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Interview
Sterben die Burrneshas aus, Kristine Nrecaj?
Albanische Burrneshas oder Schwurjungfrauen nehmen die soziale Rolle von Männern an. Filmemacherin Kristine Nrecaj hatte selbst eine Burrnesha in der Familie – und will deshalb mit ihrer Doku "Wo/men" zeigen, wie vielfältig sie die jahrhundertealte Tradition bis heute leben.

Kristine Nrecaj (l,) mit Co-Regisseurin Birthe Templin (r.) und Marta, der ältesten Burrnesha aus ihrem Film "Wo/men" (Bild: Filmkantine / Alfred Nrecaj)
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11. Mai 2025, 17:06h 8 Min.
Als Mädchen geboren, aber zum Mann gemacht: In ländlichen Gegenden Albaniens haben jahrhundertelang einzelne Mädchen und Frauen – oder deren Eltern – entschieden, dass sie die soziale Rolle von Männern annehmen. Sie heißen Burrnesha: Das albanische Wort für Mann, aber mit femininer Endung.
Die Tradition hat bis heute überlebt, auch wenn es immer weniger Burrneshas gibt. Die Filmemacherinnen Kristine Nrecaj und Birthe Templin haben jahrelang an einer Dokumentation über sie gearbeitet. Jetzt kommt "Wo/men" ins Kino (Filmkritik auf queer.de).
Kristine Nrecaj hat sich Zeit genommen, um mit queer.de über den Film zu sprechen.

Poster zum Film: Die Doku "Wo/men" startet am 15. Mai 2025 im Kino
Kristine, deine Dokumentation "Wo/men" war für dich eine Herzensangelegenheit. Inwiefern?
Das hatte mehrere Gründe. Meine Eltern stammen aus dem Kosovo und sind Anfang der 1970er Jahre nach Deutschland ausgewandert. Jeden Sommer waren wir im Kosovo. Ich hatte eine Großtante, die eine Burrnesha war. Ich bin also mit diesem Begriff aufgewachsen, ohne genau zu wissen, was er bedeutet, aber ich spürte immer, dass damit etwas Starkes, etwas Besonderes verbunden war. Das wollte ich besser verstehen.
Gleichzeitig war es für mich als Kind prägend, dass kaum jemand den Kosovo oder Albanien kannte – alles wurde unter dem Begriff Jugoslawien zusammengefasst. Ich hatte das Gefühl, kein klares Herkunftsland zu haben, und mir fehlte ein Teil meiner Identität. Deshalb bin ich immer wieder zurückgekehrt – ich wollte die Geschichten von dort nach Deutschland bringen und diese zwei Seiten in mir verbinden. Das ist für mich eine Art Lebensmission: beide Welten zusammenzubringen.
Wann hast du denn so richtig verstanden, was genau eine Burrnesha ist?
Meine Mutter hat oft davon erzählt. Mein Großvater kam aus der Region Mirdita, einer katholischen Bergregion Albaniens. Seine Schwester – meine Großtante – war eine Burrnesha. Sie wollte nicht heiraten, sondern bei ihrer Familie bleiben. In Albanien verlässt man die Familie sehr jung, damals meist mit 15 oder 16, wenn man heiratet – das kann sehr traumatisch sein. Für viele Frauen bedeutet das Schmerz: Man wird aus dem vertrauten Umfeld gerissen, kennt den Ehemann nicht, lebt in einem fremden Haus. Auch meine Eltern kannten sich vor der Hochzeit nicht.
Es war etwas Besonderes, eine Burrnesha in der Familie zu haben. Es bedeutet großen Verzicht – eine Frau, die sich entscheidet, für ihre Herkunftsfamilie auf eine eigene Familie zu verzichten. Als ich begann, intensiver zu recherchieren und mit Burrneshas zu arbeiten, habe ich viel tiefer verstanden, was dahintersteckt. Und dass viele Frauen in westlichen Gesellschaften auch Burrneshas sind – ohne dass sie auf eine Familie verzichten müssen.
Wie meinst du das?
Ich meine Frauen, die alles wuppen, die Verantwortung übernehmen für die Familie, die Geld verdienen, die sich aber auch gleichzeitig um die Kinder kümmern, die ihren Mann stehen in der Öffentlichkeit. Oder gerade Frauen, die ihre weibliche Seite in der Öffentlichkeit unterdrücken müssen, weil sie in großen Firmen, Vorständen sitzen und alles, was weiblich ist, belächelt wird, und das unterdrücken müssen. Und wenn ich in meinem patriarchalen Umfeld Respekt und Status will, unterdrücke ich meine Weiblichkeit. Ich glaube, das machen viele Frauen, auch um im öffentlichen Raum keine Angriffsfläche zu sein. Aber wir kommen aus Mutter und Vater, aus weiblich und männlich, und wenn wir einen Teil negieren, dann kostet das sehr viel Kraft. Und alles, was weiblich ist, wird dem Männlichen unterstellt. Das verdeutlichen die Burrneshas sehr.
