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"Diese Frage liegt nun so – homo oder hetero?"

100 historische Homo-Beiträge im "Simplicissimus"

Heute vor 80 Jahren – am 13. September 1944 – erschien die vorerst letzte Ausgabe des "Simplicissimus". Zeit für einen queeren Rückblick auf das auch online verfügbare Satire-Magazin.


Karikatur "Freunde": Schwules Paar in einer "Simplicissimus"-Ausgabe aus dem Jahr 1930

Der "Simplicissimus" war eine satirische Wochenzeitschrift (1896-1944), die ihre größte Bedeutung während des Kaiserreichs hatte und deren Beiträge in dieser Zeit auf die Politik, die bürgerliche Moral, die Kirchen, die Beamten, Juristen und das Militär zielten (Wikipedia). In der Weimarer Republik verlor sie an Bedeutung. Ab 1933 schaltete sich das Blatt, wie andere Medien, selbst gleich und brachte nur noch NS-Propaganda und belanglose Witze.

Rund 100 Beiträge aus den rund 50 Jahren des Bestehens der Zeitschrift zielten auch auf Homosexuelle, womit ich vor allem Karikaturen, aber auch Textbeiträge wie Gedichte meine. Seit mehreren Jahren sind alle Ausgaben des "Simplicissimus" auch online verfügbar. Alle 100 recherchierten Beiträge aus dem "Simplicissimus" habe ich auf meiner Homepage chronologisch aufgelistet und verlinkt. Hier auf queer.de stelle ich eine Zusammenfassung vor. Die Verlinkung der Beiträge (Jahr/Heftnummer/Seitenzahl) war nur bis zur Ebene des Heftes möglich; die jeweilige Seite muss separat angeklickt werden. Die inhaltliche Erfassung und die Bereitstellung des Online-Angebotes sind verdienstvoll, die Verschlagwortung mit der Begriffskombination "Lesben, Transvestiten, Perversionen", wie bei dem Beitrag 1928/47/640, ist unsensibel. Um das Thema zu erschließen, bieten sich zwei Kapitel an. Im ersten Kapitel geht es um die Beiträge, die zur Eulenburg-Affäre erschienen sind, sie machen rund die Hälfte aller Beiträge aus. Im zweiten Kapitel geht es um diverse weitere Themen. Ursprünglich wollte ich in einem weiteren Kapitel auch alle wichtigen Beitragenden vorstellen. Weil dies jedoch den Rahmen dieses Artikels gesprengt hätte, finden sich diese Hinweise nur auf meiner Homepage.


Die Beiträge zur Eulenburg-Affäre

Der Journalist Maximilian Harden veröffentlichte ab 1906 in seiner Zeitschrift "Die Zukunft" Andeutungen über Homosexualität unter den engsten Vertrauten des deutschen Kaisers Wilhelm II. und löste damit einen weitreichenden Skandal aus. Dieser Skandal wirkte wie ein Dammbruch. Bis 1907 gab es im "Simplicissimus" keine Beiträge über Homosexualität, was sich durch die sogenannte Eulenburg-Affäre, die sich von 1907 bis 1909 hinzog, nachhaltig veränderte. In seinem Buch "Die Freunde des Kaisers" (2004) hat James Steakley die Karikaturen zu dieser Affäre mustergültig untersucht, darin geht er auch auf neun Karikaturen aus dem "Simplicissimus" ein.

Kuno von Moltke – homo oder hetero?

Kuno von Moltke war einer der Vertrauten des Kaisers Wilhelm II. und Stadtkommandant von Berlin. Aufgrund von Andeutungen über seine Homosexualität zeigte er Harden wegen "Beleidigung" an. Der Prozess fand im Oktober 1907 vor dem Schöffengericht in Berlin-Moabit statt und entwickelte sich zu einem Medienspektakel. Nach dem ersten von insgesamt drei Verfahren befand das Gericht am 29. Oktober 1907, dass Moltke homosexuell und Harden, was die "Beleidigung" betraf, unschuldig sei.

Die Karikatur "In der Ahnengruft" (1907/33/527) stammt von dem prominenten Künstler Ernst Barlach. Sie erschien am 11. November 1907 und bezieht sich offenbar auf den ersten Prozess Moltke gegen Harden im Oktober 1907. Es geht um die "Liebenberger Tafelrunde", also das homosexuelle Umfeld des Kaisers. Der rechte Geist, dem übel wird, ist offenbar der preußische Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke (1800-1891), der als preußisch-deutscher Nationalheld verehrt wird. Eulenburgs Freund Kuno von Moltke war mit Helmuth von Moltke nur entfernt verwandt, aber in dem Prozess gegen Harden bezogen er und sein Anwalt sich pathetisch auf den verstorbenen General, indem sie betonten, Kuno von Moltke sei als Ehrenmann und Soldat seines berühmten Verwandten würdig. Mit der Bezeichnung "Ahnengruft" ist die Gruft der Moltkes gemeint. Der linke Geist mit dem Dutt ist offensichtlich Helmuth von Moltkes Ehefrau, die mit in der Gruft liegt und ihn nach seinem Befinden fragt. Es ist schade, dass das Hamburger Ernst Barlach Haus auf seiner Internetseite zu diesem Werk nur technische Angaben, aber leider keine Einbettung in den zeitgeschichtlichen Kontext bietet.


"In der Ahnengruft" von Ernst Barlach

Ludwig Thoma, Redakteur des "Simplicissimus" und einer seiner prominentesten Autoren, veröffentlichte in der Zeitschrift unter dem Pseudonym "Peter Schlemihl" ein Gedicht zu Moltke, worin es u. a. heißt: "Diese Frage liegt nun so: / Homo- oder hetero? / Ist er liebenswert und nett? / Taugt er was im Ehebett? / Oder leistet er es nicht? / Alles kommt nun vor Gericht, / Wo gesprochen werden muß / von den genitalibus" (1907/32/498). Auch die "Skizzen aus dem Gerichtssaal" von Ernst Heilemann (1907/33/516) seien hier erwähnt, auch wenn sie keinen satirischen, sondern eher einen historisch-dokumentarischen Wert haben.

Wie der Druck auf den Journalisten Maximilian Harden kurz vor dem zweiten Prozess zunahm, zeigt die Karikatur "Die Jagd auf Harden", in der Harden wie ein Tier gejagt wird und um sein Leben fürchten muss. Gejagt wird er nicht nur durch die allgemeine Bevölkerung, sondern auch von einem Richter, vom Militär und sogar von Philipp zu Eulenburg mit einem Krückstock. Die Karikatur erschien in einer "Spezial-Nummer", die den Jagdruf "Horridoh!" als Titel trägt (1907/36/573).

