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Interview
"Ich wollte keinen weiteren Film machen, in dem es schwierig ist, queer zu sein"
Das lesbische Drama "Tandem – In welcher Sprache träumst du?" läuft heute im Kino an. Wir sprachen mit Regisseurin Claire Burger und Hauptdarstellerin Josefa Heinsius über den Film, Queer Cinema und ein polarisiertes Europa.

Szene aus "Tandem – In welcher Sprache träumst du?" (Bild: Julien Poupard / Les Films de Pierre / Port au Prince Pictures)
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24. Oktober 2024, 12:12h 11 Min.
Am 24. Oktober 2024 startet "Tandem – In welcher Sprache träumst du?" bundesweit im Kino. In dem Drama der lesbischen Regisseurin Claire Burger kommen sich zwei jugendliche Frauen auf einem deutsch-französischen Sprachaustausch näher und schließen sich auf der Suche nach Wahrheit in Familie, Politik und Liebe zusammen (ausführliche Filmkritik).
Bei der Berlin-Premiere des Film trafen wir Claire Burger und Hauptdarstellerin Josefa Heinsius zum Interview – vor dem Cinema Paris in Decken gekuschelt und Zigaretten rauchend. Ein Gespräch nicht nur über den Film, sondern über queeres Kino im Allgemeinen und ein polarisiertes und radikalisiertes Europa.

Poster zum Film: "Tandem – In welcher Sprache träumst du?" startet am 24. Oktober 2024 bundesweit im Kino
Claire, in Interviews auf der Berlinale sprachst du davon, es gebe nicht "die" Jugend, sondern viele verschiedene Jugendkulturen. Welche Rolle kann das Kino dabei spielen, die Jugend wieder miteinander in Dialog zu bringen?
Claire Burger: Ich glaube nicht, dass das Kino die Welt verändern kann. Es ist nicht unbedingt sinnvoll, politische Filme zu machen, denn die Menschen gehen nicht ins Kino, um sich wie bei Politiker*innen belehren zu lassen. Unsere Aufgabe besteht vielmehr darin, Fragen zu stellen, die sonst vielleicht niemand stellt.
Die Kraft des Kinos liegt darin, dass es den Zuschauer*innen über Spielfilmlänge ermöglicht, die Perspektive anderer Menschen einzunehmen. Diese Magie erlaubt es uns, das Leben einer Prostituierten oder eines Menschen, der das Mittelmeer überquert, zu erfahren – und das ist mächtig. Diese Erfahrung kann nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühle verändern.
Ich glaube nicht, dass es gut wäre, nur eine "Jugend" zu haben. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der alle sehr wütend aufeinander sind, wäre es wünschenswert, dass Filme dazu beitragen, das Verständnis füreinander zu fördern – sowohl für die Jugend als auch für die ältere Generation, die versucht, diese Jugend großzuziehen. Wir sollten zwar miteinander reden, aber nicht gleich werden: Die Jugend in Paris wird nie die Jugend in Berlin sein. Filme können vielleicht dabei helfen, die Perspektiven anderer zu verstehen – und das ist sehr wertvoll.
Ihr glaubt an die empathische Rolle des Kinos. Was seht ihr speziell als Rolle des queeren Kinos, um das Publikum zu erreichen?
Josefa Heinsius: Queeres Kino ermöglicht es, dass sich queere Menschen – besonders junge, die vielleicht noch keine unterstützende Gemeinschaft haben – repräsentiert fühlen. Sie können sehen, dass es andere wie sie gibt und dass sie nicht "anders" oder "komisch" sind. Gleichzeitig zeigt es nicht-queeren Menschen, dass queere Menschen sowohl spezifische als auch allgemeine Probleme haben, die alle betreffen. Es schafft eine Verbindung, indem es Menschen ermöglicht, für die Dauer des Films in die Perspektive queerer Personen einzutauchen und dadurch Empathie zu entwickeln.
Claire Burger: Als ich merkte, dass ich lesbisch bin, suchte ich nach Filmen oder Büchern, die ähnliche Geschichten erzählten, weil es kaum Repräsentation gab. Auch wenn es jetzt mehr solche Filme gibt, denken manche heterosexuelle Menschen, es seien zu viele. Aber in Wirklichkeit gibt es noch immer zu wenige. Solche Filme sind oft schwer zu finanzieren, weil sie nicht kommerziell genug sind und nicht jeder heterosexuelle Mensch queere Liebesgeschichten sehen will.
