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Buchtipp

Das Drama des ersten gebärenden trans Manns

In seinem neuen Roman "Sonne in Scherben" erzählt Jayrôme C. Robinet vom folgenreichen Kinderwunsch eines queeren Paares im Jahr 2004 – inklusive Diskriminierung, Medienrummel, jeder Menge Hass und fehlender Solidarität aus der Community.


Symbolbild: Vor zwei Jahren warb die Modemarke Calvin Klein mit dem schwangeren trans Mann Roberto und seiner Partnerin Erika (Bild: Calvin Klein)

Was, wenn der Kinderwunsch sich nicht erfüllt? Klar, dann hilft die reproduktive Medizin und springt für die nicht funktionierende Natur ein – oder eben auch nicht. In-vitro-Fertilisation nennt sich das. Im Fall von Enzo und Angèle weigert sich die Medizin, ihnen zu einem Baby zu verhelfen. Dabei geben die beiden ein ideales Elternpaar ab: Sie sind verheiratet, lieben einander, haben beide den Kinderwunsch, verdienen gut, bewohnen ein eigenes Haus und haben dazu noch den passenden Hund. Die kuschelige Eheidylle im Eigenheim ist wirklich perfekt. Wo also ist das Problem?

In Jayrôme C. Robinets neuestem Roman "Sonne in Scherben", der gerade im Verlag Hanser Berlin erschienen ist, geht es um diesen Kinderwunsch. Angèle kann aber keine Kinder bekommen, dafür jedoch Enzo – ein gebärfähiger trans Mann. Weil die Medizin sich weigert, an ihm das zu praktizieren, was sie bei Angèle anstandslos tun würde, gehen sie ihren eigenen Weg. Im Roman liest sich die Szene im Fertility Center wie eine blöde Comedy, in die die beiden unbeabsichtigt geraten sind.

Der Arzt ist vom Kinderwunsch überfordert

Denn natürlich begreift der Arzt nicht, was transgender im Fall von Enzo bedeutet und meint: "Transsexuell! Das bedeutet, dass man eine Frau werden will! Nicht, dass man schwanger werden kann!" Enzo klärt ihn auf, dass er ein trans Mann ist und schwanger werden kann. Worauf der Arzt antwortet: "Bitte vergeuden Sie nicht meine Zeit!"

"Es tut mir leid. Ich darf nur Frauen behandeln, die einen männlichen Partner haben. Oder sind Sie auch transgender?" Womit er Angèle anspricht, die ihre Arme verschränkt und ihm antwortet "Leider nicht."

Aber die beiden finden ihren Weg. Angèles Bruder liefert schließlich die Samenspende und nach dem zweiten Anlauf ist der Schwangerschaftstest endlich positiv. Und damit könnte nun alles gut werden. Tut es aber nicht.

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Pionier*innen in Sachen trans Elternschaft


Der Roman "Sonne in Scherben" ist am 19. August 2024 bei Hanser Berlin erschienen

Robinet dreht in seinem Roman die Zeit um zwanzig Jahre zurück. Wir schreiben das Jahr 2004. Ort des Geschehens ist die nördlich von Paris gelegene Kleinstadt Senlis. Die verliebten Eheleute, die unbedingt eine Familie werden wollen, werden so unversehens zu Pionier*­innen in Sachen trans Elternschaft. Enzo wird zum ersten gebärenden trans Mann.

Weil genau diese Information durch welche undichte Stelle auch immer an die Presse gelangt, wird Enzo zum Sensationsfall. Ganz Frankreich erfährt, wer der erste schwangere Mann ist. Und damit beginnt ein nicht enden wollendes Drama, angefeuert von verantwortungslosen Medien, die den Fall schamlos ausbeuten und dazu hemmungslos Fake Facts am laufenden Band produzieren.

Hass und Hetze gegen das queere Paar

Aber nicht nur das, denn transphobe Menschen haben nun ein konkretes Hassobjekt gefunden. Der Hass kommt per Mail ins Haus oder auch mal als Pflasterstein durchs Fenster geflogen. Irgendwann liegt ihr Hund tot vor der Tür und schließlich verliert Enzo seinen Scherzartikel-Laden, denn das Franchise-Unternehmen sieht durch ihn sein Image in Gefahr.

