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Sachbuch
Werden Christ*innen im Himmel Orgien feiern?
Der Himmel als Ort der sexuellen Erfüllung: Der neue Sammelband "Queere Theologie" zeigt neue und lustvolle Perspektiven für den christlichen Glauben und die Bibelarbeit auf.

Symbolbild: Schild "Gott ist queer" beim CSD Erfurt 2023 (Bild: IMAGO / Müller-Stauffenberg)
- Von Christian Höller
10. August 2024, 04:42h 6 Min.
Viele queere Menschen tun sich mit Religionen und Kirchen schwer. Im Christentum sind einige Kirchen und Gemeinschaften für ihre Frauen- und Queerfeindlichkeit bekannt. Umso mehr überrascht es, dass in Teilen des Christentums auch Queere Theologie gelehrt wird. Im englischsprachigen Raum liegen zur queeren Theologie bereits einige relevante Forschungsarbeiten vor. Im deutschsprachigen Raum verläuft die Entwicklung leider zögerlich. Nun hat der in Bielefeld ansässige transcript Verlag im Rahmen der "Queer Studies"-Reihe den Forschungsband "Queere Theologie" herausgegeben.
In der Theologie beschäftigen sich Menschen mit G*tt, der G*tterwelt und dem Glauben. G*tt wird in diesem Beitrag mit Genderstern geschrieben. Denn unter Theolog*innen wird über die Frage, ob und welches Geschlecht G*tt hat, viel diskutiert. Neben G*tt geht es in der christlichen Theologie um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Quellen des Glaubens wie der Bibel, der Glaubenspraxis und den unterschiedlichen Darstellungen des Glaubens. Gerade mit biblischen Texten tun sich queere Menschen allerdings schwer, weil diese in einer zutiefst patriarchalen und heteronormativen Welt entstanden sind. Doch die Bibel kann auch queer gelesen werden, wie der vorliegende Sammelband zeigt.
Queere Ansätze und christliche Theologie als Verbündete

Der Sammelband "Queere Theologie" ist im Juli 2024 im transcript Verlag erschienen
Ausgangspunkt für das Buch "Queere Theologie" ist eine Ringvorlesung, die an der Theologischen Fakultät der Universität Bern durchgeführt wurde. Ziel war es, Berührungsängste gegenüber der Queeren Theologie abzubauen, im eigenen Fach queere Motive zu erkennen und den Reichtum queeren Denkens wahrzunehmen. Es wurde auch darüber diskutiert, wie eine Theologie aussieht, die sich von cis und normativen Denkformen verabschiedet. In der Ringvorlesung wurde auch die Schuldgeschichte von Theologie und von den Kirchen gegenüber queeren Menschen thematisiert.
In der Einleitung schreiben Lara A. Kneubühler und Miriam Löhr von der Universität Bern, dass es sich bei der Queeren Theologie auf der einen Seite um "Theologie für, mit und von queeren Menschen" handelt. Auf der anderen Seite werden "Binaritäten und Machtstrukturen in Frage gestellt". Grundlage für die Queere Theologie sind die Queer Studies. "Das Anliegen ist dabei, nicht nur das Queere wertzuschätzen, sondern Nomalitäten und Normativitäten so kritisch zu reflektieren, dass ein Raum entsteht für Neues, welches immer mehr Diversität und Inklusivität beinhaltet", betont der in den Niederlanden lehrende Theologieprofessor Peter-Ben Smit. Ein solcher Ansatz werde Queering oder Queeren bezeichnet. Nach Ansicht von Smit können "queere Ansätze und christliche Theologie durchaus Verbündete" sein. "Womöglich könnte sich ja herausstellen, dass Queering in christlichen und jüdischen Theologien gar kein Randphänomen ist, sondern queere Gedanken konstitutiv dazugehören", meint Smit in seinem Beitrag mit dem Titel "Queere Orthodoxien – wie queere Perspektiven alte Theologie neu entdecken lassen".
Himmlische Promiskuität
Das Besondere an der Queeren Theologie ist es, dass es sich dabei um keine eigene theologische Forschungsdisziplin handelt, sondern ihre Ansätze fließen in unterschiedliche theologische Fachgebiete ein. Diese Vielfalt zeichnet auch den vorliegenden Sammelband aus, wobei sich die Themen Geschlecht, Sexualität und Körperlichkeit in so gut wie allen Beiträgen finden.
Dabei kann es auch lustvoll zugehen. So beschäftigt sich beispielsweise die Schweizer Theologin Luana Sara Hauenstein vom Institut für Systematische Theologie an der Universität Bern in ihrem Beitrag nicht nur mit der irdischen, sondern auch mit der himmlischen Sexualität. Sie greift dabei auf Forschungsarbeiten aus dem englischsprachigen Raum zurück. Die Theologin zitiert unter anderem Richard W. McCarty, Professor of Religious Studies in den USA, für den Promiskuität mehr als eine himmlische Idealvorstellung ist.