Der kranke Philipp zu Eulenburg und seine Liebesbriefe

Die Vorwürfe der Homosexualität bezogen sich auch und vor allem auf Philipp zu Eulenburg, einen anderen engen Vertrauten des Kaisers. Unter Eid hatte er homosexuelle Handlungen abgestritten. Als daran Zweifel aufkamen, wurde Mitte 1908 wegen Meineids gegen ihn verhandelt. Eulenburg wurde auf einer Trage in den Gerichtssaal gebracht. Später brach er mehrfach im Gericht zusammen und wurde wiederholt auf seine Verhandlungsfähigkeit untersucht. Danach wurde der Prozess auf unbestimmte Zeit verschoben. Weit verbreitet war der Verdacht, der wahre Grund für die Verschiebung sei, dass die Staatsanwaltschaft befürchten müsse, Eulenburg könne bedenkliche Briefe ins Spiel bringen. Bei dem Prozess gegen Philipp zu Eulenburg ist zu berücksichtigen, dass seine Bereitschaft zum Ausgleich mit dem "Erz- und Erbfeind" Frankreich zu einer Gegnerschaft im Militär und im Auswärtigen Amt beitrugen. Dieser politische Hintergrund muss berücksichtigt werden, weil Eulenburg nicht nur wegen seiner angeblichen Homosexualität in die Schusslinie geriet (s. a. Steakley, S. 24, 27, 97, 99-100).

In der Karikatur "Cäsaren-Unglück" geht es um diese angeblichen Liebesbriefe des Kaisers, worauf in einer theaterhaften Inszenierung angespielt wird (1908/12/203). In der Karikatur "à la Eulenburg" wird ihm unterstellt, seinen Krankheitszustand mittels Drogen zu simulieren (1907/32/498).


Die Inszenierung angeblicher Liebesbriefe und der kranke Eulenburg

Schwer belastet wurde Eulenburg von dem Milchhändler Georg Riedel und dem Starnberger Fischer Jacob Ernst, die erklärten, sie hätten in ihrer Jugend in den 1880er Jahren sexuelle Beziehungen zu Eulenburg gehabt. Der Zeichner Thomas Theodor Heine griff die Aussagen der beiden Männer in zwei recht ähnlichen Karikaturen auf, die beide auf dem Cover der Zeitschrift veröffentlicht wurden. In der Karikatur "Frühling am Starnberger See" ist der effeminierte Jacob Ernst beim Blumenpflücken zu sehen. Ein Gedicht im bairischen Dialekt fängt mit den Zeilen an: "Und a Markl ist koa Pfenning, / Und a Deandl is koa Bua. / Was die Bauern net kennen, / Das lernen s' dazua" (1908/6/97). In der zweiten Karikatur "Auf den Spuren Eulenburgs" äußert ein in die Jahre gekommener Mann: "An dieser Stelle hat mir der Fürst zum ersten Mal seine Liebe gestanden" (1908/10/165).


Ein Fischer und ein Milchhändler werden zu wichtigen Zeugen im Prozess

Das Leiden der Justitia

Aufgrund von Eulenburgs (wirklichem oder vorgetäuschtem) schlechtem Gesundheitszustand kam es auch später nie zu einer Verurteilung. In den Karikaturen wurde manchmal die personifizierte Justitia dargestellt, als Allegorie der Gerechtigkeit und des Rechtswesens.

Der vergebliche Versuch, Eulenburg vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen, wurde mit der vierteiligen Karikatur "Der Versuch auf der eingeseiften Kletterstange" aufs Korn genommen. Sie zeigt einen Richter, der mit Hilfe weiterer Männer (mit denen wohl die Zeugen gemeint sind) versucht, Eulenburgs oben an einer eingeseiften Kletterstange habhaft zu werden . Auf dem vierten Bild entschuldigt er sich gegenüber Justitia, dass er es wenigstens versucht habe (1908/18/316). Heute würde man vielleicht das Bild einer Teflon-Pfanne als Symbol dafür verwenden, dass an einer Person juristisch nichts hängen bleibt. Eine weitere Karikatur trägt den Titel "Vor Schloß Liebenberg" – also dem Anwesen von Philipp zu Eulenburg. Zu sehen ist die gebeugte Justitia, die an Krücken geht. Sie droht "wieder ohnmächtig" zu werden – ähnlich wie Eulenburg in dem gegen ihn angestrengten Prozess (1908/7/132).


Justitia schaut machtlos zu und leidet

Kaiser Wilhelm II., die Krone und ein schwuler Krake

Im Prozess gegen Philipp zu Eulenburg sagte seine Ehefrau: "Auf meinen Mann schlägt man und den Kaiser meinte man." Damit hatte sie Recht, denn Harden wollte mit den Anschuldigungen vor allem den Kaiser schwächen. Direkte Hinweise auf Wilhelm II. wurden in den Karikaturen der deutschen Zeitungen und Zeitschriften "meist unterschlagen" – ganz im Gegensatz zu den Zeitungen des Auslandes (Steakley, S. 33). Befürchtungen einer drohenden Strafanzeige wegen Majestätsbeleidigung mögen dabei eine Rolle gespielt haben.

In drei Karikaturen – die alle auf dem Cover des "Simplicissimus" abgedruckt wurden – wird Kaiser Wilhelm II. symbolisch durch eine Krone repräsentiert. Die Krone ist fest im Griff der Kamarilla, also des homosexuellen Umfelds des Kaisers. Der Zeichner Olaf Gulbransson stellt in seiner Karikatur die Gruppe der engsten Vertrauten als Kraken dar, der mit seinen vielen Tentakeln den Kaiser Wilhelm II. umklammert (1908/17/285). In recht ähnlicher Form stellt Thomas Theodor Heine diese Kamarilla als Gruppe von Giftpilzen dar, die aus der Krone heraus erwachsen und nun mit Feuer ausgerottet werden sollen (1907/12/181). Später wird Heine sogar noch schärfer und zeichnet eine vielköpfige Hydra, die die Krone in ihren Klauen hält und der die Köpfe abgesägt werden (1909/40/681). Mit dem Vernichten durch Feuer und dem Absägen von Köpfen, aus denen das Blut spritzt, findet Heine sehr gewalttätige Bilder dafür, wie mit schwulen Männern umzugehen sei.


