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Viktor&Rolf

Eine symbiotische Liebe, die auf Kreativität beruht

Die niederländischen Modedesigner Viktor Horsting und Rolf Snoeren loten in ihren Entwürfen nicht nur die Grenzen zwischen den Geschlechtern aus, sondern auch zwischen Kunst und Haute Couture. Die Münchner Kunsthalle widmet ihrem dreißigjährigem Schaffen eine spektakuläre Retrospektive.


Viktor&Rolf 2016 (Bild links: Inez & Vinoodh), Late Stage Capitalism Waltz Haute Couture, S/S 2023 (Bild rechts: Peter Stigter)

Bei diesem Outfit steht buchstäblich alles Kopf. Immerhin wird auf den ersten Blick deutlich, dass es sich um ein festliches Ballkleid handelt. Der Taillenbund an dem Mannequin lässt sich noch auf einer Höhe verorten, die unseren Sehgewohnheiten entspricht, also knapp über Bauchnabelhöhe. Der voluminöse Tüllstoff fällt jedoch nicht A-linienförmig zu Boden, sondern steigt V-förmig auf, wo er mehr als einen Meter über dem Haupt nach oben auskragt und dabei das Gesicht komplett verhüllt, während die Beine unterhalb des Korsetts entblößt sind: Die Schwerkraft scheint aufgehoben. Aus den Angeln gehoben wird nicht nur das Grundgesetz der Physik, sondern auch die üblicherweise durch Kleidung betonten Geschlechtsmerkmale: Surreal wölben sich die Brustkörbchen auf Hüfthöhe nach außen, und am Bund darüber ist eine Schleife angebracht, die so gesehen auch eine männliche Fliege unter einem überdimensionierten Kragen sein könnte – letzteres eine futuristische Reminiszenz an die opulente Halskrause im spanischen Barock.

Die Queerness in den Entwürfen von Viktor Horsting und Rolf Snoeren ist komplex und offenbart sich häufig erst auf den zweiten Blick. Dabei lösen sie nicht nur die Grenzen zwischen den Geschlechtern auf, sondern auch jene zwischen Kunst und Haute Couture – oder auch von Realität und Fiktion. Vor gesellschaftskritischen Statements schrecken sie nicht zurück. Dabei gehen die beiden Modemacher, die sich als "Fashion Artists" bezeichnen, mitunter radikal ans Werk. Legendär ist etwa die Abendrobe, der sie einst mit einer Kettensäge den letzten Schliff verliehen: Die Schlitze und Löcher Ihre "Cutting Edge Couture" sind ein symbolischer Kommentar zur Finanzkrise von 2010, bei der tiefgreifende wirtschaftliche "Einschnitte" vorgenommen wurden.


Mode, die buchstäblich aus dem Rahmen fällt: Noch Haute Couture oder schon Kunst? (Bild: Axel Krämer)

Zur Selbstinszenierung der beiden gehört, dass sie sich zu einem symbiotischen Paar stilisieren, bei dem sich der eine vom anderen kaum unterscheidet. Das macht sich nicht nur in ihren stets austauschbaren Outfits bemerkbar, sondern auch in ihrem Labelnamen: "Viktor&Rolf" enthält absichtlich kein Leerzeichen. In Interviews sprechen sie ausschließlich in der "Wir"-Form. Dem Magazin der "Süddeutschen Zeitung" verrieten sie, dass sie zwar kein Liebespaar in konventionellem Sinne seien, da jeder von ihnen einen anderen Partner habe. Dennoch handele es sich bei ihrer Beziehung um "eine Liebe, die auf Kreativität beruht": Sie verbringen viel Zeit zusammen, sie verreisen gemeinsam, sie "teilen alles, streiten nie, und das seit dreißig Jahren. So viel Harmonie ist gespenstisch."

Kennengelernt beim Modestudium


Kostüme für Lady Gaga und Madonna (Bild: Axel Krämer)

Viktor&Rolf werden beide 1969 im Süden der Niederlande geboren. Während ihrer Jugend gibt es im ganzen Land keine Modekultur: keine Industrie, keine Zeitschriften – nicht den geringsten professionellen Bezug zu irgendetwas, das mit Fashion zu tun hat. "Der Gedanke, Modedesigner zu werden, war absurd", gibt Rolf in einer Podiumsdiskussion zu Protokoll.

Beide sind als Heranwachsende sehr introvertiert, ziehen sich zurück und lesen oder zeichnen für sich zuhause. Der Funke springt bei Rolf mit den künstlichen Inszenierungen der Parfümwerbung in den 1980er Jahren über. "Das hatte so etwas Magisches, Mysteriöses. Das flößte mir Inspiration ein." Bei Viktor ist es eine TV-Sendung im deutschen Fernsehen über die Pariser Mode-Defilees, die seine Begeisterung weckt. Sie lernen sich 1988 beim Modestudium an der Kunstakademie in Arnheim kennen, fünf Jahre später gründen sie ihr eigenes Label. Der Erfolg lässt zunächst auf sich warten. Nach ihrem Umzug nach Paris will es ihnen zunächst nicht gelingen, Fuß in der Modeindustrie zu fassen. Gleichwohl werden sie vom Kunstbetrieb geschätzt und zu Ausstellungen in Galerien und Museen eingeladen. Ihre Arbeit bleibt eine Gratwanderung zwischen Kunst und Haute Couture. Seitdem haben sie rund achtzig Kollektionen realisiert.

