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Oper
Blut, Sperma, Tränen: 125 Jahre "Tosca"
Seit ihrer Premiere im Jahr 1900 übt die Titelheldin aus Giacomo Puccinis Oper "Tosca" eine besondere Anziehung auf eine schwulen Fangemeinde aus. Was macht den spezifisch queeren Reiz des Musikdramas aus?

Inbegriff einer Dramaqueen: Olga Cheremnykh als Floria Tosca am Zazerkalie-Theater in Sankt Petersburg (Bild: IMAGO / SNA)
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24. Mai 2025, 04:23h 7 Min.
In diesem Jahr feiert die Oper "Tosca" von Giacomo Puccini ihr 125-jährige Jubiläum: ein musikalisches Drama um Liebe, Macht und Missbrauch. Am 14. Januar 1900 fand im Teatro Costanzi in Rom die Uraufführung statt. Die Oper zählt heute weltweit zum festen Bestandteil des Repertoires – wofür nicht zuletzt die Leidenschaft schwuler Männer beigetragen hat. Vor allem die für die Titelheldin Floria Tosca vorgesehene Arie "Vissi d'arte, vissi d'amore" – beginnend mit den Worten: "Ich lebte für die Kunst, lebte für die Liebe" – trifft auch heute noch viele queere Opernfans wie ein Pfeil ins Herz.
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Eine Chorfassung hat der Portland Gay Men's Chorus, einer der weltweit größten und ältesten schwulen Chöre, seit 2016 in seinem Repertoire. Und auch wenn die Titelrolle an den großen Opernhäusern bislang noch nicht von einem Mann besetzt wurde, haben sich zumindest ein paar queere Countertenöre daran in konzertanten Auftritten versucht. Dazu zählt etwa der Japaner Tomotaka Okamoto, dessen Performance mit dem epochalen Auftritt von Maria Callas aus dem Jahr 1964 zumindest hinsichtlich der Kostümierung mithalten kann: Okamoto ist dabei in ein wallend weißes Gewand gehüllt, das zweifellos über musealen Charakter verfügt.
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Beachtung verdient auch der legendäre Auftritt des Countertenors Lionel Stoffel im Brüssler Palais des Beaux-Arts von 2013, der viele Menschen begeisterte. Und für den diesjährigen ESC-Sieger Johannes "JJ" Pietsch, der bislang an der Wiener Staatsoper eher in kleinen Nebenrollen Rollen glänzte, würde einem aktuellen Bericht zufolge mit einer Besetzung als Floria Tosca ein Traum in Erfüllung gehen.
Zu den bekanntesten schwulen Fans von "Tosca" zählt der "Mayor of Castro Street" Harvey Milk. Am Abend vor seiner homophob motivierten Ermordung am 27. November 1978 nahm Harvey Milk an einer Vorstellung der San Francisco Opera teil. Als der Regisseur Gus van Sant im Jahr 2008 die Geschichte verfilmte, bestimmte er gleich vier Arien und Ensemblestücke aus Tosca zum Soundtrack von Milks Leben. Dabei spielte gewiss nicht nur die authentische Opernbegeisterung Milks eine Rolle, sondern auch die Metaphorik und das Angebot an schwulen Identifikationsmerkmalen, die sich aus dem Schicksal der Titelheldin Floria Tosca ergeben, wie etwa die Erfahrung mit staatlicher Willkür und Gewalt. Das Kämpferische und das Gebrochene, beides ganz nah beieinander liegend. Sehnsucht, Liebesglut, Tragik. All das spiegelt sich nicht nur in der Opernhandlung wieder, sondern auch in den musikalischen Kontrasten, die dem Zuhörer extreme Ausprägungen an Emotionalität und rasche Stimmungsumschwünge signalisieren.
