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Kino
Warum Luca Guadagninos Film "Queer" schon jetzt ein Klassiker ist
In zahlreichen Besprechungen von Luca Guadagninos "Queer" wird die spezifisch queere Thematik des Films übersehen. Dabei ist der Film Teil eines größeren queeren Diskurses. Eine Analyse.

Szene aus "Queer": William (Daniel Craig, l.) hat sich in den jüngeren Eugene (Drew Starkey) verliebt (Bild: Yannis Drakoulidis / A24)
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11. Januar 2025, 07:44h 9 Min.
Tick-tack. Eine sekundenlange Einstellung in den ersten Minuten des Films zeigt eine Kuckucksuhr an der Wand. Die Kamera nimmt sie bedeutungsschwer in den Fokus, das Ticken wird akustisch verfremdet. William Lee, der Protagonist des Films, hört es wohl, und sein Gesicht friert ein: Die Zeit ist ihm auf den Fersen. Abgehetzt kippt er in einer Bar einen Tequila nach dem anderen runter.
Obwohl Lee zweifellos noch als attraktiver Mann durchgeht, gehört er einer reifen Generation schwuler Männer an. Vor allem aus seiner eigenen Perspektive ist er gerade dabei, ein Verfallsdatum zu überschreiten – zumindest, was seine Erfolgsquote in der schwulen Szene betrifft. Und dort gelten strenge Anforderungen, auch für Daddys. Er selbst kann mit Gleichaltrigen sexuell nichts anfangen – zu seinem Beuteraster gehören ausschließlich Männer, die mindestens eine Generation jünger sind.
Individuelle und kollektive Selbstverachtung

Poster zum Film: "Queer" läuft seit 2. Januar 2025 bundesweit im Kino
Wir befinden uns im Mexiko der 1950er Jahre. In den USA, dem Heimatland von Lee, ist Homosexualität gesetzlich verboten. Doch als Exilant kann er sein Begehren ausleben, ohne von Verfolgung bedroht zu werden. In Mexiko City existiert eine mehr oder weniger offene schwule Subkultur, in der Lee Abend für Abend auf die Pirsch geht, aber weniger aus Neugier und Interesse am jeweiligen Gegenüber, sondern eher als Getriebener, der sich mit Hochprozentigem den Mut zur Kontaktaufnahme antrinkt. Wenn er jemanden anvisiert, muss es schnell zur Sache gehen.
Dass es um Lees Selbstwertgefühl nicht gut bestellt ist, verwundert kaum. Er hat die gesellschaftlich etablierte Homophobie verinnerlicht und ist dabei in guter Gesellschaft. In seiner schwulen Clique reden alle übers Schwulsein, als würde es sie selbst nur teilweise betreffen. Die individuelle und kollektive Selbstverachtung und die Mühe um Distanzierung zu den anderen innerhalb der überschaubaren Community ist in jeder Szene und in jedem Dialog präsent. Dabei drehen sich die Gespräche fast immer darum, ob jemand nun offen schwul beziehungsweise "queer" ist oder nicht.
"Die Lees waren schon immer Perverse"
"Louis hat sich dafür entschieden, dass das alles hier falsch ist und dass ich in der Hölle schmoren werde, während er im Himmel landet", berichtet Lees Bekannter Joe nach einem Date. "Maurice hingegen ist so schwul wie ich, wenn nicht noch schwuler. Aber er will es nicht akzeptieren. Tatsächlich ist er derart queer, dass ich das Interesse an ihm verloren habe."
Bei seinem ersten Date in einem Restaurant mit dem jungen Soldaten Eugene, dem Lee hoffnungslos verfällt, hält er einen bekenntnishaften Monolog: "Ein Fluch. Seit Generationen in unserer Familie. Die Lees waren schon immer Perverse. Ich werde niemals den unsagbaren Schrecken vergessen, der die Lymphe in meinen Drüsen gefrieren ließ, als das unheilvolle Wort mein taumelndes Gehirn versengte – homosexuell." Er habe an die "geschminkten, affektierten Frauen-Imitatoren" aus einem Nachtclub gedacht. ",War es möglich, dass ich eine dieser unmenschlichen Kreaturen war?" Daraufhin sei er wie betäubt durch die Straßen geirrt, kurz davor, sich das Leben zu nehmen. Immerhin ließ er sich von einer "weisen alten Tunte" helfen: "Wir nannten sie Bobo. Sie lehrte mich, dass ich die Pflicht hatte zu leben und meine Bürde stolz für alle sichtbar zu tragen."
