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Ästhetik und Eigensinn

Wie Exzentrik unsere Gesellschaft vorantreibt

Die TV-Doku "Exzentrik – Die Kunst der Andersartigkeit" rückt Persönlichkeiten ins Licht, die sich bewusst gegen den ästhetischen Mainstream stellen. Viele von ihnen sind queer – und weit mehr als nur bunt: Sie erfüllen eine bedeutsame soziale Funktion.


Performance als Lebensmodell: Eva und Adele (Bild: BR / © BR/Graef Screen Productions/Nicola Graef)

Die Köpfe kahl geschoren, immer perfekt gestylt, beide stets identisch kostümiert: Das gemeinsame Leben des queeren Berliner Künstlerpaars Eva und Adele, die sich selbst als "Hermaphroditen-Zwillinge aus der Zukunft" bezeichneten, war über mehr als dreißig Jahre hinweg ein einziges Kunstwerk – bis Eva kürzlich verstarb. Auf unzähligen Kulturevents, bei denen sie sich stets in den schillerndsten Gewändern und Make-Up-Kreationen präsentierten, verlief mitunter auch ihre Körpersprache synchron.

Seit 1991 arbeiteten die beiden an ihrem Projekt "Eva und Adele", hinter dem sie als Individuen vollständig verschwanden. Über ihr Vorleben oder ihre Herkunft bewahrten sie Stillschweigen. Doch in der aktuellen TV-Dokumentation "Exzentrik – Die Kunst der Andersartigkeit", die noch bis April 2028 in der Arte-Mediathek verfügbar ist, gewähren sie einen etwas tieferen Einblick.

Schon bevor sie sich kennenlernten, waren beide von einem Bedürfnis getrieben, die sozialen, kulturellen und normativen Grenzen zwischen den Geschlechtern zu überschreiten. "Ich habe mich schon immer auf die Rolle meines Lebens vorbereitet", sagt Eva." In meiner Kindheit hat es begonnen, weil meine Mutter so eine fantastische Garderobe gehabt hat. Und wenn sie außer Haus war, hab ich die durchprobiert." Adele hingegen war in der Punkbewegung unterwegs: "Als wir uns näher kamen, hat die Eva zu mir gesagt, mein größter Wunsch wäre immer, als Dame zu leben. Da sagte ich: Ja, mach es einfach!"

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Lächeln als Waffe und Demonstration des Andersseins

Das war der Ausgangspunkt des gemeinsamen künstlerischen Lebenswegs, bei dem Eva und Adele schnell klar wurde: Wir sind geradewegs dazu verpflichtet, diese Grenzüberschreitung sichtbar zu machen. Dafür brauchte es jedoch eine Menge Mut, selbst in einer Metropole wie Berlin – zumal die breite Öffentlichkeit vor dreißig Jahren erst begann, selbstbestimmte sexuelle Identität wahrzunehmen.

Dabei geht es Eva und Adele vordergründig nicht um Provokation. Doch als solche wird mitunter ihre bloße Existenz empfunden. "Im ungeschützten Raum der Straße haben wir gelernt, extrem wachsam zu sein", berichtet Adele. "Die Gefahr war permanent da." Manchmal mussten sie die Straßenseite wechseln, weil sie sich bedroht fühlten. "Da haben wir unser Lächeln entdeckt", sagt Eva. "Seither lächeln wir mit voller Kraft der Menschheit entgegen."

Das Lächeln als Waffe und als Demonstration des Andersseins – es wurde zum festen Bestandteil ihrer Performance und hat sie in manch heikler Situationen gerettet. Zur Kunst von Eva und Adele gehört auch der ihnen innewohnende Mut, der seit jeher ihr Publikum dazu ermuntert, die eigenen Grenzen auszuloten.

Hässlichkeit durch Schönheitschirurgie

Mutig und entschlossen tritt auch Orlan auf, eine der radikalsten und exzentrischsten Persönlichkeiten der französischen Kunstszene. Auch sie erfährt in dem Dokumentarfilm eine angemessene Würdigung. Orlan erlangte Berühmtheit, indem sie ihr eigenes Gesicht verändern ließ: "Ich habe die Schönheitschirurgie benutzt, aber nicht, um durch die Operation Schönheit zu erreichen: Ich wollte Monstrosität, Horror und Hässlichkeit hervorrufen – zumindest das, was die Gesellschaft als solches bezeichnet."