Derzeit bietet sich die Gelegenheit, rund einhundert Entwürfe der beiden Modedesigner in ihrer deutschlandweit ersten Retrospektive "Viktor&Rolf – Fashion Statements" in der Kunsthalle München zu erleben, zum Teil in aufwändigen Inszenierungen. Dem Publikum wird kein traditionelles Defilee präsentiert, sondern eine großzügige und in verschiedene Themenbereiche aufgeteilte Ausstellung. Diese Form sei "demokratischer als der Laufsteg. Es können mehr Menschen daran teilhaben und es ist von längerer Dauer", so Viktor&Rolf bei der Ausstellungseröffnung. "Es lenkt das Augenmerk auf die hohe Schneiderkunst, mit der unsere Stücke realisiert werden."

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Arbeiten aus drei Jahrzehnten


Ein Kostüm von Robert Wilsons Inszenierung des "Freischütz", Festspielhaus Baden-Baden, 2009 (Bild: Lesley Leslie-Spinks)

Viele der Exponate in der von dem kanadischen Kurator Thierry-Maxime Loriot konzipierten Schau stammen aus dem Archiv von Viktor&Rolf. Dabei werden Arbeiten aus ihrer dreißigjährigen Schaffenszeit gezeigt: Kostüme und Skizzen, Videos von Haute-Couture-Präsentationen und Interviews sowie Fotos von Andreas Gursky und Herb Ritts. Auch ein Hologramm ist Teil der Schau: Dabei ziehen Viktor&Rolf dem Mannequin Maggie Rizer auf einer Drehscheibe neun aufeinander abgestimmte Schichten der Kollektion "Matrjoschka" über, so dass sie am Ende der Show ein siebzig Kilo schweres Kostüm am Leib trägt. Die Idee stammt aus der Zeit, als das Geld noch knapp ist und Viktor&Rolf es sich nicht leisten können, mehrere Models zu buchen. Erst mit dieser 1999 aufgeführten Show erlangen sie den internationalen Durchbruch. Seither tragen Lady Gaga, Madonna, Tilda Swinton oder auch Björk ihre Kreationen, und der Regisseur Robert Wilson lässt 2009 von Viktor&Rolf sämtliche Kostüme für seine "Freischütz"-Inszenierung in Baden Baden entwerfen.

Auch wenn am Ende fast jede Kollektion zum Spektakel wird: bei Viktor&Rolf geht es nie um Trends. Am Anfang steht immer eine anspruchsvolle konzeptionelle Idee. So geht es etwa bei Upcycling Couture darum, mit Vorhandenem etwas Neues zu gestalten. Bereits für ihre erste Haute-Couture-Kollektion im Jahr 1998 verwenden sie Stoffe von Yves Saint Laurent und lassen das Logo sichtbar, um es zum Teil des Designs zu machen – nicht nur des Prinzips der Nachhaltigkeit wegen, sondern auch als Zitat und als Verweis auf die Geschichtlichkeit der Mode. In diesem Sinne verwendeten sie in folgenden Jahren auch Textilien von Cristóbal Balenciaga oder Stoffe aus ihren eigenen Kollektionen.

Mode, inspiriert vom Vampirfilm "Nosferatu"

Zu den Höhepunkten der Münchner Schau zählt die Haute-Couture-Kollektion "Surreal Shoulder" von 2022, bei der Viktor&Rolf mit den Mitteln der Mode das Grundgefühl der Angst reflektieren und "in etwas Positives und Spielerisches verwandeln", wie es im Ausstellungstext heißt. Dabei orientieren sie sich mit ihren Samt- und Satinkleidern mit den hochgezogenen Schulterlinien an Urbildern aus dem expressionistischen Film der 1920er Jahre, vor allem an Friedrich Wilhelm Murnaus Vampirfilm "Nosferatu – eine Symphonie des Grauens".


Reflexion von Angst mit den Mitteln der Mode: die Haute-Couture-Kollektion "Surreal Shoulder" von 2022(Bild: Axel Krämer)

Bei ihrer Kollektion "Zen Garden" von 2013 wiederum steht die Idee der Konzentration und der Ruhe im Vordergrund, der Laufsteg verwandelt sich in einen japanischen Garten. "Einerseits ist unsere Mode sehr fokussiert und präzise, andererseits auch opulent", so Rolf Snoeren über ihre Arbeit. "Wir versuchen, beides zu kombinieren. Wir nennen das Minimal Baroque."

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