Filme wie "Von Bullen aufs Kreuz gelegt" (1989), "Sleepers" (1996) und "Descent" (2007) lassen sich kritisieren, weil sie Selbstjustiz nach einer Vergewaltigung erkennbar zu legitimieren versuchen. Interessierte verweise ich auf meine queer.de-Artikel zu den Filmen "Spetters" (1980) und "Menschen hinter Gittern" (1971). Weitere Ausführungen zu rund 100 Filmen mit mann-männlichen Vergewaltigungsszenen finden sich auf meiner Homepage.

Wie reflektiert die Vergewaltigung eines Mannes in einem Film sein kann

Es ist gut, dass Vergewaltigungen von Männern in Filmen keinem großen Tabu mehr unterliegen und seit mehreren Jahrzehnten behandelt bzw. gezeigt werden. Ich störe mich auch nicht an der Darstellung von Gewalt, solange sie nicht erkennbarer Selbstzweck ist. Für mich ist es auch nicht wichtig, ob im Rahmen politischer Korrektheit – sozusagen als Ausgleich für die Vergewaltigung durch einen Mann – in einem Film auch rechtschaffene Schwule vorkommen. Das passiert manchmal, getragen von dem Wunsch nach einer fairen Darstellung von Homosexualität in den Medien.

Die Einbettung einer mann-männlichen analen Vergewaltigungsszene ist in vielen Filmen sehr überzeugend umgesetzt, in denen gezeigt wird, dass es Tätern nicht (nur) um sexuelle Befriedigung, sondern auch um Motive wie Macht, Strafe, Einschüchterung und sexuelle "Degradierung" geht, die sich nicht immer voneinander trennen lassen. In einigen Filmen ist die Vergewaltigung ein wichtiger dramaturgischer Wendepunkt. In "Beim Sterben ist jeder der Erste" (1972) symbolisiert sie auch die "Vergewaltigung" der Natur durch den Menschen (hier der Bau eines Staudamms). In "Twentynine Palms" (2003) findet sie in der Wüste statt, die hier als Symbol einer inneren Leere und Gefühllosigkeit fungiert. Der Knast-Film "American History X" (1998) zeigt sie im Kontext einer zu durchbrechenden Gewaltspirale. "Dead Simple" (2003) zeigt eindrucksvoll das psychische und physische Leiden eines Vergewaltigungsopfers und in "Black's Game" (2012) werden mit der Vergewaltigung sehr gut Machtstrukturen verdeutlicht.


Das Opfer kurz nach der Vergewaltigung in "American History X" (1998)

Wie unreflektiert die Vergewaltigung in "Pulp Fiction" ist

Die Vergewaltigungsszene in "Pulp Fiction" verläuft nach einem anderen Muster. Sie ist losgelöst vom sonstigen Handlungsverlauf und wir erfahren nichts über die Täter. Die ironisch-witzige Einbindung nicht nur dieser Gewaltszene finde ich irritierend. Mir ist klar, dass die Konzeption von mehreren Figuren als skrupellose Verbrecher, die gleichzeitig menschliche Züge haben, irritierend wirken soll und dass die Tötung der Vergewaltiger bewusst so arrangiert ist, dass sie als Nothilfe angesehen werden kann. Für mich bleiben die Protagonisten dieses Films jedoch Mörder und eben nicht, wie in vielen anderen Filmen, die, die Mörder jagen.

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Ist es der Wille von Quentin Tarantino, dass ich die Mörder Butch und Marsellus als cool wahrnehmen, ihre Vergewaltigung aber als unmenschlichen Akt und schlimmes Unrecht begreifen soll? Das funktioniert bei mir genauso wenig wie die von Tarantino offenbar beabsichtigte Legitimierung von Selbstjustiz nach einer Vergewaltigung. Ich kann nachvollziehen, dass dieser Film für viele zu irreal, zu bewusst künstlich inszeniert und zu deutlich mit überzeichneten Stereotypen arbeitet, als dass sich daraus eine persönliche Einstellung des Regisseurs schließen würde. Ich kann mir aber nach diesem Film Tarantino nur als einen heterosexuellen Mann vorstellen, der sich Sex unter Männern, weil für ihn diese Vorstellung sehr unangenehm ist, nur in Form einer Vergewaltigung vorstellen kann. Eine solche Sicht teilt er vermutlich mit vielen Kinobesucher*innen, die sich sexualisierte Gewalt von bzw. an Homosexuellen immer noch problemloser ansehen können als einen zärtlichen Kuss zwischen zwei Männern.

Ich würde Quentin Tarantino nicht nur gerne nach seiner Einstellung zu Homosexuellen befragen, sondern auch danach, was es mit dieser merkwürdigen Nebenhandlung der goldenen Uhr auf sich hat, die jahrelang in einem Rektum versteckt wurde, und ob auch diese Nebenhandlung Ausdruck diffuser analer Ängste von ihm ist. Vielleicht könnte ich dann den Film und Quentin Tarantino besser verstehen. Zumindest moralisch hat "Pulp Fiction" (1994) vermutlich nicht mehr zu bieten als der von ihm offenbar inspirierte Pornofilm "Fuck Fiction" (2006) – auch wenn ich mich dabei nur auf die graphische Gestaltung des Covers beziehe und nicht auf den von mir noch nicht näher ausgewerteten Handlungsverlauf.


"Pulp Fiction" (1994) inspirierte offenbar "Fuck Fiction" (2006)

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