Burrneshas faszinieren, weil sie überhaupt nicht in unsere westlichen Genderkonzepte reinpassen. Wie schwer ist es dir und deiner Co-Regisseurin Birte Templin gefallen, das zu übersetzen – ganz wörtlich, was zum Beispiel Pronomen angeht, aber auch im übertragenen Sinn, damit es ein westliches Publikum versteht?
Für die Burrneshas selbst war das überhaupt kein Thema. Sie machen sich keine Gedanken darüber, ob man "sie" oder "er" sagt. Wir haben sie weiblich angesprochen, denn sie sehen sich auch biologisch als Frauen. Ihr Habitus und ihre soziale Rolle sind aber männlich konnotiert. Nur Bedrie fand es spannend, wenn Menschen dachten, sie sei ein Mann, und sie mit "er" ansprachen.
Wir haben bewusst nichts auf sie projiziert. Es ging uns darum, ihre Realität zu zeigen – nicht unsere Konzepte über sie zu stülpen.

Der Dokumentarfilm "Wo/men" von Kristine Nrecaj und Birthe Templin erzählt die Geschichte von sechs Burrneshas, die sich aus unterschiedlichen Gründen entschlossen haben, die soziale Rolle von Männern zu übernehmen (Bild: missingFILMs)
Denn mit Trans haben Burrneshas nichts zu tun, oder? Burrnesha zu sein, ist selbstgewählt, oder?
Es gibt unterschiedliche Gründe. Manchmal entscheidet sich das Mädchen selbst für diesen Weg. Manchmal treffen die Eltern die Entscheidung – sogar vor der Geburt, wie bei Diana: "Egal was kommt, es wird als Junge großgezogen."
Bei Sanie war es der Vater, der sie zu dieser Rolle hin erzogen hat. Sie bedauert heute, keine eigenen Kinder zu haben. Nur Bedrie sagt, sie hat sich von klein auf mehr als Junge gefühlt und wollte mehr mit den Jungs sein. Da gibt es Interpretationsspielraum, und wir wollten das bewusst offenlassen. Ich denke, sie würde es nicht mögen, wenn man ihre Geschichte auf eine Aussage reduziert.
Eure Dokumentation zeigt, anders als andere fiktionale oder dokumentarische Filme davor, wie vielfältig Burrneshas sind, und dass es ein vielfältiges Konzept ist, das viel größer ist als das, was wir unter Mann und Frau verstehen.
Das ist auch die Erfahrung, die ich selbst gemacht habe: Im Gespräch mit den Burrneshas habe ich mich oft gefragt, was jetzt mehr weiblich, was mehr männlich ist. Irgendwann habe ich verstanden, dass mein Verstand ständig versucht hat, sie einzuordnen. Wir sind so trainiert, dass wir versuchen, Menschen in Boxen zu packen, vor allem wenn es um Geschlecht geht. Irgendwann habe ich gemerkt: Wenn ich das jetzt weiter mache, dann verpasse ich den Menschen, der vor mir sitzt, und ich lerne den Menschen gar nicht richtig kennen. Da hatte ich dann einen Aha-Moment: Dass wir mit unserem Verstand gar nicht fassen können, was es eigentlich ist.
Es gab ab etwa 2008 einen Medienhype um die Burrneshas. Inwieweit war euch das bewusst und wodurch wolltet ihr euch davon ganz bewusst abgrenzen?
Wir haben vor zehn Jahren mit der Recherche angefangen. Es gab Filme wie "Sworn Virgins" von 2015 und Beiträge in vielen Magazinen. Aber egal, was ich über die Burrneshas gesehen und gelesen habe, wurde dem aus meiner Sicht nicht gerecht. Einen Artikel in "Cicero" fand ich nicht schlecht. Und das Buch "Women Who Become Men" der Anthropologin Antonia Young, die wirklich lange bei den Burrneshas war, wird ihnen gerecht. Mir war also wichtig, dass sich die Burrneshas zeigen können. Denn es gab in der Vergangenheit viele Enttäuschungen: dass ausländische Medien sie belogen haben, dass ihre Beiträge verfälscht wurden, dass irgendetwas erfunden wurde oder dass sie dann eine versprochene Aufwandsbeschädigung nicht bekommen haben. Deshalb war ganz wichtig, dass wir transparent sind und den Burrneshas erklären, was wir gerade machen und dass sie am Ende das Ergebnis zu sehen bekommen. Ich habe ihnen mein Wort gegeben – das Ehrenwort ist in Albanien das wichtigste. Und dann haben sie mir vertraut und wir sind gemeinsam diesen Weg gegangen. Wir sind auch immer noch in Kontakt miteinander.