Emotionale Achterbahnfahrt

Originalplakat von Adolfo Hohenstein zur Uraufführung von "Tosca" (Bild: Adolfo Hohenstein / wikipedia)
Nicht zuletzt deswegen gerät man bei "Tosca" nur allzu leicht in Gefahr, in die Homo-Klischeefalle zu tappen. Doch nicht bei jedem schwulen Opernfan rangiert das bisweilen unter Kitschverdacht stehende Puccini-Werk ganz oben auf der Favoritenliste. So dürfte Benjamin Britten etwa zu jenen zählen, die sich von Tosca zwar auch berührt fühlten, jedoch eher auf unangenehme Art: Er hat Puccini verabscheut und klagte über dessen Effekthaschereien. Britten zieht zwar in einem Interview zur Begründung ein anderes Werk als Beispiel heran, nämlich La Bohème, doch das von Britten getadelte unmittelbare Erzeugen von Emotionen ist ein fast durchgängiges Merkmal in Puccini-Opern. In "Tosca" wird diese musikdramaturgische Methodik sogar noch auf die Spitze getrieben.
Mit seiner kritischen Haltung steht Britten beileibe nicht alleine da. Über die emotionale Achterbahnfahrt, die Puccini seinem Publikum mit "Tosca" zumutet, ist immer mal wieder gelästert worden. Obgleich die Oper in ihrer stilistischen Ausrichtung die Abbildung von Realität auf der Bühne anstrebt, wurde das Werk von der Kritik schlichtweg als unglaubwürdig bezeichnet.
Schnittstelle zwischen Kitsch und Kunst
Doch just mit diesem Einwand gewinnt die Oper wiederum unter einem ganz anderen Blickwinkel an Bedeutung. Sie bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Kitsch und Kunst und öffnet damit die Tür zur Camp-Ästhetik – der halbironischen Wahrnehmung mit besonderer Faszination für Übertreibung und Hysterie, für Grenzerfahrungen und Queerness, die fest in der schwulen Subkultur des 20. Jahrhunderts wurzelt. Aus dieser Perspektive braucht man die Identifikationsmerkmale in "Tosca" freilich nicht ganz so ernst nehmen, wie sie dramaturgisch daherkommen. Das Paradoxe dabei ist: Man kann sie dennoch genießen.
Nimmt man die Titelheldin Floria Tosca genauer unter die Lupe, entdeckt man bereits ganz am Anfang, dass sie der Inbegriff einer Dramaqueen ist. Ist es doch ein besonderer Clou dieses Werkes, dass bei einer Tosca-Aufführung zwangsläufig eine echte Opernsängerin die Figur einer fiktiven Opernsängerin verkörpert. Ein Spiel mit der Vermischung von Realität und Fiktion, das sich in der Handlung fortsetzt, denn zeigt sich doch gleich bei ihrem ersten Auftritt, dass Tosca nicht immer genau zwischen Bühnengeschehen und echtem Leben zu unterscheiden weiß. Ohne erkennbaren Anlass wird die Titelheldin von Gefühlen regelrecht überwältigt. Tosca entfaltet vor ihrem Geliebten Mario Cavaradossi ein geradezu neurotisches Hirngespinst.
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Volle Blut-Sperma-Tränen-Dröhnung

"Tosca"-Inszenierung bei den Opernfestspielen St. Margarethen 2015 mit Martina Serafin in der Titelpartie (Bild: Christian Michelides / wikipedia)
Zunächst beschwört sie in leuchtenden Farben das gemeinsame Liebesnest im Grünen. Sie vergewissert sich ihrer Leidenschaft, in dem sie die Sterne anfleht und sich selbst dabei in die dritte Person versetzt: "Ach, ihr tausend Sterne am Himmelszelt, blickt auf Toscas heiße Liebe herab!" Gleich darauf erlebt sie einen abrupten Stimmungsumschwung. Rasch aufkeimendes Misstrauen mündet in Eifersuchtswahn. Wohlgemerkt, dies alles aus nichtigem Anlass. Dabei stehen ihr die eigentlichen Katastrophen, die sie gerade durch ihre Eifersucht mit heraufbeschwört, erst noch bevor.
