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Reportage

Muhsin Hendricks: Ein Besuch bei einem der letzten Freitagsgebete vor seiner Ermordung

Als erster Imam weltweit hatte sich Muhsin Hendricks 1996 als schwul geoutet. Im Februar wurde er von zwei vermummten Angreifern erschossen. Nur wenige Wochen zuvor trafen wir ihn in seiner Moschee in Kapstadt.


Muhsin Hendricks war der erste Imam weltweit, der sich 1996 als schwul geoutet hat (Bild: Tycho Schildbach)
  • Von Tycho Schildbach
    30. März 2025, 12:11h 10 Min.

Der Weg zum Freitagsgebet führt jedes Gemeindemitglied an ein schweres, mechanisches Sicherheitstor im Süden Kapstadts. Dahinter liegt ein zweistöckiger Gewerbekomplex mit minimalistischer Farbpalette: graue Pflastersteine, eierschalenfarbene Hausfassade. Ein Geschäft verkauft Werkzeuge, daneben hat ein Klempner sein Büro. Rechts im Erdgeschoss befindet sich die Masjidul-Ghurbaah-Moschee. Sie war der Arbeitsplatz eines Mannes, der einen bedeutenden Titel trug. Muhsin Hendricks war der weltweit erste Imam, der seine Homosexualität öffentlich machte. Im Februar wurde er von zwei vermummen Angreifern erschossen – ein mutmaßliches Hass­verbrechen (queer.de berichtete).

An diesem Freitag im November bereitet sich der Imam in seiner Wohnung direkt über der Moschee auf die Predigt vor. Eigentlich unterscheide sich seine Moschee gar nicht so sehr von anderen, sagt er damals: "Der einzige Unterschied ist, dass wir Homosexualität nicht als Sünde bezeichnen. Wir sagen, dass wir sie annehmen müssen."


Die südafrikanische Verfassung verbietet die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung. Dennoch müssen viele queere Muslime ein Doppelleben führen (Bild: Tycho Schildbach)

Im Erdgeschoss treffen nach und nach die Gläubigen ein. An jedem ihrer Hosenbeine hängen bald lange schneeweiße Haare. Die Katze des Imams begrüßt jeden Besucher aufgeregt. Währenddessen schallt der Muezzinruf einer anderen Moschee durch das offene Fenster. Dort wären wohl nicht alle Anwesenden willkommen.

Auf einem großen blauen Teppich mit buntem Blumenmuster stehen ein paar Stühle. Auf einem sitzt ein etwa 20 Jahre alter Mann. Er trägt einen beigen Qamis, das bis zu den Knöcheln reichende Gewand, und eine dazu passende zylinderförmige Gebetskappe, auch Takke genannt. "Das hier ist wichtig, weil der Imam der Moschee dir erlaubt, du selbst zu sein", erklärt er. Seinen Namen möchte er nicht nennen, die Stimme zittert beim Sprechen ins Aufnahmegerät. Immer wieder pausiert er und schaut in den Raum, als ob er dort die Worte finden könnte, die ihm fehlen. "Es tut mir leid. Ich werde hier etwas nervös", entschuldigt er sich. Niemand wisse, dass er hier sei. Nicht einmal seine Familie. Auf die Frage, was passieren würde, wenn sie es herausfänden, antwortet er: "Sie würden mich verprügeln oder töten, eines von beiden."


Der junge Mann besucht die Masjidul-Ghurbaah-Moschee heimlich (Bild: Tycho Schildbach)

61 Morde und Suizide seit 2020

Journalist*­innen der Nachrichtenplattform MambaOnline.com dokumentieren 60 queere Personen, die seit 2020 in Südafrika ermordet wurden oder sich das Leben genommen haben. Am 15. Februar 2025 folgte mit Imam Muhsin Hendricks die 61. Person. Die Dunkelziffer liegt mutmaßlich deutlich darüber. Vier von zehn homo­sexuellen Menschen haben mindestens einmal versucht, Suizid zu begehen, so eine Studie der Universität von Kapstadt und anderen Forschungseinrichtungen. Es gibt keine getrennten Erhebungen für die muslimische Bevölkerung, die knapp zwei Prozent aller Südafrikaner*­innen ausmacht. Kurz vor seinem Tod sagt Muhsin Hendricks, er wisse von fünf Suiziden unter queeren Muslim*­innen in der Provinz Westkap seit 1998.