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Hättest du diesen Film machen können, wenn du kein Albanisch sprichst?
Der Film wäre auf gar keinen Fall so geworden, wie er jetzt ist. Für Albaner bist du ein Teil der Familie, wenn du Albaner bist. Dass ich einen ähnlichen Dialekt spreche, hat mir geholfen, diese Nähe aufzubauen. Mein Bruder hat die Kamera gemacht, und wenn Schwester und Bruder zusammenarbeiten, ist das immer ein gutes Zeichen. Und er hat verstanden, was gerade passiert, er konnte den geschützten Raum als Kameramann mittragen.
Immer wieder rufen Medien aus, dass Burrneshas aussterben. Ist das wirklich so?
In den ländlichen Gegenden ist schon noch sehr traditionell in Albanien. Da ist als Mädchen das oberste Ziel zu heiraten und eine Familie zu gründen. In den Städten ist jedes zweite Geschäft ein Brautmodenladen und im Sommer finden überall Hochzeiten statt, das ist total crazy. Ich kann mir vorstellen, dass es gerade in den ländlichen Gegenden Mädchen gibt, die sagen, dass sie mit einem Mann nichts anfangen können und nicht heiraten wollen – und die bei ihren Eltern bleiben um als Burrnesha zu leben, aber weniger in der ganz traditionellen Hinsicht, um die Familie zu erhalten. Aber auch Albanien öffnet sich. Es gibt eine LGBT-Community in Albanien und auch in Prishtina.
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Du hast den Film gemeinsam mit der Filmemacherin Birthe Templin realisiert. Wie habt ihr zueinander gefunden?
Birthe hatte eine Fotoausstellung über Burrneshas gesehen und war total fasziniert. Eine gemeinsame Freundin hat uns dann miteinander verbunden, weil ich gerade an einem Drehbuch über Burrneshas gearbeitet habe. Wir haben schnell gemerkt, dass wir begeistert sind. Wir sind dann auf eigene Kosten nach Albanien gereist. Unsere Kinder waren in der Zeit in der Kita, jetzt sind sie Teenager. (lacht) Das Projekt ist ganz organisch gewachsen. Aber uns war natürlich nicht bewusst, dass es so lange dauert. Wir haben anfangs so viele Absagen bekommen, bis wir einen Trailer finanzieren konnten. In der Zeit gab es auch immer mehr Bewusstsein dafür, dass es weibliche Perspektiven auf der Leinwand braucht, das hat uns als Frauenteam Rückenwind gegeben, denn mit Katrin Springer hatten wir auch eine Frau als Produzentin. Aber wir hatten immer auch eine gewisse Naivität. Aber die braucht man manchmal auch, sonst macht man gewisse Dinge nicht. Und ich muss auch sagen, dass ich die Zeit brauchte, um der Mensch zu werden, der benötigt wird, um diesen Film zu machen.
Nach der langen Zeit ist das Thema aber für dich noch nicht abgeschlossen.
Ich habe wieder angeknüpft an meine ursprüngliche Idee und überarbeite das Drehbuch über eine Burrnesha, genannt Besa, die aufgrund einer Blutsfehde als Mann lebt. Im Film geht es um Vergebung und darum, sich von einschränkenden Gedanken freizumachen. Ich habe eine Produktionsfirma gefunden und will das Drehbuch im Herbst beenden, nächstes Jahr mit den Castings anfangen und wahrscheinlich 2028 drehen.
Wo/men. Dokumentarfilm. Deutschland 2024. Regie: Kristine Nrecaj, Birthe Templin. Mitwirkende: Marta Vorfi, Sanie Vatoci, Bedrie Brahim Gosturani, Diana Rakipi, Valerjana Grishaj, Gjystina Grishaj. Laufzeit: 84 Minuten. Sprache: albanische Originalfassung mit deutschen Untertiteln. FSK 0. Verleih: missingFILMs. Kinostart: 15. Mai 2025. Zuvor gibt es bereits einige Previews
Links zum Thema:
» Alle Kinotermine auf der Homepage von missingFILMs
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