Es ist die volle Blut-Sperma-Tränen-Dröhnung, der das Publikum ausgesetzt wird. Sexuelle Erpressung und Folter, Totschlag sowie heimtückischer Mord. Und schließlich der spektakuläre Suizid Toscas als Sprung von der Engelsburg, der in früheren Inszenierungen schon hier und da zu einer peinlichen Panne geführt hat, weil die bühnentechnische Abfederung des Auffangnetzes mit dem realen Gewicht der Primadonna nicht korrekt abgestimmt war.
Der Ursprung aller Hysterie
Besonders ambivalente Gefühle jedoch dürfte das Verhältnis zwischen Tosca und dem skrupellosen Polizeichef Scarpia hervorrufen, der sie sexuell begehrt und ihr ein Angebot macht, das sie kaum abschlagen kann. Verspricht er ihr doch im Gegenzug, die Folter an ihrem Geliebten einzustellen und ihn vor der Hinrichtung zu bewahren. Es ist eine grausame Scheinwahl, vor die Tosca gestellt wird – eine geradewegs archetypische Situation, die man als Ursprung aller Hysterie bezeichnen darf. Es mag auf das Publikum verstörend wirken, dass der sadistische Scarpia mit seinem Gesang eine derart zwiespältige erotische Faszination entfaltet. Wenn er seine phallisch-machtdemonstrative Arie "Te deum" mit einem entsprechend donnernden Bariton vorträgt, dürfte dies keinen Hormonhaushalt unberührt lassen.
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Welch Kontrast dagegen das Mitgefühl, das Toscas verurteilter Liebhaber erweckt, wenn er in seiner Todeszellen-Arie der gemeinsamen schönen Zeit mit Tosca gedenkt: "Und es funkeln die Sterne" – "E lucevan le stelle"! Neben "Vissi d'Arte" zählt dieser Moment zu den ergreifendsten, mit denen das Hörempfinden im Laufe der nervenzermürbenden Handlung nicht allzu häufig verwöhnt wird. Lehnt man sich dann mal entspannt zurück, sorgt schon bald darauf das Orchester mit der nächsten aufpeitschenden, allerdings sehr differenzierten Dynamik für die entsprechende Spannung, die einem Opernthriller gebührt.
Eine der weltweit meistgespielten Opern
"Tosca" gehört unstreitig zum festen Bestandteil des weltweiten Opernrepertoires. Den Erfolg ihrer literarischen Vorlage – Victorien Sardous La Tosca aus dem Jahr 1887 – hat die Oper bereits nach wenigen Jahren überflügelt. Dabei war das Drama längst vor seiner Vertonung durch Puccini ein absoluter Kassenschlager an Europas Schauspielhäusern und fand auch schon zu seiner Zeit ein homosexuelles Publikum. In der Titelrolle: der damalige Weltstar Sarah Bernhardt, eine der frühen modernen Schwulenikonen. Die Muse von Oscar Wilde wurde u.a. in Mailand für ihre Darbietung gefeiert, wo im Jahr 1890 der Komponist einer Aufführung beiwohnte. Bis Puccini jedoch die Rechte an "Tosca" erwarb, ein stark verdichtetes Libretto vorlag und die Komposition schließlich vollendet wurde, vergingen weitere neun Jahre. Zwar wurde die Uraufführung im Jahr 1900 noch von politischen Unruhen überschattet, doch nicht lange danach begann der Triumphzug. Inzwischen zählt die Oper zu den fünf meistgespielten auf der ganzen Welt.
Noch in diesem Jahr ist sie allein in Deutschland in über zwanzig Vorstellungen an Opernhäusern in Hamburg, München, Frankfurt und Berlin zu sehen. Und zunehmend wird die überbordende Emotionalität von der Regie als Schlüssel genutzt, um überlieferte Rollenbilder in Frage zu stellen – was dem Blick auf die Dramaqueen von einst eine überraschend zeitgenössische Tiefenschärfe verleiht.
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