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Ausstellung in Berlin
Selbstbewusst, selbstironisch, sexpositiv: Jüdische Positionen zur Sexualität
Lehrreich, lustvoll, lustig und sehr queer beschäftigt sich das Jüdische Museum in einer neuen Schau mit Sexualität. Zu den Exponaten zählen historische Schriften, homoerotische Fotos – und ein Clip mit einem bondagierten Rabbi.

Tafel aus der Ausstellung "Sex. Jüdische Positionen" im Jüdischen Museum Berlin (Bild: Axel Krämer)
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23. Juni 2024, 04:50h 6 Min.
Ein Alien baumelt vom gläsernen Dach, das den Innenhof des Jüdischen Museums überspannt. Es ist ein bunt zusammengehäkeltes Knäuel aus Brüsten, Penissen und Vulven in den unterschiedlichsten Formen und Größen, und überall scheinen Körpersäfte herauszutropfen. Aus dem wollenen Wirrwarr namens "Tumtum" starren Augäpfel hervor, in denen sexuelles Begehren zum Ausdruck kommt. Körper, Identität und Lust sind in Gil Yefmans Installation unwiderruflich ineinander verstrickt. Sexualität, so die Botschaft des Kunstwerks, ist komplex und vielfältig. Sie lässt sich nicht auf einfache Kategorien reduzieren – eine Erkenntnis, die weit in die Geschichte zurückreicht, zumindest im Judentum.
Geschlechtliche Viefalt im Talmud

Körper, Identität und Lust: Gil Yefmans Installation "Tumtum" im Innenhof des Jüdischen Museums Berlin (Bild: Axel Krämer)
Schon bei den Rabbinern der Spätantike, so erfahren wir aus dem erläuternden Text zu "Tumtum", gab es jenseits der Binarität von Mann und Frau "Personen, deren verborgene oder uneindeutige Geschlechtsorgane sich der Einordnung entziehen". Auch wenn die geschlechtlichen Zwischenstufen nicht unbedingt positiv konnotiert waren, wurde im Talmud ausgiebig und lebhaft über sie diskutiert. Die Debatte war von Anfang an Teil der traditionell jüdischen Streitkultur, idealerweise ein Wettbewerb der Argumente.
So verweist Museumsdirektorin Hetty Berg zur Eröffnung der Ausstellung "Sex. Jüdische Positionen" ausdrücklich darauf, dass das Judentum selten mit einer Stimme spricht. Ob in philosophischen Debatten, der Sexualtherapie, der TikTok-Community oder unter Orthodoxen: Überall werden unterschiedliche Auffassungen von Sexualität laut, und sie finden alle in der Ausstellung Gehör – nicht nur, um "verbreiteten Klischees jüdischer Lebenszusammenhänge" entgegenzutreten. Es geht um die Veranschaulichung innerjüdischer Debatten, wobei sich die Ausstellung in unterschiedliche Bereiche gliedert: Dazu zählen Begehren, sexuelle Tabus, Ehe und Fortpflanzung sowie religiöse Rituale und der Eros der Spiritualität. Dem Thema Queerness ist dabei kein eigenständiger Bereich gewidmet, vielmehr zieht es sich wie ein rosa Faden durch den gesamten Parcours, unübersehbar präsent in jeder Fragestellung – und immer stellt es sich als ein Katalysator dar, der die gesellschaftliche Modernisierung vorantreibt.
Queerness in allen Facetten
Die Schau, die noch bis zum 6. Oktober 2024 zu sehen ist, umfasst 140 Exponate und thematisiert Queerness in allen Facetten. Dabei verweist sie auch auf Ausgrenzung und den mühseligen Kampf um Anerkennung, wie auf zahlreichen Darstellungen zu erkennen ist. So wird etwa an den ersten lesbischen Kuss auf einer amerikanischen Bühne erinnert, der in die Geschichte einging: eine Szene aus Shalom Achs Theaterstück "Der Gott der Rache". Nach der Uraufführung am Broadway 1923 wurden die Darstellerinnen der Obszönität bezichtigt und verhaftet.

Die Ausstellung "Sex. Jüdische Positionen" ist noch bis zum 6. Oktober 2024 im Jüdischen Museum Berlin zu sehen (Bild: Axel Krämer)
Auf einem Werbefoto für die 1979 in den Niederlanden gegründete Organisation Sjahlomo umarmen sich zwei Männer mit Kippa; die Initiative kämpfte für die Akzeptanz von Homosexualität in jüdischen Gemeinden. Ein paar Jahre später entstand die Fotografie "Thank God I'm Gay" mit "Sadie, Sadie, the Rabbi Lady": eine als Nonne verkleidete jüdische Dragqueen aus der 1984 in San Francisco gegründeten Organisation "Sisters of Perpetual Indulgence", die sich gegen Diskriminierung und religiöse Scheinheiligkeit zur Wehr setzte.
Schwules Paar unter traditionellem Gebetsschal
Ein Schwerpunkt der Ausstellung bildet das Thema Ehe und Sexualität. Auf Yitzchak Woolfs Aufnahme von 2008 sind die beiden Männer Benny und Nir bei einer Jerusalemer Trauungszeremonie unter einem traditionellen Gebetsschal zu sehen, einem eher seltenen Brauch. Er ist einem bekannten Ölgemälde von Jozef Israëls aus dem Jahr 1903 nachempfunden, auf dem wiederum ein Mann und eine Frau als Paar abgebildet sind.