Das schwule Umfeld des Kaisers – dargestellt als Krake und vielköpfige Hydra

Militär, Macht und "Männlichkeit"

Zu den häufig wiederkehrenden Themen der Karikaturen gehört die befürchtete Zersetzung der militärischen Disziplin. In den Karikaturen spiegelt sich die Sorge der damaligen Presse wider, dass ausgerechnet die Armee für Homosexualität anfällig sei. Homosexualität in der Armee verletzte ein zentrales Tabu. Der Hinweis, dass sich Soldaten offenkundig in bestimmten Stadtgebieten Berlins prostituierten, erschütterte das Vertrauen in die Armee nachhaltig. Karikaturen über sich prostituierende Soldaten hatte es schon vorher gegeben, aber erst ab 1907 wurde die angeblich zunehmende "Verweichlichung" der Armee zur Zielscheibe bürgerlicher Entrüstung (s. a. Steakley, S. 22, 134-144).

Einige Karikaturen muten harmlos an. In der Zeichnung mit der Überschrift "Wer treu gedient hat seine Zeit" verspricht ein Soldat seiner Freundin, dass er nur noch ein Jahr mit seinem Rittmeister gehen müsse. Danach sei er frei und werde sie ganz allein lieben (1907/33/517). Nur vordergründig wirkt dies wie eine harmlose Schilderung mehrerer gleichzeitiger sexueller Kontakte, sondern hier werden sexuelle Abhängigkeiten in der Armee kritisiert. Von dem Zeichner Eduard Thöny stammt die Karikatur "Anstatt der Mißhandlungen", deren Text lautet: "Wie man mit Befriedigung sieht, behandeln die militärischen Vorgesetzten jetzt ihre Untergebenen direkt mit Liebe" (1907/33/532), wobei die homosexuelle "Liebe" hier als Vorwurf des sexuellen Missbrauchs gemeint ist. "Rittmeister" und "Befriedigung" dienen in beiden Fällen der zusätzlichen Sexualisierung. Von Eduard Thöny stammen aus dem gleichen Heft noch zwei etwas weniger bissige Karikaturen mit einem homosexuellen Major (1907/33/518) und einem Soldaten (1907/33/531). Der "Simplicissimus" nutzt hier das Thema Homosexualität zur Verstärkung seiner Kritik am preußisch-wilhelminischen Militarismus – eines seiner Dauerthemen.


Mit der Thematisierung von Homosexualität in der Armee wurde ein Tabu gebrochen

Von "hinterrücks" bis "Hämorrhoiden" – der unausgesprochene Analverkehr

Analverkehr unter Schwulen wurde unterschiedlich deutlich in den Karikaturen aufgegriffen, was ein Ausdruck davon ist, dass Schwule auf Sex und ihr Sex auf Analverkehr reduziert wurden. Ein Beispiel dafür ist das Thema der "Truppeninspektion 'von hinten'", das zu einem wiederkehrenden Motiv der in- und ausländischen Presse wurde (s. a. Steakley, S. 18-21, 148). An dieser Stelle möchte ich auf zwei Karikaturen in der sozialdemokratischen Satire-Zeitschrift "Der wahre Jacob" verweisen: eine mit einer "Truppeninspektion von hinten" (1907/557/5621) und einige Seiten später eine weitere, in der ein Mann bei der Rekrutierung wegen Hämorrhoiden ausgemustert wird (1907/557/5632). In meinem Artikel über die Röhm-Karikaturen hier auf queer.de habe ich aufgezeigt, dass dieses Motiv in ähnlicher Form auch verwendet wurde, als 1931 der SA-Chef Ernst Röhm wegen seiner Homosexualität denunziert wurde.

Im Vergleich mit "Der wahre Jacob" ist der "Simplicissimus" in dieser Hinsicht vergleichsweise dezent. Ich habe nur eine Karikatur gefunden, die indirekt mit Analverkehr in Verbindung gebracht werden kann: In einer Zeichnung sieht man unter der Überschrift "Armeeverordnung" (1907/34/552) einen Amor-Knaben, dessen Flügel am Po sitzen. Der Militärarzt wird aufgefordert, "dem Bengel die Flügel wieder höher" zu rücken.

Deutlicher sind hier manche Textbeiträge, zum Beispiel das Gedicht "Harden" von Hans Erich Blaich (Pseudonym: "Ratatöskr") mit den Zeilen: "Mißlingt's von vorn, gelingt's eventuell / A posteriori" (1907/33/531). Karl Kraus, der sich vor der Eulenburg-Affäre gegen die Kriminalisierung schwuler Männer ausgesprochen hatte, aber auch mit Harden verfeindet war, schrieb ironisch in "Der eiserne Besen" (1908/14/238), dass man früher hochgestellten Persönlichkeiten aus Respekt nicht den Rücken zugedreht habe, heute unterlasse man dies "aus Vorsicht". "Hinter dem Rücken" habe nun einen "sinnlichen Beigeschmack". Zwei Gedichte von Edgar Steiger beinhalten Andeutungen wie "Hintertreppe" (1907/12/195) und "Hämorrhoiden" (1907/33/531) und ein Gedicht von Ludwig Thoma enthält die Zeilen: "Und sprecht nicht immer vom Popo! / Versucht es nur, es geht auch so" (1907/34/534).

Fäkalien und Schmutz als Symbol für homosexuelle Handlungen

Eulenburg schwor im Prozess, niemals etwas "Schweinisches" oder "Schmutziges" getan zu haben. Dazu passt, dass Dutzende von Karikaturen Tiere (vor allem Hunde und Schweine) und Exkremente als symbolische Anspielung auf homosexuelle Handlungen verwendeten. Dabei geht es nicht nur um eine Verbindung zum "schmutzigen" Analverkehr, sondern auch darum, dass früher mit dem Begriff der "Sodomie" homosexuelle Handlungen unter Männern und Sex mit Tieren zusammengefasst wurden (s. a. Steakley, S. 6-7, 49, 54, 76, 163-168).

Eine Karikatur von Olaf Gulbransson zeigt Maximilian Harden, wie er auf einer Theaterbühne vor einem großen Publikum zwei Nachttöpfe in Richtung einer Gestalt im Hermelinmantel (d. h. des Kaisers) ausschüttet. Die Fäkalien sind hier Inbegriff des Ekelhaften und Widerwärtigen, mit dem Harden die Öffentlichkeit bei seinem Auftritt vor Gericht konfrontiere. Die Überschrift "Marquis Posa-Harden" ist eine Anspielung auf den Marquis von Posa aus Friedrich Schillers Drama "Don Carlos" (1907/34/533). Einige Seiten später wird im gleichen Heft in einer Karikatur von Karl Arnold in leicht dechiffrierbarer Symbolik "schmutzige Wäsche" gewaschen (1907/34/536). In der Karikatur "Lohn der Arbeit" wird der preußische Adler durch den zweiten Harden-Prozess weißgewaschen (1908/43/701).