Trotzdem ist es wichtig, weiter solche Filme zu machen, denn irgendwann werden auch heterosexuelle Menschen sich von unseren Geschichten angesprochen fühlen. Gleichzeitig gibt es Länder, in denen diese Filme zensiert werden. Zum Beispiel war ich kürzlich in Marokko, und dort wurden die lesbischen Kuss-Szenen aus meinem Film herausgeschnitten. Wir müssen weiterhin kämpfen, um repräsentiert zu werden, da es zunehmend Druck auf queere Inhalte gibt, und es ist ungewiss, ob es in Zukunft noch queere Festivals oder Filme geben wird.

Josefa Heinsius (l.) und Claire Burger bei der Berlin-Premiere von "Tandem – In welcher Sprache träumst du?" (Bild: Jojo Streb)
Worin siehst du das Potenzial queerer Filmfestivals?
Claire Burger: Ambivalent. Ich erkenne die Bedeutung von Auszeichnungen wie dem "Teddy Award" und der "Queer Palm" in Cannes zwar an. Ich wurde einmal für letztere nominiert und habe mich gefragt, ob das wirklich gut ist. Warum werden wir nicht wie alle anderen Filme behandelt? Warum sollten wir separate Preise haben, die uns als "anders" darstellen?
Das gilt für mich auch bei Frauenfestivals oder wenn Journalist*innen nur mit Regisseurinnen über Feminismus sprechen und diese Fragen nicht an männliche Regisseure stellen. Sie reden dann oft nicht über das Kino, sondern nur darüber, dass wir Frauen sind. Natürlich wünsche ich mir eine Welt, in der solche Auszeichnungen nicht mehr notwendig wären. Doch dann wird mir immer klar, dass sie weiterhin wichtig sind – wir müssen sichtbar bleiben, für unsere Rechte kämpfen und der Welt zeigen, dass wir da sind.
Dein Film "Tandem – In welcher Sprache träumst du?" schließt eine wichtige Repräsentationslücke, die sich gut in das vermehrte Auftreten lesbischer und bisexueller Bilder in der Popkultur diesen Sommer einfügt.
Claire Burger: Ich bin lesbisch, und es war mein erster sogenannter lesbischer Film. Ich weiß nicht, warum ich das vorher nie gemacht habe, vielleicht, weil ich mich nicht verpflichtet fühlen wollte. Mir wurde klar, dass es auch eine kommerzielle Frage für den Film ist: Sollen wir die Mädchen zusammenbringen und sie sich küssen lassen oder nicht? Haben die Leute Angst davor? All diese Fragen kamen auf. Es war mir auch wichtig, dass das Verlangen zwischen den Mädchen kein Problem darstellt: Ich wollte keinen weiteren Film machen, in dem es schwierig ist, queer zu sein. Die Geschichte sollte nicht den Fokus darauf legen, dass Beziehungen zwischen Frauen ein Konflikt sind.

Angst vor Rechtsradikalismus, Populismus und Klimawandel: Fanny (Lilith Grasmug, r.) und die Lena (Josefa Heinsius) in "Tandem – In welcher Sprache träumst du?" (Bild: Julien Poupard / Les Films de Pierre / Port au Prince Picture)
Die beiden Hauptfiguren haben ihren ersten Kuss im Film, während sie unter dem Einfluss von Drogen – genauer gesagt, Pilzen – stehen. Viele LGBTI-Personen kämpfen ja auch mit Drogenmissbrauch. Welche tiefere Überlegung steckte hinter dieser Entscheidung?
Claire Burger: Ich möchte nicht, dass meine Filme zu einseitig sind. Natürlich versuche ich, nichts Dummes zu sagen oder Menschen zu ermutigen, schlechte Dinge zu tun, aber ich möchte auch nichts auslassen. Ja, die queere Gemeinschaft hat mit Drogenmissbrauch zu kämpfen, aber die Droge, die ich gewählt habe, nämlich Pilze, ist nicht unbedingt "schlecht". Es gibt Gründe, warum ich sie ausgewählt habe.