Links: Yitzchak Woolf, A Jewish Wedding, 2008, Ausstellungsprint; Courtesy of the artist / Rechts: Jozef Israëls, Jüdische Hochzeit, 1903
Das schwule Paar wollte damit "auf den ungeklärten Status von gleichgeschlechtlichen Paaren" hinweisen, wie es in der Erläuterung zum Foto heißt. Demzufolge mussten die beiden lange nach einer Gemeinde suchen, die bereit war, ein homosexuelles Paar zu trauen, denn laut jüdischer Tradition ist der Bund fürs Leben nur heterosexuellen Paaren vorbehalten – ganz davon abgesehen, dass Sex nur innerhalb einer Ehe vollzogen werden durfte. Doch inzwischen haben gleichgeschlechtliche Paare wie Benny und Nir "sowohl die Ehe als auch die Einstellung zum 'heiligen Sex' verändert", so der Ausstellungstext. Auf einem 1994 entstandenen Hochzeitsfoto ist wiederum ein lesbisches Paar aus einer US-amerikanischen Gemeinde abgebildet: die Rabbinerin Malka Drucker und die Fotografin Gay Block.
Auch das Thema Sexualität und Fortpflanzung, das aus "Sorge um die Kontinuität des Judentums" einen grundlegenden Wert darstellt, berührt queere Aspekte – in diesem Fall kommt die Emanzipation sogar als gesellschaftliche Pflicht daher. Denn das religiöse Gebot zur Familienerweiterung schließt heutzutage kaum noch jemanden aus, wie man dem Ausstellungstext entnimmt. Inzwischen befürworten nicht-orthodoxe Rabbiner sogar den Einsatz reproduktionstechnologischer Methoden, wobei sich auch Angehörige "aus den LGBTQ+-Communities" angesprochen fühlen dürfen.
KZ-Pornos als harte Kost
Zur harten Kost in dieser Schau zählen die sogenannten Stalags, ein Kürzel für "Stammlager": pornografische Romane, die in nationalsozialistischen Konzentrationslagern spielen und in den 1960er Jahren in Israel populär wurden. "In diesen frühen pornografischen Schriften auf Hebräisch setzte sich die israelische Gesellschaft mit den Schrecken der Shoa auseinander." Das lässt nicht nur erahnen, "welche schockierenden und grenzüberschreitenden Formen sexuelle Fantasien annehmen", wie uns der Ausstellungstext vermittelt, sondern auch, wie komplex sexuelles Begehren grundsätzlich sein kann.
Einen unbeschwerten, sexpositiven und homoerotischen Touch erhält die Schau durch Fotografien von Adi Nes, Guy Aon, Benyamin Reich oder der Künstlerin G .L. H., die einen Blick wagen auf hypersexualisierte Soldaten mit nackten Oberkörpern, auf arrangierte Leiber in polyamoren Beziehungen, oder auf junge orthodoxe Männer beim Bad in der Mikwe – ganz zu schweigen vom Ritual des Gebetsriemens, das wie ein Fetisch anmutet.
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Mutige Ausstellung mit Humor
Gelegentlich gibt es auch Anlass zur Heiterkeit, wie bei dem selbstironisch präsentierten Videoclip aus Woody Allens 1972 gedrehtem Film "Was Sie schon immer über Sex wissen wollten": Dabei wird in der parodierten TV-Show "What's my Perversion?" die sexuelle Phantasie eines Rabbiners mittels Bondage und Erniedrigung erfüllt, während dessen Gattin zu seinen Füßen eine Portion Schweinefleisch verzehrt.
Es wird noch so viel mehr verhandelt in dieser lehrreichen und lustvollen Ausstellung, zum Beispiel die Arbeit der US-Sexualtherapeutin Ruth Westheimer oder die Entstehung des Sexualwissenschaftlichen Instituts in Berlin. Zu letzterem hat Rainer Herrn von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft einen pointierten Text in dem vom Hirmer Verlag herausgegebenen Katalog (Amazon-Affiliate-Link ) beigetragen, der äußerst ansprechend gestaltet ist und in dem auch alle anderen Themen anregend vertieft werden.

Zu den Exponaten gehört auch ein an die TV-Shows der Sextherapeutin Ruth Westheimer angelehntes Gesellschaftsspiel (Bild: Axel Krämer)
Unter dem Titel "Verdammte Lust!" widmete sich das Freisinger Diözesanmuseum bereits vor einem Jahr dem Verhältnis von Körper, christlicher Religion und Sexualmoral, darunter befanden sich viele spektakuläre Exponate (queer.de berichtete). So sehr die Auseinandersetzung auch gelungen ist: Die aktuelle Schau im Jüdischen Museum kommt mutiger und vielschichtiger daher. Wie sähe wohl eine Ausstellung zur Sexualität im Islam aus? Das kuratorische Team hat es vermieden, die Frage überhaupt erst aufkommen zu lassen, der Fokus bleibt selbstbewusst auf das Judentum fokussiert: Das macht den Rundgang nur umso spannender.
Links zum Thema:
» Mehr Infos zur Ausstellung auf der Homepage des Jüdischen Museums
» Katalog zur Ausstellung bei amazon.de
Mehr queere Kultur:
» auf sissymag.de
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