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Alter Ego von William S. Burroughs

Cover der Erstausgabe von William S. Burroughs' Roman "Queer"
Dieser Monolog ist eine der meistzitierten Stellen in der literarischen Vorlage von William S. Burroughs, der zur Zeit der Entstehung des Romans selbst in Mexiko lebt und für den der Protagonist William Lee ein Alter Ego darstellt. Auch Burroughs ist wie sein Antiheld innerlich zerrissen. Bemerkenswert sowohl im Buch als auch im Film ist die Darstellung der Schwulenszene, die an James Baldwins Beschreibungen der Pariser Subkultur in den 1950er Jahren in seinem Roman "Giovannis Zimmer" erinnert. Beiden Schriftstellern ist zudem das Zaudern mit der sexuellen Identifikation und einer dazu angemessenen Selbstbezeichung gemein – ob nun "schwul", "homosexuell" oder "queer". Baldwin hat sich zeit seines Lebens von der homosexuellen Emanzipationsbewegung seiner Generation distanziert, und auch Burroughs zeigte sich nie mit ihr verbunden (queer.de berichtete).
Genau diesen inneren Konflikt hinsichtlich der sexuellen Identität rückt der Regisseur Luca Guadagnino ins Zentrum seines Films. In einer Schlüsselszene wird William Lee im Rausch von einer Vision mit einem weiblichen Torso heimgesucht: eine Situation, bei der er sich glaubt, rechtfertigen zu müssen: "Ich bin nicht queer. Ich bin körperlos" – wobei die Beschreibung auf eine fehlende Identifikation des Begehrens mit seinem Körper verweist.
In den jungen Soldaten Eugene verliebt sich William Lee auf den ersten Blick. Ihre erste Begegnung verläuft allerdings nicht zufällig. Bei einem von Lees Streifzügen durch das Cruising-Viertel von Mexiko-City taucht Eugene plötzlich im Hintergrund bei einem Hahnenkampf auf offener Straße auf, der von einer Gruppe von Männern mit Geldscheinen in den Händen befeuert wird. Eher zufällig fällt Williams Blick auf Eugene, der diesen irritiert erwidert, sich schnell wieder der angestachelten Schar rund um das Federvieh zuwendet – um erneut Williams Augenkontakt zu suchen, nun aber mit einem Lächeln.
Kampf um Dominanz und Macht
Und so nimmt diese doch recht ungleiche Beziehung ihren Lauf, mit Höhen und Tiefen. Die Metapher "Cockfighting" verweist dabei nicht nur auf den vorhersehbaren Kampf um Dominanz und Macht. Guadagnino zeigt damit auch, dass er sich in das Thema kulturhistorisch vertieft hat: Der Hahnenkampf erfreute sich bereits in der Antike großer Beliebtheit und war auf mehreren Ebenen mit Bedeutung aufgeladen. So galt der Hahn als Symbol für junge Männer, insbesondere für militärische Rekruten im Alter von etwa 18 Jahren, Epheben genannt, die häufig eine erotische Verbindung zu älteren Männern eingingen. Die Rollen waren in der Regel ungleich verteilt. Zudem wurden Hähne von den älteren an die jüngeren Männer oft als Liebesgeschenke überreicht.
Es ist der schauspielerischen Leistung von Daniel Craig zu verdanken, dass William Lee in Guadagninos Film als komplexe Figur zum Leben erweckt wird, der man gleichwohl Gefühle der Sympathie, des Misstrauens und des Mitleids entgegenbringt. Craig verkörpert überzeugend einen Mann, der in seinem Werben um Eugene mit seiner körperlichen Identität hadert. Er zeigt Lee als jemanden, der trotz betont männlicher Ausstrahlung verunsichert ist und mitunter die Grenze zur Fremdscham überschreitet.
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Lee als Wiedergänger von Gustav Aschenbach
Indes bleibt die Beziehung zwischen William und Eugene deutlich von einem Machtgefälle geprägt. Als alternder schwuler Mann, der sich in einer ihm fremden Umgebung obsessiv auf ein jugendliches Objekt der Begierde fixiert, erscheint Lee als Wiedergänger von Gustav Aschenbach aus Thomas Manns "Tod in Venedig". In beiden Fällen wird die Zuneigung nicht erwidert. Ähnlich wie Manns Protagonist sucht auch William Lee nicht nur nach Liebe und Nähe, sondern auch nach einem jugendlichen Spiegelbild – und letztlich nach Erlösung von seiner Verklemmung. Helfen soll ihm dabei eine spezielle Droge, für die er mit Eugene nach Ecuador reist, genannt Yagé oder Ayahuasca.
Von der Substanz erhofft sich Lee die Fähigkeit zur Telepathie. Das Thema beschäftigt ihn, seit er Eugene kennt. Dahinter steckt ganz offenbar seine Unfähigkeit zur zwischenmenschlichen Kommunikation, besonders hinsichtlich seiner Gefühle und Leidenschaften. Es ist ihm immer noch nicht klar, ob und auf welche Weise ihn Eugene begehrt.