Fäkalien und Schmutz als Symbol für homosexuelle Handlungen

In den Textbeiträgen ergibt sich ein ähnliches Bild: Ludwig Thoma schreibt als "Peter Schlemihl" in seinem Gedicht "Kamarilla", dass "es stinkt" (1907/13/198), und in "An die Herren Hofprediger" von einem "Saustall" (1907/33/518). Auf derselben Seite beklagt ein nicht genannter Autor in seinem Gedicht "Prozeß Moltke", dass vor Gericht leider auch "Schmutz" und "Nachttopfheimlichkeiten" öffentlich erörtert würden.

Die "175er" – nur Synonym statt Reflexion

Seit der Reichsgründung 1871 kriminalisierte der § 175 RStGB homosexuelle Handlungen unter Männern. Seine Abschaffung war eines der wichtigsten Ziele der frühen Homosexuellenbewegung. Wenn in Zeitungsartikeln dieser Paragraph genannt wurde, ging es häufig darum, ob er abgeschafft, beibehalten oder reformiert werden sollte. Manchmal wurden schwule Männer als "175er" bezeichnet.

Wenn im "Simplicissimus" der § 175 genannt wird, geht es nicht um Reflexion, sondern, wie bei der Bezeichnung "175er", nur um ein Synonym für Homosexualität. In einer Karikatur wird ein Mann bei einem Dienstmädchen erwischt und rechtfertigt sich damit, dass er sich "rehabilitieren" müsse. Hier wird nur durch die Überschrift "§ 175" der homosexuelle Zusammenhang deutlich (1907/31/480).


"§ 175" verweist nicht auf das Strafrecht, sondern "nur" auf Homosexualität

Das gleiche gilt für Textbeiträge: In Edgar Steigers Gedicht "Der Blitzableiter" geht es um eine neue Zeit: "Was sich früher haßte, liebt sich", es sei die "Zeit des § 175" (1908/19/331). Martin Beradt karikiert in seinem Text "Der Mann ohne Ehre" einen Mann, der alles mal kennen lernen möchte, wie u. a. den § 175 (1908/37/624-626). Beiträge, die den § 175 und damit die Strafbarkeit homosexueller Handlungen in Frage stellen, wurden nicht gefunden.

Die Straflosigkeit in Italien

In Italien wurden Homosexuelle zu dieser Zeit nicht strafrechtlich verfolgt. Das führte dazu, dass manche wohlhabende Schwule nach Italien flüchteten, wenn ihnen in Deutschland ein Prozess drohte. In den Karikaturen wird deutlich, dass dies auch in der Öffentlichkeit bekannt war.

Durch den Text der Karikatur "Flucht vor dem Prozeß" erfährt die Leser*innenschaft, dass die "Freunde vom Grafen Kuno Moltke" nach "Süden" flüchten (1907/30/463). Thematisch in eine ähnliche Richtung geht die Karikatur "Der Zug nach dem Süden", in deren Text Italien als das "Land unserer Sehnsucht, wo es keinen Paragraph 175 gibt", bezeichnet wird. Der Humor besteht darin, dass hier zwei (offensichtlich homosexuelle) germanische Krieger zu sehen sind, die mit einem Paragrafen aus dem 19.-20. Jahrhundert in Verbindung gebracht werden (1908/17/300; der Name "Hadubrand" verweist auf eine Figur in germanischen Heldenliedern). In dieser Karikatur wird die damals in Deutschland gängige Germanenverehrung ironisch aufgegriffen und durch die Verbindung mit Homosexualität werden ideologische Heiligtümer des wilhelminischen nationalistischen Bürgertums respektlos verspottet.


Der "Süden" ist nicht nur eine Himmelsrichtung, sondern verweist auf Italien, das keine strafrechtliche Verfolgung schwuler Männer kannte

Zum Thema "Süden" passt auch der Text "Antinous", in dem ein homosexueller Graf die "milden Gesetze" in Italien sympathisch findet (1907/34/547).

Die Wirkung auf das Ausland


Auswirkungen der Eulenburg-Affäre auf das internationale Deutschland-Bild wurden befürchtet

Die Eulenburg-Affäre beschäftigte das In- und Ausland und hatte nicht nur Einfluss auf das Selbstbild von Deutschen, sondern es wurden auch Auswirkungen auf das Ansehen Deutschlands im Ausland befürchtet. Tatsächlich wurde die Affäre auch international breit wahrgenommen. Den "Auswirkungen auf das Deutschlandbild" in anderen europäischen Ländern widmet Steakley ein eigenes Kapitel (S. 105-144).

Sein erstes Beispiel ist eine Karikatur von Thomas Theodor Heine aus dem "Simplicissimus": "Auf ihr sehen wir, wie sich zwei englische Touristen in Venedig über das Aussehen einer Gruppe deutscher Frauen wundern" (Steakley). Der Text zu der Zeichnung lautet: "Jetzt verstehe ich, warum sich die Homosexualität in Deutschland so verbreitet!" (1908/8/133) In frauenfeindlicher Weise wird also der Schluss gezogen, dass die Unattraktivität der Frauen die deutschen Männer quasi zwangsläufig in die Homosexualität treibe. Diese Karikatur spielt auf deutsche Befürchtungen an, das Bild der Deutschen könne durch die Affäre beschädigt werden.


Weitere Beiträge zum Thema Homosexualität

Wie thematisierte der "Simplicissimus" Schwule, Lesben und nonbinäre Personen? Auch außerhalb der Eulenburg-Affäre hätte es ja durchaus viele Anlässe zu satirischen Beiträgen gegeben. Zu den anderen Großereignissen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, bei denen Homosexualität im Mittelpunkt des Interesses stand, wie dem Skandal des "Kanonenkönigs" Friedrich Alfred Krupp (1902) und dem Fall des schwulen Serienmörders Fritz Haarmann (1924), erschienen offenbar keine Beiträge im "Simplicissimus". Vielleicht wurden diese Ereignisse nicht als geeignet angesehen, um in einer Satire-Zeitschrift verarbeitet zu werden.

Bei den Beiträgen außerhalb der Eulenburg-Affäre geht es fast nur um Beiträge aus der Weimarer Republik. Homosexualität wurde nun nicht mehr wie zu Eulenburg-Zeiten als staatsgefährdend imaginiert, sondern scheint selbstverständlicher geworden zu sein, zumindest als Erscheinung der Großstadt, auch wenn klischeehafte Zuschreibungen weiterhin damit verknüpft wurden und auch wenn manchmal die zur Schau gestellte Toleranz fragil und eher oberflächlich ist. Die rund 50 weiteren Beiträge zu homo­sexuellen Themen, verraten jedoch viel über die Zeit, denn damit ein Beitrag zu einer Person wie Magnus Hirschfeld oder zur Homo­sexuellenbar "Eldorado" funktionieren kann, muss beides als bekannt vorausgesetzt werden können.

