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"Mein Königreich für einen Schwanz!"
Jetzt neu auf DVD: Bruce LaBruces avantgardistisches Werk "Pierrot Lunaire" transformiert die klassische Geschichte von Arnold Schönberg in eine genderqueere, subversive Erzählung. Als Bonus gibt's die RAF-Satire "Ulrike's Brain".

Szene aus "Pierrot Lunaire" (Bild: Bruce LaBruce / Jürgen Brüning Filmproduktion)
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30. November 2024, 08:55h 5 Min.
"Welche Travestie, welch garstige Erniedrigung: Ich muss hockend pinkeln!" Der Mond scheint hell über die Berliner Nacht, Pierrot läuft alleine durch die Straßen. Zuvor hatte er seine Liebhaberin getroffen, die unwissend über seine Geschlechtsidentität ist. Er empfindet es als Pein, sich zum Urinieren hinknien zu müssen und sein Geschäft nicht breitbeinig und stehend verrichten zu können.
In seinem mittellangen Film "Pierrot Lunaire" koloriert der queere Underground-Regisseur Bruce LaBruce nur wenige Details: etwa den Urin im Schneehaufen als Zeichen der Schmach, nicht über das männliche Genital zu verfügen. Der kanadische Filmemacher ist bekannt für seine provokativen Stilistiken und Bildsprachen, mit denen er radikal Sexualitäten und Genderidentitäten hinterfragt. Der gut 50-minütige Film ist ein avantgardistisches Werk, der die klassische Geschichte von Arnold Schönberg in eine genderqueere, subversive Erzählung transformiert.

Auf der Berlinale 2014 erhielt "Pierrot Lunaire" den Spezialpreis der Teddy-Jury (Bild: Bruce LaBruce / Jürgen Brüning Filmproduktion)
Das atonale Stück von Schönberg basiert auf dem gleichnamigen Zyklus aus 50 Gedichten von Albert Giraud aus dem Jahr 1884. Für den Film, der auf der Berlinale 2014 mit dem Spezialpreis der Teddy-Jury bedacht wurde, interpretierte der serbische Dirigent Premil Petrović die Musik neu, die Hauptdarstellerin Susanne Sachssee steuerte den Gesang bei. "Pierrot Lunaire" bietet dabei eine spannende, zuweilen etwas plakative Dekonstruktion binärer Geschlechterordnungen.
Dekonstruktion der Binaritätsnorm