William Lee, der Autist
Auch dabei handelt es sich um eine spezifisch queere Thematik, die sich wiederum aus dem gesellschaftlichen Tabu ergibt: Ein Begehren, das lange Zeit als unaussprechlich galt, muss sich zwangsläufig unkonventionelle Wege der Kommunikation suchen. Schwule Männer, so heißt es oft, eignen sich besondere Fähigkeiten an, um zwischen den Zeilen zu lesen und das Unausgesprochene anhand von Körpersprache oder Codes zu dechiffrieren. Gleichwohl können sie sich entsprechend ambivalent zum Ausdruck bringen. Doch diejenigen, die auch nur annähernd dem autistischen Spektrum zuzurechnen sind – und von Beginn des Films an lässt sich die Unbeholfenheit William Lees als ein Symptom dafür lesen – bleiben bei dieser kulturellen Praxis außen vor.
Die Erlösung, die sich Lee erhofft, wird er jedoch nicht finden. Der Drogentrip führt ihn zwar zu höherer Erkenntnis, nicht jedoch zu einer erfüllenden Liebesbeziehung. In einer Body-Horror-Szene kehren beide buchstäblich ihr Innerstes nach außen, um im Anschluss ihre Körper zu verschmelzen – letzteres auf sehr ästhetische Weise und unter dem Einsatz computeranimierter Effekte. Beim zweiten Trip folgt die Ernüchterung. Eugene spiegelt den zum Mantra gewordenen früheren Gedanken von Lee, der einer tieferen Verbindung der beiden im Wege steht. Mit der Aussage "Ich bin nicht queer. Ich bin körperlos", enthüllt er gegenüber Lee seinen Konflikt mit seiner sexuellen Identität.

William und Eugene im Drogenrausch: Szene aus "Queer" (Bild: Yannis Drakoulidis / A24)
Die Spiegelung in der Beziehung von William und Eugene wird bereits früh im Film angedeutet. Eines ihrer ersten Dates findet im Kino statt, wo Jean Cocteaus Film "Orpheus" aus dem Jahr 1950 läuft. Just in der Szene, als Cocteaus Lebensgefährte Jean Marais in seiner Rolle als Orpheus durch einen Spiegel tritt, legt Williams geisterhaft verdoppelter Körper einen Arm um Eugene und haucht ihm einen Kuss auf den Hals: eine sehr poetische und verwunschene Szene, die auf sympathische Art die altmodisch anmutende Tricktechnik der Doppelbelichtung nutzt. Kurz darauf folgen auch realistische und explizite Sexszenen, die durchgehend erotisch und niemals peinlich oder zumindest ambivalent wirken – es sind die einzigen Momente, in denen das Machtgefüge in der Beziehungskonstellation von Eugene und William außer Kraft gesetzt wird und eine Vision von gegenseitiger Zuneigung aufscheint.
Anspielungen auf die Entstehungsgeschichte des Buchs
"Queer" enthält zahlreiche Anspielungen, die neben einer spezifisch queeren Kulturgeschichte auch die biografische Entstehungsgeschichte des Buchs reflektieren. Dem Roman geht unmittelbar eine persönliche Tragödie voraus. Burroughs war mit einer Frau namens Joan Vollmer verheiratet. Als die beiden am Abend des 6. Septembers 1951 im Rauschzustand die Apfelszene aus Schillers Drama Wilhelm Tell nachstellen, wird Vollmer von ihrem Ehemann erschossen – den polizeilichen Ermittlungen zufolge ein Unfall. Guadagnino nimmt die mutmaßliche Todesszene in seinen Film als eine Horrorvision von Lee auf, die ästhetisch an David Lynch erinnert: dabei ist jedoch Eugene die Person, die mit dem Apfel auf dem Kopf von Lee erschossen wird.
Guadagninos vielschichtige Auseinandersetzung mit der Thematik machen den Film zu einem Meisterwerk – vor allem angesichts der sperrigen literarischen Vorlage, die zwar schon 1952 vollendet, aber aufgrund von Selbstzweifeln des Autors erst 1985 veröffentlicht wurde. Auch wenn das eine oder andere Rätsel im Film ungelöst bleibt: Guadagnino ist zu verdanken, dass Burroughs Roman einem breiteren Publikum zugänglich wird als dieser je zu träumen gewagt haben dürfte.
Queer. Drama. USA 2024. Regie: Luca Guadagnino. Cast: Daniel Craig, Drew Starkey, Jason Schwartzman, Henrique Zaga, Colin Bates, Simon Rizzoni, Drew Droege, Ariel Schulman, Lesley Manville, Omar Apollo, Ronia Ava, Andrés Duprat, Lisandro Alonso, Ford Leland. Laufzeit: 137 Minuten. Sprache: deutsche Synchronfassung. FSK 16. Verleih: MUBI. Kinostart: 2. Januar 2025
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