Klischees über Schwule

Die klischeehafte Vorstellung, dass alle schwulen Männer effeminiert seien, sich wie Frauen kleideten und weibliche Vornamen gäben, scheint fast zeitlos zu sein. Jules Pascin hat in seiner Karikatur "Die Geheimnisse der Adlervilla" dargestellt, wie er sich einen schwulen "Hausball bei Graf Lynar" mit einem Mann in Frauenkleidern vorstellte (1907/33/519). Auch Graf Lynar wurde im Kontext der Eulenburg-Affäre als Homo­sexueller im Umfeld des Kaisers angesehen .

Jahre später, während der Weimarer Republik, wurden ähnliche Bilder geliefert, wie die Karikatur "Freunde", in der Fritz vor einem Schminkspiegel sitzt und sein Freund ihm gegenüber verständnisvoll betont: "Hör' mal, Fritz, von heute an nenne ich dich 'Friederike', das entlastet seelisch 'n bißchen" (1930/37/437). Dagegen kommt die Karikatur "Tragik" ganz ohne Klischees aus: Sie zeigt zwei Freunde, die sich in einem Tanzlokal darüber wundern, dass "echte Männerfreundschaft" von vielen gewünscht, aber von der Polizei strafrechtlich verfolgt werde (1932/7/80).


Schwules Paar bzw. wie sich Heterosexuelle ein schwules Paar vorstellten

Peter Schers Gedicht "Entartet" fängt mit den Zeilen an: "Oscar stoppte die Normal-Epoche / unvermutet schnell; / Oscar ist seit einer Woche / homo­sexuell", wobei der Verfasser keinen Hehl daraus macht, dass es sich nicht lohne, "aus allen Gläsern zu trinken" (1927/47/622). An einigen Textbeiträgen aus der zeit der Weimarer Republik ist erkennbar, dass von den Berliner Homo­sexuellenlokalen, insbesondere dem "Eldorado", eine große Faszination ausging. Dazu gehört der Text "Kontrahage" über das "Eldorado" (1928/46/629). Die Einschätzung der Autoren fällt unterschiedlich aus: Hans Bauers Anekdote über einen Besuch in einem Berliner Homo­sexuellenlokal ist interessiert und zumindest nicht abwertend (1927/30/394). Kaki (d. i. Reinhard Koester) lässt seine Figur, den Meckerfritzen "Klawuttke", darauf hinweisen, dass es Berlin viele Lokale gebe, wo der Staatsanwalt genug Gründe zum Einschreiten hätte, das schade zwar dem Ansehen im Ausland, aber letztlich solle jeder nach seiner Fasson selig werden (1931/1/10). Der wohl wichtigste Textbeitrag stammt von Erich Kästner, der heute vor allem als Autor von Kinderbüchern wie "Emil und die Detektive" (1931) und "Das fliegende Klassenzimmer" (1933) bekannt ist. Im "Simplicissimus" wurde sein Gedicht "Ragout fin de siècle" (1930/19/226) nachgedruckt. Es handelt von "sexualpathologischen" Tanzlokalen, wobei Kästner zum Ausdruck behauptet, dass es ihm angeblich egal sei, wer mit wem Sex habe, aber er stört sich an der von ihm als zu laut empfundenen Emanzipationsbewegung ("schreit nicht dauernd wie am Spieß"). In diesem Kästner-Gedicht kommt etwas zum Ausdruck, dass man als homophobe Scheintoleranz bezeichnen kann. Das Gedicht erschien erstmals in Kästners Gedichtband "Ein Mann gibt Auskunft" (1930), es wurde seit dieser Zeit mehrfach nachgedruckt und viel rezitiert. Als Tondokument ist es auch enthalten auf Ralf Jörg Rabers CD-Kompilation "Ich will, dass es das alles gibt! Homosexualität auf Schallplatte, Teil 2" (2004; Aufnahme von 1952, als Interpretin wird die Kabarettistin Ursula Herking vermutet).

Schwule und Politik

Berlin war die einzige Stadt, in der die Zeitschrift eine homo­sexuelle Szene und politisch agierende homo­sexuelle Interessenverbände wahrnahm.

Vier Tage vor der Reichstagswahl am 6. Juni 1920 erschien die Karikatur "Berliner Wahlkämpfe" von Eduard Thöny, der bei Kleidung, Gestik und mit dem Schoßhündchen recht tief in die Schwulenklischee-Kiste greift (1920/10/148). Schwule werden hier wie weibliche Prostituierte und deren Zuhälter ("Freudenwahlkreis Tauentzienstraße") mit der als "dekadent" wahrgenommenen Gegend um den Kurfürstendamm assoziiert. Die Reichstagswahl vom 14. September 1930 veranlasste denselben Künstler zur Karikatur "Immer noch nicht genug Parteien", in der sich ein schwuler Mann angesichts eines Wahlplakates mit einem Hinweis auf den § 175 vornimmt: "Das nächste Mal stellen wir einen eigenen Kandidaten auf" (1930/25/297). Ein schwuler Kandidat war keine wirkliche Option, sondern der Humor bezieht sich darauf, dass eine solche Kandidatur damals real undenkbar war. Was heute eine Selbstverständlichkeit ist, lag damals in weiter Ferne.


Schwule Männer und die beiden Reichstagswahlen von 1920 und 1930

Kurz vorher erschien der (nicht satirische, aber im Stil ironische) Textbeitrag "Berliner Brief": "Die Nachricht von der bevorstehenden Aufhebung des § 175 hat hier keine großen Wellen geschlagen (…). Man empfindet lediglich eine gewisse Genugtuung (hinsichtlich der) Gleichberechtigung von Mann und Frau" (1929/33/401). Heute wissen wir, dass der § 175 nicht 1929/1930, sondern erst 1994 abgeschafft wurde. 1994 hat die Nachricht tatsächlich keine großen Wellen mehr geschlagen, weil die Abschaffung als überfällig angesehen wurde.

Schwule und Prostituierte

Homo­sexuelle wurden zumeist moralisch verurteilt und gesellschaftlich geächtet. So erging es auch weiblichen Prostituierten, die als gesellschaftliche Randgruppe ähnlich stigmatisiert wurden. Bei beiden Personengruppen hingen die Vorurteile mit der Einstellung zur Sexualität zusammen und deshalb gab es in der Geschichte auch schon einzelne Versuche eines gemeinsamen Emanzipationskampfes.