Manchmal können sie sogar hilfreich sein – sie sind nicht dasselbe wie harte chemische Drogen. Im Film sehen wir, dass die Figuren unter Drogen Dinge tun, die sie sonst nicht für möglich halten. Ich bin fasziniert von den Dingen, die wir für unmöglich halten, aber die doch in uns stecken. In diesem speziellen Fall denken die Figuren nicht über Verlangen nach, doch das Verlangen ist da, und es geschieht einfach. Normalerweise glauben sie, dass sie kein Deutsch sprechen können, aber unter Drogen verlieren sie etwas die Kontrolle, und plötzlich lassen sie es einfach zu. Vielleicht ist es auch eine Art Metapher für Bisexualität: Wenn man nicht zu sehr kontrolliert und sich von Dingen leiten lässt, die man bereits kennt, werden andere Möglichkeiten und Verbindungen sichtbar.
Ein zentrales Motiv in "Tandem – In welcher Sprache träumst du?" ist die Suche nach der Wahrheit in einer fragmentierten und immer chaotischer werdenden Welt. Was wäre dein Rat an (queere) Jugendliche auf dieser Suche?
Josefa Heinsius: Für mich ist es wichtig, sich nicht von der Komplexität der Welt überwältigen zu lassen. Es geht darum, wach und aktiv zu bleiben, auch wenn man manchmal nicht genau weiß, wie man das tun soll. Besonders im politischen Kontext ist es entscheidend, im Gespräch zu bleiben, auch wenn wir nicht alle dieselbe Meinung haben. Statt uns gegenseitig zu bekämpfen, sollten wir unsere gemeinsamen Anliegen in den Vordergrund stellen und respektieren, dass jede*r für etwas anderes kämpfen kann.
Auf menschlicher Ebene ist es wichtig, dass queere Menschen untereinander, aber auch mit anderen Generationen, im Kontakt bleiben – selbst wenn wir nicht einer Meinung sind. Im Film sieht man das an der Beziehung zwischen Lena und Fanny. Obwohl Fanny Lena angelogen hat, erkennt Lena, dass Fanny das aus einem tiefen Bedürfnis nach Liebe getan hat. Diese Fähigkeit, das eigene Ego loszulassen und Verständnis zu zeigen, ist bewundernswert und ein wichtiger Teil der menschlichen Verbindung. Es ist schade, dass wir oft unsere Kräfte darauf verschwenden, gegeneinander zu kämpfen, obwohl Menschen nie alle derselben Meinung sein werden. Es muss eine Demokratie bleiben, in der wir unterschiedliche Ansichten akzeptieren, anstatt uns zu spalten.
Claire Burger: Es gibt eine Krise in Bezug auf Wahrheit, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft. Menschen wie Trump können Lügen verbreiten, und andere glauben ihnen. Wir leben in einer Welt, in der wir realisieren müssen, dass es keine absolute Wahrheit gibt – es hängt alles von der Perspektive ab. Wichtig ist, dass die unterschiedlichen Blickwinkel zu verstehen versuchen, anstatt sie abzulehnen.
Auch in der queeren Gemeinschaft finde ich das enttäuschend. Früher war sie offener und vielfältiger, weil wir uns unser Queersein nicht von unseren Eltern abgeschaut haben, sondern immer neu erfinden mussten. Heutzutage sehe ich, dass auch Menschen aus der queeren Gemeinschaft zu extrem rechten Parteien tendieren. Es sollte aber unsere Verantwortung als queere Gemeinschaft sein, diese Offenheit zu bewahren und immer wieder gemeinsam etwas Neues zu schaffen.
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Die Figur Fanny interessiert sich sehr für den Schwarzen Block. Glaubt sie an eine militante, antifaschistische Bewegung?
Claire Burger: Ich habe das Drehbuch kurz nach der Gelbwestenbewegung 2018/2019 in Frankreich geschrieben, als es viele Streiks und Demonstrationen gab. Während der Dreharbeiten erlebten wir viel Polizeigewalt, und die Gesellschaft in Frankreich war sehr polarisiert. Besonders junge Menschen fühlten sich oft nicht gehört und von den Politiker*innen nicht ausreichend berücksichtigt. Bei den Demonstrationen fiel mir auf, dass die Mitglieder des Schwarzen Blocks sehr jung waren, manchmal 14 oder 15 Jahre alt.
Auch wenn ich nicht sagen möchte, dass ich ihre Gewaltbereitschaft unterstütze, ist es interessant zu verstehen, warum diese Jugend so fasziniert ist: Gewalt hat eine gewisse Anziehungskraft. Viele junge Menschen fühlen sich machtlos gegenüber dem Kapitalismus und der aktuellen politischen Lage. Sie sind von der Idee angezogen, radikal zu handeln, und zwar nicht nur im Zusammenhang mit dem Schwarzen Block oder Antifa, sondern auch von extremen Rechten und radikalem Islamismus. Diese Anziehung zum Extrem ist oft das Ergebnis ihrer Ohnmacht; sie wählen, aber es ändert sich nichts, und sie fühlen sich machtlos, die Dinge zu verändern.