Trotz der Morde und Suizide passt Südafrika nicht in eine Schublade mit vielen anderen afrikanischen Ländern. Die südafrikanische Verfassung bestimmte 1996 als erste der Welt, dass niemand wegen seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden darf. Die Ehe für alle führte Südafrika schon 2006 ein – elf Jahre vor Deutschland. In wohlhabenderen, urbanen Gegenden ist es durchaus üblich, gleich­geschlechtliche Paare auf der Straße zu sehen.

Hendricks nennt sich selbst als Negativbeispiel in seiner Predigt

Viele Teilnehmende von Hendricks Freitagsgebet träumen von den Freiheiten ihrer südafrikanischen Mitbürger*innen. Nur im geschützten Raum der Masjidul-Ghurbaah-Moschee sind sie für kurze Zeit nicht allein mit ihrem Geheimnis.

Als der Imam an diesem Freitag den Raum betritt, sprechen viele noch miteinander. Hendricks läuft wortlos ans Ende des Gebetsteppichs, setzt sich mit dem Gesicht zur Wand und singt mit tiefer Stimme einen Dhikr – ein meditativer Sprechgesang mit meist nur kleinen Tonsprüngen und vielen Wiederholungen. "Wir machen es etwas anders als in orthodoxen Moscheen. Zu Beginn singen wir, damit die Leute zur Ruhe kommen und sich fokussieren", erklärt der Imam den Ablauf. "Oft kommen Menschen in die Moschee und treffen sich wieder nach langer Zeit wieder. Aber in diesem Moment soll sie ein Ort fürs Gebet sein."

Während des Dhikr versammeln sich die Gläubigen hinter ihm. Anders als in den meisten Moscheen stehen hier alle nebeneinander: Frauen, Männer und alle, die sich dazwischen verorten. Anders ist auch, dass kein Muezzin, sondern eine Frau den Aufruf zum Gebet singt. Als der Imam nach dem Gebet die Predigt beginnt, sind ein Mikrofon, ein Ringlicht und eine Handykamera auf ihn gerichtet. Denn wer möchte, kann auch über TikTok dabei sein.


Hendricks streamte seine Predigt live auf TikTok (Bild: Tycho Schildbach)

Hendricks erinnert in seiner Predigt daran, dass jede unserer Entscheidungen aus einer Verhandlung mit uns selbst folgt. Wir sollten stets den Mut haben, die beste Entscheidung auszuhandeln, statt den Erwartungen anderer gefallen zu wollen. "Ich hatte Kinder, die mit einem Stigma aufwuchsen. Ich hatte eine Frau, die das Recht hatte, von einem Mann glücklich gemacht zu werden. Das konnte ich ihr nicht bieten", mahnt er. "Wer zu so einer Entscheidung kommt, schadet nicht nur sich selbst, sondern auch anderen." Das gelte auch fürs Coming-out. "Ich sage nicht, dass wir alle einen mutigen Schritt wagen und einfach unsere sexuelle Orientierung offenlegen müssen", erklärt der Imam und fordert: "Aber verhandelt mit euch!"


Die Hand eines Gläubigen während der Predigt. Viele im Raum haben Angst, ihre Identität preiszugeben (Bild: Tycho Schildbach)

Das Coming-out kostete ihn 1996 den Job

Mit 18 Jahren entschied Hendricks, dass er Imam werden möchte. Aber ein Imam ohne Ehefrau schien undenkbar. Er heiratete eine Frau aber auch aus einem zweiten Grund: "Ich dachte immer, wenn ich nie versuchen würde, mit einer Frau zusammen zu sein, würde ich nie wissen, ob das gleichermaßen in Ordnung sein könnte."

Gemeinsam zog das Paar für vier Jahre nach Pakistan. Hendricks studierte muslimische Theologie und Arabisch. Seine Frau wusste von seiner Homosexualität, hielt sie aber für eine Phase. "Aber wir beide haben gemerkt, dass sich daran nichts ändern würde, weil sich unser Sexualleben dann irgendwann verschlechterte. Für mich war Sex mit ihr eine große Anstrengung", sagt Hendricks.