In den Karikaturen ging es jedoch nicht um eine Zusammenarbeit oder zumindest gute Koexistenz, sondern um eine herbeifabulierte Konkurrenz. Wie in anderen Karikaturen ist auch hier die Angst Heterosexueller spürbar, dass ihnen Homo­sexuelle etwas wegnehmen könnten. Von Ernst Heilemann stammt die Karikatur "Protest", in der die Berliner Friedrichstraße, bekannt für Prostitution, nicht den sich prostituierenden Soldaten überlassen werden soll, denn: "Die Friedrichstraße is unser Strich" (1907/34/547). Von Eduard Thöny stammt die Karikatur "Sittlichkeit". Sie bezieht sich auf knapp und "unzüchtig" bekleidete Frauen, die sich wundern, warum der Staatsanwalt gegen sie vorgehe, denn eine der beiden Damen betont: "Wir stehen doch auch im Kampf gegen die Homo­sexuellen." Es wird unterstellt, dass aus der Sicht weiblicher Prostituierter männliche Prostitution angeblich als geschäftsschädigend angesehen werde. Die Karikatur richtet sich vor allem gegen Doppelmoral und nicht gegen Homo­sexuelle. Ob auch Homo­sexuelle darüber lachen konnten, bleibt unklar (1924/35/484). In der Karikatur "Verwirrung der Gefühle" sind zwei Prostituierte unsicher, ob ein Matrose nun Kundschaft oder Konkurrenz ist (1927/24/323). Die "Verwirrung der Gefühle" kann sich auf die verwirrten Prostituierten oder auf den sich vielleicht prostituierenden Matrosen beziehen. Die Formulierung ist offensichtlich auch eine Referenz auf Stefan Zweigs gleichnamige (zum Teil homo­erotische) Novelle, die im selben Jahr erschienen war.


Stricher und weibliche Prostituierte – angebliche Konkurrenz statt Koexistenz

Magnus Hirschfeld und "Hirschfeldiana"

Magnus Hirschfeld hatte 1897 das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) und damit die erste Interessenvertretung für Homo­sexuelle weltweit gegründet. Er war als Kämpfer gegen den § 175 und aufgrund diverser Gutachtertätigkeiten als Fachmann für Homosexualität bekannt. Wegen Hirschfelds Gutachtertätigkeit in der Eulenburg-Affäre geht Steakley (S. 60-64, 145-150) auch auf verschiedene Karikaturen zur Person Magnus Hirschfelds in der zeitgenössischen Presse ein und verweist auf den grundsätzlichen Respekt, der ihm gezollt wurde.

Die erste Karikatur zu Hirschfeld im "Simplicissimus" steht unter dem Einfluss der Eulenburg-Affäre: Eine von vier fiktiven Ansichtskarten beinhaltet Grüße vom Magnus Hirschfeld aus dem WhK. Das Motiv eines Mannes mit Vollbart und in Frauenkleidern (1908/1/5, unten links) ist jedoch nur geeignet, sich über die Menschen gezielt lustig zu machen, die Hirschfeld so vehement gegen Angriffe verteidigte. Die recht bekannte Karikatur mit dem Titel "Hirschfeldiana" greift seinen Namen als Synonym für "Homo­sexuelles" auf und malt sich Schwule aus, die die prekäre Wirtschaftslage nutzen, um gegen den § 175 zu argumentieren, wobei es als unterhaltsam angesehen wird, dass ein stereotyp dargestellter Unternehmer seinen Sekretär als "Fräulein" anspricht (1921/1/11).


Magnus Hirschfeld ist in den Karikaturen nicht immer zu sehen, prägte aber die Vorstellung von Homosexualität

In einer anderen Karikatur wird der junge und fast nackte Max von mehreren Männern auf einer Party angeschmachtet, aber von einer Frau beschützt. Es wird gemunkelt, dass "vom andern Lager" auch Magnus Hirschfeld als Gast auf dieser Party sei (1929/44/568). Hinweise darauf, dass Hirschfeld selbst homo­sexuell war, sind in der Presse selten und basierten, wie in diesem Fall, vermutlich nicht auf wirklicher Faktenkenntnis. George Grosz zeichnet in seiner Karikatur "Aus dem Vollen" ein für diese Zeit typisches Straßenbild von Berlin. Ein Passant wundert sich darüber, dass ein Zeitungsverkäufer Schriften von Magnus Hirschfeld anpreist, während ein Straßenmusiker den Schlager "Ich küsse ihre Hand, Madame" spielt (1929/2/19). Obwohl in Berlin zu dieser Zeit schon vieles möglich war, wurde das selbstverständliche Nebeneinander von Homo- und Heterosexualität offenbar von manchen als erstaunlich empfunden.

Zwei Textbeiträge ergänzen die Vorstellungen über Magnus Hirschfeld. In einem Beitrag ist eine Frau amüsiert, weil sie in einem medizinischen Vortrag von Magnus Hirschfeld etwas über die Zeugung gehört hat (1929/40/525). Ein Gedicht mit dem Titel "Im 'Eldorado' zu singen" wird einer "sexuellen Zwischenstufe" in den Mund gelegt, deren Genitalien "Herr Hirschfeld" habe modellieren und im Museum ausstellen lassen, d. h. in seinem Institut für Sexualwissenschaft. Von Männern und Frauen wird sie als "erotische Sensation" begehrt (1930/42/516). Trotz des ironischen Charakters des Textes verrät er befremdliche Vorstellungen von Menschen, die nicht dem binären Geschlechtersystem entsprachen. In dieser Zeit fanden die ersten Versuche mit geschlechts­angleichenden Operationen statt. Ob hier darauf angespielt wurde, ist jedoch mehr als fraglich.

Das "Perverse" gilt als "normal" und andersrum

Die Werte verschoben sich und die Geschlechterrollen wurden hinterfragt. Karikaturen variieren das öfter auftretende Motiv der "verkehrten Welt", in der das "Perverse" als "normal" gilt und umgekehrt. Dies wurde schon während der Eulenburg-Affäre, aber auch später als Thema aufgegriffen. Steakley bringt dazu zwei Karikaturen aus anderen Zeitschriften als Beispiele (S. 127, 133). Schade, dass damit nicht automatisch eine emanzipatorische Wirkung einherging.