Der Anwalt rät ihnen, selbst mit der Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, denn er könne kaum etwas gegen die Angriffe tun. So sehe Meinungsfreiheit eben aus. Was Enzo auch tut, nur hilft es ihm kaum. Als er in eine bekannte Talkshow eingeladen wird, endet die Geschichte katastrophal. Angèle versucht, alles Schlimme von Enzo fernzuhalten und schirmt ihn ab vor den boshaften Kommentaren, von denen zu viele nach Senlis strömen. Selbst queere Kreise kritisieren Enzo, der nüchtern feststellt: "Die bemerken nicht mal ihre eigenen Widersprüche."

"Wenn Gewalt nur von weißen hetero bio Männern ausgeht, dann müsste die queere Szene ein Paradies sein! Ein Safe Space für Glückbärchis!" Was leider nur eine Illusion ist, wie Enzo durch seine eigene Geschichte nun hautnah erfährt. Doch Enzo bringt schließlich sein Kind zur Welt und weil das ein Sieg im wahrsten Sinne des Wortes ist – erhält der neue Erdenmensch den Namen Vittoria – die Siegerin.

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Eine unerwartete Wendung


Jayrôme C. Robinet (Bild: Amrei-Marie / wikipedia)

Doch die Geschichte nimmt kurz danach eine unerwartete Wendung, deren Auflösung im Roman durch einen großen Zeitsprung achtzehn Jahre später erfolgt mit einer bewegenden Gerichtsverhandlung. Wir Leser*­innen werden in ein offenes Ende entlassen und dürfen und sollen selbst entscheiden – schuldig oder unschuldig. Mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten, denn man muss das lesen, um die Wucht zu spüren, mit der Ereignisse ins Leben greifen.

Und da wir es hier mit Literatur zu haben, stellt sich nicht nur die Frage des Plots und der Dramaturgie, sondern auch und vor allem, wie uns der Autor das alles erzählt und welche Haltung der Text vermittelt. Robinet ist – und das wissen wir spätestens seit "Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund" – ein bewundernswerter Erzähler mit Sinn für Witz und Ironie. So messerscharf seine Alltags-Beobachtungen auch immer sind, so fehlt ihnen doch nie eine geradezu auffällige Zärtlichkeit, mit der er sie sprachlich aufs Papier bringt. Dürfen wir das als Liebe zu den Menschen übersetzen? Ich denke ja. Trotz aller Widersprüche und Abgründe, Robinet behält Achtung für seine Figuren und wird ihnen auf diese Weise gerecht.

Enzo ist ein Meister der Nachsicht

An einer Stelle im Roman beklagt Enzo, dass seine Mutter immer so nachsichtig sei, allem nachgebe und nie an sich denke. Genau das aber hat Enzo von seiner Mutter geerbt, denn auch er ist bei aller Wut und Enttäuschung ein Meister der Nachsicht. Denn sie ist es zusammen mit den Illusionen, die uns oft aufrechthalten. Und irgendwann wird im Roman auch klar, woher die Nachsicht kommt – es ist das Zauberwort Liebe.

Liebe ist Zauberei. Allein der Trick ist wunderbar. Dass ein Zauberer sich so viel Mühe macht, eine Illusion zu erschaffen, nur für uns, nur damit wir in Verzückung geraten, das ist doch alle Wahrheit der Welt wert.

Und genau so ist Enzos und Angèles Beziehung beschaffen. "Um nichts in der Welt hätte sie sich gewünscht, Enzo nicht begegnet zu sein." An anderer Stelle ist von einem ganz bestimmten Gefühl die Rede: Enzo ist für Angèle eine Gegenwart, die überall da ist und mitgeht, und mit der man "sich damit überall wie zu Hause fühlt".

Es sei zum Schluss nicht unerwähnt: Es gibt ein Vorbild für Enzo. Es ist der auf Hawaii geborene Thomas Beatie – ein trans Mann, der als erster "schwangerer Mann" 2008 in die Geschichte einging und bislang drei Kinder geboren hat. In der "New York Times" kommentierte damals Ellen Goodman ziemlich überfordert vom Thema, aber ohne dabei den Witz verlernt zu haben: Nachdem Thomas und seine Frau Nancy "alle biologischen Rollen verdreht und alle unsere biologischen Vorstellungen davon, was es bedeutet, Vater und Mutter zu sein, verbogen haben, scheinen sie die alten sozialen Rollen durchgesetzt zu haben. Hoffen wir, dass er die Windeln wechselt."

Infos zum Buch

Jayrôme C. Robinet: Sonne in Scherben. Roman. 256 Seiten. Hanser Berlin. Berlin 2024. Hardcover-Ausgabe: 24 € (ISBN 978-3-446-27954-4). E-Book: 17,99 €

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