Die französische Künstlerin Orlan sagt: "Als exzentrisch wahrgenommen zu werden, gibt mir bis heute die Freiheit, mich immer wieder neu zu erfinden." (Bild: BR / © BR/Graef Screen Productions/Nicola Graef)

Dafür ließ sich Orlan Implantate einsetzen, die normalerweise auf den Wangenknochen platziert werden. "Ich habe sie also verschoben, eine winzige Verschiebung auf beiden Seiten der Stirn, an den Schläfen, wodurch zwei Erhebungen entstehen, die wirklich nicht für Schönheit sorgen sollen." Erstaunlicherweise fand sich aber ein Publikum, das genau daran Gefallen fand. "Es hat genauso funktioniert wie bei den Impressionisten, bei denen man gesagt hat, dass sie absolut schreckliche Sachen machen, dass es so schlimm ist, dass, wenn eine Frau schwanger ist und sich diese Kunst ansieht, sie sofort gebären müsse; dass Van Gogh nicht malen könne, und dass das schlechte Kunst sei.Und dann, einige Zeit später, findet man die Motive auf Schokoladenschachteln – und sie verkaufen sich sehr, sehr teuer. Ich hoffe, dass mir das auch passieren wird." Durch ihre Beschäftigung mit Themen wie Identität, Geschlecht, Körper und gesellschaftlichen Normen wurde sie zu einer wichtigen Figur feministischer und queerer Diskurse.

Widerstand gegen das Mittelmaß

Das Konzept der exzentrischen Künstlerpersönlichkeit hat eine lange Tradition in der westlichen Kultur – und ist seit jeher mit Queerness verbunden. Dionysos, der sich gerne in Leopardenfell hüllte und eine Vorliebe für Cross-Dressing pflegte, darf man so gesehen als Vorbild aus der griechischen Mythologie betrachten. In der Renaissance galt Leonardo da Vinci zweifellos als Exzentriker – wagte er es doch, grundsätzlich alles zu hinterfragen und wurde als Linkshänder, Vegetarier und Schwuler zum Außenseiter. Allerdings trug sein ungewöhnliches Denken und Verhalten dazu bei, dass sich die Gesellschaft gravierend veränderte.

Indes: eine umfängliche Kulturgeschichte queerer Exzentrik, die so tief in der Geschichte wurzelt, wird in der Arte-Dokumentation nicht erzählt. Diese beginnt hier erst mit dem Ende des 19. Jahrhunderts, als Oscar Wilde "mit seinem extravaganten Kleidungsstil, seiner manierierten Art, seiner spitzen Zunge" und seiner Homosexualität die Gesellschaft seiner Zeit herausfordert. Ästhetik und Geistesgröße galten ihm als höchstes Gut: als Widerstand gegen das Mittelmaß und die Spießigkeit des Viktorianismus. Auch einer von Wildes Aphorismen, deretwegen er berühmt wurde, wird zitiert: "Ich bin gern der einzige, der redet, das erspart Zeit und verhindert Streitereien."

Zum Glück lässt die TV-Dokumentation eine Vielzahl von Stimmen zu Wort kommen, wie etwa Bernhart Schwenk, den Sammlungsleiter der Münchner Pinakothek der Moderne: "Alles was Exzentriker anstoßen, wird aufgenommen und weiterverarbeitet." Mit einem gewissen zeitlichen Abstand werden ihre Eigenheiten sogar als gesellschaftlich wertvoll betrachtet. " Eine Welt ohne Exzentrik wäre genauso nutz- und fruchtlos und so wenig überlebensfähig wie eine Welt ohne Kunst", sagt Schwenk. Denn jede Gesellschaft richtet sich irgendwann ein und neigt zu Verkrustungen. "Sie wird stabiler, aber auch starrer. Deswegen sind diese Auswege und Ausflüchte wichtig. Und diese werden sehr häufig von exzentrischen Persönlichkeiten angetrieben."

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Die Mischwesen von Patricia Piccinini

Genannt werden in diesem Zusammenhang auch Andy Warhol oder das schwule Künstlerpaar Gilbert und George. Die Kunstkritikerin Eva Karcher weist darauf hin, dass das Outfit und das Auftreten nicht nur spleenige Äußerlichkeiten sind, sondern zur Identität der Persönlichkeiten gehören. Und das habe mit rationalen Entscheidungen zu tun, "weil man nachdenkt über Normen und Strukturen und Hierarchien und Machtverhältnisse."

Zu den verstörendsten und zugleich berührendsten Kunstwerken, die in dieser durchweg sehenswerten Dokumentation gezeigt werden, zählen die Mischwesen von Patricia Piccinini: hyperrealistische Hybride, die traditionelle Kategorien des Menschlichen, Animalischen und Künstlichen herausfordern und damit einerseits Abwehr, andererseits aber auch Mitgefühl auslösen. Vergleichbares hat man in der Kunst bislang noch nicht gesehen.

"Ich gestalte Skulpturen, die fremd erscheinen und man neigt dazu, sie wegzustoßen", so Piccinini. "Aber wir können in ihnen eine Verbindung sehen, die für unser Leben wichtig ist. Manchmal braucht es Veränderung, und dann müssen wir uns damit konfrontieren, wer wir sind und wie wir die Welt sehen – und wo wir die Grenzen ziehen zwischen uns und dem Rest der Welt."

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