Unter dem Einfluss der Eulenburg-Affäre entstand auch die Karikatur "Berlin W." mit einem Mann, der sich Sorgen macht, dass er "unten durch" sei, wenn herauskomme, dass er "normal" ist (1907/30/478). Viele Jahre später bleibt es beim selben Thema: Die Karikatur "Schwuhl" zeigt offensichtlich eine Berliner Homo­sexuellenbar, in der ein heterosexueller Mann ausfindig gemacht wird, was eine Person zu der Äußerung veranlasst: "Ick jlaube, det Schwein is jar nich pervers" (1923/18/224). Von Erwin von Kreibig stammt eine Karikatur, die zwei 16-jährige Mädchen darstellt. Eine gibt der anderen den Tipp, den Kontakt zu einem Mann aufzugeben, weil sie diesen für "normal" hält (1928/28/358). Man kann sich durchaus vorstellen, dass viele Heterosexuelle in dieser Zeit erstmals das Gefühl hatten, sich erklären zu müssen. Von einer sozialen Ausgrenzung Heterosexueller war die Gesellschaft der Weimarer Republik jedoch selbstverständlich weit entfernt, diese Vorstellung spiegelt eher irrationale Ängste oder homophobe Ressentiments.


Was in der Homo­sexuellenszene "normal" ist, ist außerhalb der Szene "anormal"

Keine Karikatur über Haarmann – trotzdem passend

In dem Buch "Geschlecht und Verbrechen" (1930, S. 367, hier online) gibt der Herausgeber Magnus Hirschfeld eine Karikatur aus dem "Simplicissimus" ohne Datum wieder. Im Buch erscheint sie weitgehend kontextlos. Sie zeigt zwei Vertreter der Sittlichkeitsbewegung, die sich bei einem Mörder bedanken, weil er sie mit dem Mord (indirekt) im Kampf gegen die Unsittlichkeit unterstütze. Der schwule Geschichtsforscher Rainer Hoffschildt erwähnt diese Karikatur in seinem Buch "Olivia. Die bisher geheime Geschichte des Tabus Homosexualität und der Verfolgung der Homo­sexuellen in Hannover" (1992, S. 78) im Zusammenhang mit dem schwulen Serienmörder Fritz Haarmann.

Diese Karikatur erschien jedoch schon zwei Jahrzehnte vor dem Fall Haarmann (1905/44/434). Sie ist überschrieben mit "Lex Berger" und bezieht sich damit auf die politischen Nachwirkungen der Vergewaltigung und Ermordung eines achtjährigen Mädchens durch Theodor Berger 1904 (s. Wikipedia). Man kann sich leicht vorstellen, dass der Sittlichkeitsbewegung auch der Kriminalfall Haarmann 1924/1925 politisch gelegen kam, weil er ihren Interessen im Kampf gegen Homosexualität entgegenkam. Insofern lässt sich die Karikatur gut auf Fritz Haarmann und damit auf Homosexualität übertragen. Sie ist eine gelungene Satire – nur halt keine, die zum Fall Haarmann erschien.


Ein Mörder nützt dem Anliegen der Kirche

Lesben – weniger Klischees und "weniger wichtig"

Beiträge zu Lesben sind seltener als solche zu Schwulen. Männliche Homosexualität (und Männer im Allgemeinen) wurden als gesellschaftlich relevanter angesehen, während Lesben (und Frauen im Allgemeinen) weniger ernst genommen wurden. Das spiegelt sich nicht nur im Strafrecht, sondern auch in den Karikaturen wider. Es gibt keine Vorstellungen von Vernichtung, wie sie gegenüber den Schwulen im Umfeld des Kaisers geäußert wurden. Lesben wurden nicht ernst genommen und eher ignoriert. Es wurde das Klischee bedient, dass Lesben eine starke Abneigung gegenüber Männern hätten.

In der Karikatur "Frühlingsausflug des Berliner Damenklubs" betont ein Frauenpaar, dass zwischen ihnen nie ein Mann stehen werde – außer vielleicht ein Schutzmann. Inhaltlich bezieht sich dies darauf, dass zu dieser Zeit im Rahmen der Strafrechtsreform eine Ausweitung der Strafbestimmung auf lesbischen Sex diskutiert, aber nicht umgesetzt wurde (1909/7/106).


Lesben machen sich Gedanken, ob ihr Verhalten bald strafbar sein könne

Von Jeanne Mammen stammt die Zeichnung "Freundinnen". Der zugehörige Text bedient das Klischee männerverachtender Lesben: "Ja, ja, auch ich kann es Mama niemals verzeihen, daß Vater ein Mann war" (1931/3/32). In der Karikatur "Aufklärung" heißt es, dass bisher Männer für die Fortpflanzung notwendig gewesen seien, aber da sie dies jetzt nur noch versehentlich täten (gemeint ist: dank moderner Verhütungsmittel wie Kondomen), fehle ihnen "jede moralische Existenzberechtigung" (1931/7/79). In diesen drei Karikaturen – von zwei Künstlern und einer Künstlerin – werden Lesben nur über ihr Verhältnis zu Männern definiert (Schutzmann, Vater etc.). Wie bei anderen Beitragenden bin ich mir auch bei Jeanne Mammen nicht sicher, ob die Texte zu ihren Zeichnungen alle von ihr sind oder eventuell von anderen hinzugefügt wurden.

Das trifft weitgehend auch auf drei farbige Karikaturen mit Lesben-Darstellungen von Ludwig Kainer zu: "Legitim" zeigt ein küssendes Frauenpaar, dass sich über die Heirat mit einem Mann austauscht (1927/47/640), in "Das Alibi" geht es um eine Frau, die sich lieber mit Tieren als mit Männern fotografieren lässt (1927/49/656), und in "Crème" spricht eine Abendgesellschaft über eine koksende, "perverse" Frau, die abgetrieben hat (1927/37/500). Es lässt sich darüber streiten, ob diese Karikaturen emanzipatorisch sind, oder Frauen diskreditieren, die nicht auf Männer stehen.

Aus der Feder von Karl Arnold stammen die Karikaturen "Wie sag ich's meinem Kinde" (1924/27/364) und "Jubel auf Lesbos", in der er Josephine Baker als Ikone der Lesben darstellt (1928/44/602). Eduard Thöny zeigt ein Dienstmädchen, das jetzt im Zuge der Gleichberechtigung auch "pervers" (= homo­sexuell) sein möchte (1927/16/216, oben rechts), und moderne Frauen, die nun gar keine Verwendung mehr für Männer haben (1928/47/642).


Zwei lesbische Frauen, dargestellt von Ludwig Kainer (Ausschnitt)

Non-binär – und was sagt eigentlich Gott dazu?

Einige Karikaturen und Texte beziehen sich auf Personen, die heute als non-binär bezeichnet werden würden. Sich nicht als Frau oder Mann identifizieren zu können bzw. sich nicht zwischen den beiden Geschlechtern "entscheiden" zu können, wird im "Simplicissimus" als bloße "Modeerscheinung" abgetan.