Der Ansatz von himmlischer Promiskuität ist neu. Er ist völlig anders als bisher im Christentum über Sexualität gedacht wurde. "Als sich das Christentum herauszubilden begann, entwickelte sich – geprägt von hellenistischen, gnostischen und jüdischen Praxen von Askese – eine Idealvorstellung von sexueller Abstinenz", schreibt Hauenstein. Daher sei in der christlichen Tradition lange Zeit nur ehelicher Sex geduldet worden, wenn dieser zur Fortpflanzung dient. Dies führte zur Annahme, dass es im Himmel beziehungsweise in der Eschatologie (Vorstellung vom Welt- oder Geschichtsende) keinen Sex mehr geben könnte.
Sexuelle Freiheit im Paradies
Doch McCarty schließt anhand von Bibelstellen, dass himmlisches Leben "nicht zwingend ein asexuelles oder sexuell asketisches Leben sein müsse", schreibt Hauenstein. Es könne durchaus sein, dass sich im himmlischen beziehungsweise "eschatischen Reich Gottes Promiskuität durchsetzen werde". Wobei McCarty die himmlische Promiskuität auch als etwas Heilsames sieht. Denn viele Menschen verbinden Sex und Sexualität im irdischen Leben mit Gewalt, Missbrauch und Scham. Im Himmel beziehungsweise im Eschaton geht es jedoch um das grenzenlos Schöne. Dies wird mit sinnlichen, großzügigen und verschwenderischen Bildern beschrieben.
Die Vorstellung von himmlischer Promiskuität teilen auch anderen Theolog*innen. McCarty verweist hier auf die US-Theologin Laurel Schneider, welche die verschwenderische Promiskuität auf Jesus zurückführt und Jesus als "promiscuous boy" bezeichnete. Das Bild von himmlischer beziehungsweise eschatischer Promiskuität gilt als Ausdruck der Befreiung. "Das eschatische Leben könnte demnach ein Leben in sexueller Freiheit sein; ein Leben, in dem diesseitig Liebende sich weiterhin wertschätzen, ohne dabei Tod, Distanz oder Trennung fürchten zu müssen; und ein Leben, in dem sie sich ungehindert ihren sexuellen Vorlieben widmen können", schreibt die Schweizer Theologin Hauenstein und nimmt hier wieder auf McCarty Bezug. Eschatische Promiskuität wäre demnach "befreit von aller Komplexität und Endlichkeit, welche gegenwärtig und diesseitig zu Verletzungen führen können.
Eine Orgie, zu der alle eingeladen sind
In der Gegenwart seien sexuelle Beziehungen komplex und Promiskuität werde nicht von allen Menschen angestrebt", so Hauenstein. Die Schweizer Theologin verweist diesem Zusammenhang auf den Text von Ronald Long mit dem Titel "Heavenly Sex". Long sieht den Himmel als Ort der sexuellen Erfüllung. Long hat "die Vorstellung einer Orgie, zu welcher alle eingeladen seien. Orgien stellen für Long den Inbegriff eines weiten und offenen Verständnisses von Sexualität dar", so die Schweizer Theologin. Alle diese Ansätze "tendieren zu einer promiskuitiven Vorstellung eschatischer Sexualität, zumindest wird in allen Ansätzen fernab von binären Normen und Heteronormativität gedacht. Dabei wird sexuelles Verlangen von Gottes erotischer Liebe her begründet, welche nach dem Schönen und Guten strebt, sich nicht begrenzen lässt und sich damit auch nicht von Beziehungsgrenzen abhalten lässt."
Hausenstein ist von solchen Vorstellungen aber nicht zur Gänze überzeugt. Sie führt in ihrem Artikel daher zum Schluss den Begriff und das Verständnis von Beziehungsanarchie ein, "welche der Grenzenlosigkeit der göttlichen Liebe möglicherweise gerechter wird als Promiskuität und Polyamorie". Der Begriff Beziehungsanarchie wurde von der schwedischen Journalistin Andie Nordgren geprägt.
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Queere Auslegungen des Hoheliedes
Auch die anderen Beiträge liefern spannende Einblicke in die Queere Theologie. So beschäftigt sich der Theologe Bruno Biermann mit verschiedenen queeren Lesarten und Auslegungen des Hoheliedes. Beim Hohelied handelt es sich um eine Sammlung von teilweise ausdrücklich erotischen Liebesliedern im Alten Testament. Angela Standhartinger, Professorin für Neues Testament an der Philipss-Universität Marburg, zeigt in ihrem Beitrag wie im Neuen Testament Texte von Paulus – er gilt als einer der ersten christlichen Theologen – queergelesen werden können. Die evangelische Theologin Ruth Heß thematisiert, wie die HIV-Aids-Krise in den 1980er und 1990er Jahren die Entwicklung queerer theologischer Ansätze beeinflusst hat. Hinzu kommen noch andere Beiträge.
Der Sammelband hat 298 Seiten und kostet gedruckt 50 Euro. Lobenswert ist, dass auf der Homepage des Verlages alle Beiträge als "Open Access" im Internet kostenlos als PDF abgerufen werden können.
Lara A. Kneubühler, Miriam Löhr (Hg.): Queere Theologie. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum. 298 Seiten. Reihe Queer Studies. transcript Verlag. Bielefeld 2024. Taschenbuch: 50 € (ISBN 978-3-8376-7338-8). E-Book: kostenlos
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