Während er spricht, sitzt der Imam zurückgelehnt auf seinem Stuhl. Selbst von seinem folgenreichen Coming-out erzählt er mit einem milden Lächeln. 1996 sprach er in einem Zeitungsartikel erstmals öffentlich über seine Homosexualität. Damals lehrte er Arabisch an einer Moschee in Kapstadt. "Das war am Wochenende. Als ich am Montag zur Sprachschule kam, fragten sie mich, warum ich ihnen nicht erzählt habe, dass ich schwul bin", erinnert sich Hendricks. "Sie sagten, dass ein schwuler Lehrer der Schule große Probleme bereiten würde, weil Eltern ihre Kinder vielleicht von der Schule nähmen." Auf Drängen habe er schweren Herzens seine Kündigung eingereicht.

Noch im selben Jahr begann er, als muslimischer Gelehrter queeren Muslim*innen zu helfen. Zwei Jahre später gründete Hendricks auch formell eine Hilfsorganisation, die heute Al-Fitrah heißt. 2011 eröffnete er seine eigene queerfreundliche Moschee.

Todesdrohungen habe er nie erhalten. "Ich glaube das liegt an unserem nicht konfrontativen Ansatz", erzählt er nur zweieinhalb Wochen vor seiner Ermordung per Sprachnachricht. "Wir wirken viel hinter verschlossenen Türen, um unserer Mitglieder zu schützen, die sich meist noch nicht geoutet haben." Hass und Ablehnung hätten er und seine Gemeindemitglieder aber immer wieder erfahren. Zuletzt zum Beispiel nachdem auf TikTok ein Video vom Gebetsaufruf aus seiner Moschee kursierte, den bei ihnen eine Frau singt.

Wegen seiner Lesart des Korans sei auch die Beziehungen zu anderen Moscheen schlecht. 2007 verurteilte ihn der Muslimische Justizrat in Kapstadt sogar öffentlich mit einer Fatwa, einem muslimischen Rechtsgutachten. "Die Fatwa besagte, dass ich nicht dem Islam entspreche und dass meine Arbeit Propaganda sei", sagt er. "Immerhin gab es einen Imam, der sagte: 'Lasst Imam Muhsin in Ruhe, denn zumindest bleiben die Leute bei ihm muslimisch.'" Hendricks lacht verschmitzt.

Er sei zufrieden mit seinem Leben, sagt er. Anfeindungen haben Muhsin Hendricks nie gebrochen. Daran ändert auch seine Ermordung nichts.

Vielleicht half ihm sein Humor, vielleicht auch ein gewisser Eskapismus. Auf seinen Social-Media-Profilen verbreitete der Imam mehrere Kurzvideos pro Woche, in denen er Bollywood-Liebeslieder und -Dialoge synchronisierte – garniert mit Beauty-Filtern, Sternchen und Herzchen. Darf ein Aktivist in den sozialen Medien mehr sein als Aktivist? Darf er auch profan sein?

Hendricks Arbeit war frei von Profanität. Er hielt Vorträge, organisierte Konferenzen und schulte Imame in mehreren afrikanischen Ländern. Immer mit derselben Botschaft: Der Islam ist für alle da.

"Er redet Unsinn"

Entspricht die Missbilligung durch Moscheen und den Justizrat auch der Denkweise der breiten muslimischen Bevölkerung? Der Stadtteil Bo-Kaap gibt zumindest einen Hinweis. Bo-Kaap ist das wohl älteste muslimische Viertel in Kapstadt. Sechs Moscheen stehen hier auf weniger als einem Quadratkilometer. Auch Hendricks Eltern wuchsen in Bo-Kaap auf, auch sie waren, wie fast alle hier, Kapmalaien, Nachfahren von muslimischen Sklav*innen aus Indonesien. Die Niederländer verschleppten diese im 17. und 18. Jahrhundert nach Südafrika.

Pink, hellblau, lila, hellgrün, orange – jedes Haus leuchtet hier in einer anderen Farbe, jede Straße sieht anders aus. Die Meinungen über den homosexuellen Imam klingen dagegen alle recht uniform.