DVD
Aufgeteilt in 20 Akte, spielt der Film bewusst mit den Grenzen zwischen Bühne und realer diegetischer Handlung, wobei er Elemente der Travestie und Performance nutzt, um die Themen von Identität und Täuschung zu erkunden. Im Zentrum steht eine junge Frau, die sich als Mann verkleidet, um ein Mädchen zu verführen, das nichts von der wahren Identität ihres Liebhabers weiß. Der Konflikt eskaliert, als der Vater des Mädchens, ironisch als "fettes kapitalistisches Vaterschwein" bezeichnet, den Betrug aufdeckt und den Kontakt verbietet, woraufhin die Protagonistin aus Zorn einen riskanten Plan schmiedet, um ihre Männlichkeit unter Beweis zu stellen.
Der Mond, als wiederkehrendes Symbol, spiegelt dabei den Prozess der Transformation und der Übergangsphasen wider. Die Geschlechterfluidität des Mondes ist metaphorisch für die Dekonstruktion der Binaritätsnorm und steht zugleich für eine Unsichtbarkeit, die viele trans Menschen in der Gesellschaft erfahren. LaBruce verstärkt die surreale und provokante Ästhetik des Films durch den Einsatz von Latex-Tänzern und überlagernden Bild- und Tonebenen, die eine beabsichtigte Überfrachtung erzeugen. Die musikalische Untermalung wechselt unvorhersehbar zwischen der von Susanne Sachsse gesungenen Version und harten Techno-Beats, die nicht synchron mit dem Schnitt sind und den atonalen Charakter des Films unterstreichen.
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Der Penis als Eintritt in den patriarchalen Club
Der Film beschäftigt sich mit Freuds Konzept des Penisneids und ergötzt sich in minutenlangen, polemischen Sequenzen der Genitalbewunderung: Der männliche Schwanz ist mit bunten euphorischen Lichtpunkten übermalt, er ist der Eintritt in den patriarchalen Club. In einer expliziten Szene ruft die Protagonistin etwa in eine symbolische Glory-Hole-Guillotine: "Ein Schwanz! Ein Schwanz! Mein Königreich für einen Schwanz!" – ein Akt, der den Wunsch nach patriarchaler Macht und Zugehörigkeit karikiert.
Gleichzeitig reflektiert der Film die Entfremdung lesbischer Identitäten von traditionellen Weiblichkeitskonzepten und beleuchtet die Dynamiken in Butch-Femme-Beziehungen. LaBruce stellt die provokante Frage, ob eine geschlechtliche Transition, die Ambiguität reduziert, tatsächlich zu mehr Akzeptanz in einer von binären Normen geprägten Gesellschaft führen würde, oder ob sie nur eine Anpassung an die Erwartungen der herrschenden Klasse wäre.
Ulrike Meinhof und Michael Kühnen in "Ulrike's Brain"
"Pierrot Lunaire" ist als Doppel-DVD (Amazon-Affiliate-Link ) beim Berliner Filmverleih Salzgeber mit einem weiteren LaBruce-Film aus dem Jahre 2017 erschienen: "Ulrike's Brain" ist eine bizarre und absurde Science-Fiction-Satire, die sich von B-Movie-Klassikern wie "They Saved Hitler's Brain" (1968) inspirieren lässt und die wahren Begebenheiten um das mysteriöse Verschwinden des Gehirns von Ulrike Meinhof aufgreift. Im Zentrum steht die Wissenschaftlerin Dr. Julia Feifer, die telepathisch mit dem Gehirn der RAF-Terroristin in Kontakt steht und den Auftrag erhält, eine neue feministische Revolution anzuführen, während ihr rechtsextremer Rivale versucht, den Geist des an den Folgen von Aids verstorbenen schwulen Neonazis Michael Kühnen durch okkulte Rituale wiederzubeleben.
Der Film greift das historische Mysterium um das Verschwinden der Gehirne der RAF-Mitglieder auf, verbindet es jedoch mit grotesken Elementen und einer satirischen Darstellung politischer Extreme nach der Hufeisen-Theorie. Dabei scheitert er jedoch in voller Linie an einer kohärenten Erzählweise und verliert sich in wirren akustischen Effekten und grotesken Schnittfolgen.
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Die Performance von Susanne Sachsse, die auch in diesem mittellangen Film die Hauptdarstellerin ist, kann das Werk nicht retten; die abstoßende Bildsprache und überladene akustische Effekte sorgen für Verwirrung und Ermüdung. Im Vergleich zum schelmischen Ton und der Avantgarde-Ästhetik von "Pierrot Lunaire" fehlt es "Ulrike's Brain" an erzählerischer Klarheit und augenzwinkernder Ironie, wodurch sich das Werk – trotz kurzer Laufzeit – schwerfällig und chaotisch anfühlt. Man ist daher mit dem ersten Werk besser beraten.
Pierrot Lunaire. Spielfilm. Deutschland, Kanada 2014. Regie: Bruce LaBruce. Cast: Susanne Sachsse, Paulina Bachman, Boris Lisowski, Krishna Kumar Krishnan, Mehdi Berkouki, Amit Elan, Krassen Krastev, Anthony Weiss. Laufzeit: 51 Minuten. Sprache: deutsche Originalfassung. FSK 16. Salzgeber
Ulrike's Brain. Spielfilm. Deutschland, Kanada 2017. Regie: Bruce LaBruce. Cast: Gertrude Stammheim, Susanne Sachsse, Saskia Timm, Stefan Sandrock, Florian Töbe, Yves Hanke, Joseph Wolfang Ohlert. Laufzeit: 55 Minuten. Sprache: deutsch-englische Originalfassung. Untertitel: Deutsch (optional). FSK 16. Salzgeber
Links zum Thema:
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» "Pierrot Lunaire" bei Prime Video
Mehr queere Kultur:
» auf sissymag.de
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