Man sieht auch bei Lena, dass sie nicht wirklich zuhört. Ist das die Geschichte hinter dem Namen "Blabla"?
Claire Burger: In jedem Film, den ich mache, fasziniert mich unsere eigene Wahrheit. Oft versuchen wir, das Bessere zu tun, und ruinieren dabei alles, weil wir vor jemandem stehen, der anders denkt und handelt. In Familien ist es offensichtlich, dass wir uns nahe sein sollten, doch es ist manchmal unmöglich, einander zu verstehen. Ich mag keine Filme, in denen einige Charaktere recht haben und andere nicht, gute und schlechte Personen. Ich möchte zeigen, dass jeder Charakter seine eigenen Gründe hat, so zu handeln, wie er es tut, und wie schwierig es ist, zusammenzubleiben.
Wie war eure Erfahrung am Set, besonders bei den intensiven Beziehungen der Hauptcharaktere? Habt ihr einander zugehört?
Josefa Heinsius: Ja, auf jeden Fall. Claire, Lilith und ich haben viel über die Szenen gesprochen. Claire wollte wissen, ob es für mich als Deutsche, die eine Austauschschülerin in Frankreich spielt, realistisch ist. Bei den Intimszenen haben Lilith und ich uns gegen einen Intim-Coach entschieden, weil wir großes Vertrauen zueinander hatten und dachten, dass wir das gut hinbekommen. Es gab einen ständigen Dialog.
Claire Burger: Ja, es gab viele schwierige Situationen, auch wegen Sprachbarrieren. Wir haben Französisch, Deutsch und manchmal Englisch gesprochen und immer einen Weg gefunden, uns zu verstehen. Die Zusammenarbeit mit einem französisch-deutschen Team war herausfordernd, da wir unterschiedliche Arbeitsweisen und Techniken haben. Jeder Film erfordert, neue Wege zu finden, um Dinge zu machen.
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Du hast gesagt, dass du keinen sehr politischen Film machen wolltest. Aber die Politik ist in diesem Film und in den Orten überall präsent. Was war deine Überlegung, deinen Film ausgerechnet in Städten wie Straßburg und Leipzig zu drehen, auch um zum Beispiel das Europaparlament in Straßburg einzubeziehen?
Claire Burger: Ich wollte keinen Propagandafilm machen, der nur von einer politischen Seite betrachtet werden kann. Es geht mir nicht darum, nur die linke Sichtweise zu zeigen und die Rechte zu verurteilen. Natürlich spürt man, dass der Film aus einer linken Perspektive stammt, aber ich kritisiere auch Dinge darin. Es geht mehr um den Moment, in dem man das Gefühl hat, die Welt verändern zu können und in die Politik gehen möchte. Ich wollte Politik verkörpern und auch ein bisschen erotisch darstellen, wie bei einer Demonstration, wo man die Kraft der Menschen spürt. Die Hauptfiguren stehen am Anfang ihres politischen Denkens, aber ich wollte, dass Politik überall präsent ist.
Leipzig interessiert mich, weil die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland nicht mehr sichtbar ist, aber ihre Auswirkungen in den Wahlen spürbar bleiben. Das hat die Ideologien in ganz Europa und der Welt verändert. Ich glaube, die Linke hat Schwierigkeiten, ihren Platz zu finden. Ich bin an der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland geboren und interessiere mich sehr für diese Beziehung und für Europa. Es geht mir auch darum, wie wir trotz unserer Unterschiede zusammenleben können. Die Politik ist überall präsent, aber ich wollte nicht vorgeben, wie man es machen soll. Jede Generation braucht den Glauben und die Kraft, Veränderungen herbeizuführen und die Dinge weiterzuentwickeln.
Tandem – In welcher Sprache träumst du?. Drama. Frankreich, Deutschland, Belgien 2024. Regie; Claire Burger. Cast: Lilith Grasmug, Josefa Heinsius, Nina Hoss, Chiara Mastroianni, Jalal Altawil. Laufzeit: 105 Minuten. Sprache: französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln. FSK 12. Verleih: Port au Prince Pictures. Kinostart: 24. Oktober 2024
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