Aus dem muslimischen Stadtteil Bo-Kaap im Zentrum von Kapstadt kommt vor seinem Tod viel Kritik an Muhsin Hendricks (Bild: Tycho Schildbach)

Ein Straßenhändler, der unter einem Sonnenschutz Lederwaren an Tourist*innen verkauft, hat von Imam Muhsin Hendricks gehört. "Nirgendwo im Koran steht, dass es jemanden geben sollte, der schwul ist und die Leute führt. Es ist nicht richtig", sagt er. Ein paar Straßenzüge weiter lehnt eine ältere Dame über die Brüstung ihres Hauses und beobachtet das Treiben im Viertel. Sie meint: "Du kannst sein, wer du bist. Deine Gefühle gehören dir. Du kannst damit geboren worden sein. Aber wenn zwei Menschen desselben Geschlechts zusammenkommen und tun, was sie nicht tun sollten, wird es haram, was bedeutet, dass es im Islam nicht erlaubt ist." Ein Mann, der gerade dutzende Einkauftüten in Fuhren von der Wohnungstür in sein Haus hievt, wird sogar laut: "Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, damit sind wir nicht einverstanden. Er muss verrückt sein. Gehe lieber in unsere Moschee. Aber glaube nicht, was dir dieser Imam gesagt hat. Er redet Unsinn." Auch unter weiteren Anwohner*innen Bo-Kaaps findet sich an diesem heißen Sonntagnachmittag kein einziger Befürworter von Muhsin Hendricks.

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Eine überraschende Wendung nach 16 Jahren

Unverständnis, Ablehnung, Ausgrenzung. Auch die Mitglieder seiner queerfreundlichen Moschee müssen diese Reaktionen ertragen. "Meine Familie hat mich verstoßen. Das ist hart für mich", erzählt eine Frau. Sie ist etwa 50 Jahre alt, leitet ihr eigenes Unternehmen und will anonym bleiben. Jeden Freitag nimmt sie sich Zeit für den Moscheebesuch, ohne den sie sich ein Leben nicht mehr vorstellen kann. "Ich glaube nicht, dass es mich noch geben würde", sagt sie nachdenklich. Sie wünscht sich, es gäbe mehr Moscheen, in denen sie als lesbische Frau respektiert würde. "Ein Sprichwort besagt: 'Kein Mensch ist eine Insel.' Wer hierher kommt, findet Trost, findet Unterstützung", sagt sie.

Die Unterstützung kommt auch von der Gemeinde. Nach dem Freitagsgebet sitzt die Frau am Tisch und unterhält sich angeregt mit ihrer Sitznachbarin. Vor ihnen stehen viele kleine und große Schüsseln mit buntem Gemüse, gelbem Safranreis, rotem Achar, Kartoffeln, Hühnchen, dazu Orangensaft. Denn nach dem Gebet isst die Gemeinde zusammen.


Nach dem Freitagsgebet isst die Gemeinde zusammen (Bild: Tycho Schildbach)

Imam Muhsin Hendricks erzählt damals von einer unerwarteten Nachricht aus der Moschee, die ihn nach seinem Coming-out entließ: "16 Jahre später entschuldigt sich der Imam dieser Moschee und sagt, es sei jetzt vielleicht an der Zeit, dass wir uns als Gemeinschaft mit unserer Homophobie beschäftigen."

Zeigt dieses Beispiel, dass Hendricks Aktivismus auch das Leben von queeren Menschen außerhalb des Sicherheitstors vor seiner Moschee verändert? Vier Tage vor seinem Tod beantwortet der Imam diese Nachfrage mit zwei WhatsApp-Nachrichten: Eine solche Formulierung finde er zu großspurig. "Vielleicht kannst du sagen, dass ich queeren Muslim*innen dabei assistiere, ihre sexuelle Orientierung mit dem Islam zu vereinen." Auch mit der Entschuldigung des anderen Imams wollte sich Hendricks nicht brüsten. Dieser habe sich entschuldigt, nachdem er sich selber mit dem Thema auseinandergesetzt habe.

Muhsin Hendricks gab viel und verlangte wenig. Am Samstag, den 15. Februar erschossen ihn zwei vermummte Männer in der Provinz Eastern Cape.

-w-