Eine Karikatur war bei queer.de schon öfter zu sehen, weil sie nicht nur Geschlechterrollen hinterfragt, sondern auch die heute bekannte Diskussion um öffentliche Toiletten widerspiegelt. Die Karikatur "Lotte am Scheidewege" (1925/5/79) habe ich hier auf queer.de daher schon einmal mit der thematisch ähnlichen Karikatur "Die vermännlichte Damenmode" ("Ulk", 1924/41/162) verglichen.


"Lotte am Scheidewege" verweist auf Themen, die bis heute diskutiert werden

An dieser Stelle sind auch zwei Karikaturen von Olaf Gulbransson zu nennen. In "Die Mutter" stellt diese resignierend fest: "Ob Bub oder Mädel, ist gleich. Sie stellen sich ja später doch um" (1926/2/40). In der Karikatur "Schöpfungstragödie" sieht Gott eine von ihm erschaffene Person, die eine geschlechtsunspezifische Person oder eine "vermännlichte" Frau (als Karikatur des Typs "Neue Frau") zeigen soll und sagt: "Mir bleibt auch nichts erspart", als hätte Gott hier einen Fehler gemacht. Bezüge zur Schöpfungsgeschichte sind nicht unüblich, um ein konservatives und homophobes Weltbild zu legitimieren (1928/46/620). In "Sensation" von Jeanne Mammen ist ein lesbisches Paar stereotyp als Butch und Femme dargestellt. Eine von beiden will sich zu ihrem "männlichen Typ wieder eine weibliche Seele bei(legen), das ist letzter Schick" (1931/12/137).


Es gibt non-binäre Menschen. Hat Gott da etwa einen Fehler gemacht?

Die Textbeiträge sind – aus heutiger Sicht gesehen – nicht sensibler. Bei Joseph, der früher Josephine hieß, wird die Kleidung des anderen Geschlechts als bloße "Maskerade" bezeichnet (1928/46/632). In "Der Transvestit" setzt sich dieser im Schwabinger Bräu auf den Schoß eines Professors, der ihn für eine Frau hält und erregt ist (1928/47/640).

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Ernst Röhm und die gegen ihn gerichtete Denunziationskampagne


Der Hinweis auf die Homosexualität von Ernst Röhm war Teil einer Denunziationskampagne, mit der Faschisten auf homophobe Weise bekämpft werden sollten

Im April 1931 begann eine breit angelegte Denunziations­kampagne gegen den SA-Chef Ernst Röhm aufgrund von dessen Homosexualität. Dabei wurde auch mit homophoben Karikaturen gegen die Faschisten gekämpft (s. dazu meinen queer.de-Artikel).

Der "Simplicissimus" beteiligte sich an dieser Kampagne mit einer Karikatur, auf der Röhm mit einem weiblichen Becken, Brüsten und homo­sexuell wirkender Gestik zu sehen ist. Peter Scher schrieb dazu das satirische Gedicht "Völkischer Bubisang" über die Homosexualität des "Osaf" (Oberster SA-Führer, also Ernst Röhm) mit Formulierungen wie "Süßer Osaf, du bist zauberhaft gebaut" und "Puppchen huch" (1931/16/182). Dieser Beitrag erschien am 20. Juli 1931, als es zwar noch eine freie Presse gab, aber man bereits Angst vor der SA haben musste, weshalb er durchaus als mutig anzusehen ist. Es war der vorletzte Beitrag zum Thema Homosexualität, der im "Simplicissimus" bis zum Ende seines Erscheinens 1944.

Der "Simplicissimus" 1933-1945

Die Zeitschrift schwenkte 1933, wie andere Medien auch, sehr schnell auf die NS-Linie ein. Dieselben Zeichner, die das Blatt vor 1933 geprägt hatten, zeichneten fortan NS-Propaganda. Eine Ausnahme davon ist Jeanne Mammen, die Nazi-Gegnerin war und sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen musste. Es war erwartbar gewesen, dass sich die homophobe Hetze zwischen 1933-1945 auch in dieser Zeitschrift niedergeschlagen hätte. Angeboten hätten sich z. B. die sogenannten "Sittlichkeitsprozesse" gegen katholische Priester und Ordensleute 1936/37, bekanntlich Schauprozesse, mit denen die katholische Kirche diskreditiert werden sollte. Aber das war offenbar nicht der Fall. Auch die sehr gute inhaltliche Erschließung der digitalen Ausgabe gibt für diesen Zeitraum keine Treffer an.

Der spätere "Simplicissimus" 1954-1967

Von 1954 bis 1967 lebte der "Simplicissimus" unter Olaf Iversen wieder auf. Er war in Gestaltung und Inhalt dem Vorbild nachempfunden, spiegelt aber eine vollkommen andere Zeit wider. Die Karikaturen aus dieser Zeit müssten separat ausgewertet werden, sie sind jedoch bisher nicht online zugänglich. Einige von ihnen sind in dem Ausstellungskatalog "Der Weg zu Freundschaft und Toleranz. Männliche Homosexualität in den 50er Jahren" (1984, S. 7, 17, 79, s. a. S. 9) abgedruckt.

Was können Karikaturen?

Der schon mehrfach zitierte James Steakley hat mustergültig die Hintergründe von Karikaturen untersucht, "die trotz ihrer oft unbillig vereinfachenden Weise schlaglichtartige Einblicke in die kulturellen Normen und Ängste der wilhelminischen Gesellschaft gewähren und somit eine aufschlußreiche Grundlage für sozialgeschichtliche Analysen bilden. Außerdem veranschaulichen diese Karikaturen, die durch ihre bildliche Unmittelbarkeit Anklagen, Forderungen, Belehrungen und Warnungen an die Betrachter richteten, oft wesentlich besser als die zeitgenössischen Texte und Gerichtsprotokolle, welche Emotionen durch diese Affäre in breitesten Schichten der Bevölkerung ausgelöst wurden. Durch ihre hohe Emotionalität wirken Karikaturen wie spontane Reaktionen der öffentlichen Meinung auf Vorkommnisse, die noch nicht gedanklich verarbeitet worden sind, jedoch eine solche Verarbeitung geradezu herausfordern" (S. 13-14, 18, 29).

Steakleys Äußerungen sind leicht auch auf diejenigen Karikaturen im "Simplicissimus" zu übertragen, die außerhalb der Eulenburg-Affäre erschienen sind. Karikaturen taugen vielleicht nicht als historische Analysen, sind aber für die homo­sexuelle Geschichtsforschung bedeutende zeitgeschichtliche Dokumente.

-w-