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Kommentar

Der § 175 und das deutsche Gedächtnis der Ausgrenzung

Heute vor 31 Jahren – am 11. Juni 1994 – wurde der "Homosexuellen-Paragraf" endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Der § 175 ist zwar Geschichte – aber kein abgeschlossenes Kapitel.


Protestschild beim CSD Erfurt 2024: "§ 175? Nie wieder ist jetzt!" (Bild: IMAGO / Müller-Stauffenberg)

Gesetze sind kein Stein, aus dem man Gesellschaft meißelt. Sie sind Spiegel. Und der § 175 war ein trüber Spiegel: über hundert Jahre lang zeigte er ein Deutschland, das Angst vor "dem Anderen" hatte – und vor dem eigenen Begehren und der Liebe.

Der Paragraf 175 stellte männliche Homosexualität unter Strafe, von 1871 bis 1994. Er überdauerte Monarchie, Republik, Diktatur und Demokratie. Er war elastisch – verschärft, reformiert, verdrängt. Aber er blieb. Und das sagt mehr über Deutschland aus als mancher Leitartikel über liberale Ordnung.

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Seismograf gesellschaftlicher Verunsicherung

Der § 175 war nicht nur ein Strafgesetz. Er war ein Seismograf gesellschaftlicher Verunsicherung. Er kriminalisierte nicht nur Taten, sondern Existenzen. Die Vorstellung, dass Liebe etwas Ordnungsstörendes sei, hat über Generationen hinweg Recht und Moral verbunden – gegen das Leben.

In den Jahren der Weimarer Republik war kurz eine andere Zukunft sichtbar: Magnus Hirschfeld sprach von Zwischenstufen, von einem "Dritten Geschlecht", von der Vielfalt des Begehrens. Sein Institut für Sexualwissenschaft war Zuflucht, Labor, Archiv – und wurde 1933 vernichtet.

Eine Geschichte des Schweigens

Die Geschichte danach ist nicht nur die Geschichte der Verfolgung, sondern auch des Schweigens. Der Bundesrepublik, die den Paragrafen übernahm. Der Justiz, die weiter verurteilte. Der Gesellschaft, die schwieg.

Dann, langsam, ein Bruch: Christopher Street Day, Herbert Rusche im Bundestag, die Kießling-Affäre. Öffentlichkeit. Irritation. Diskussion. Abschaffung.

Der § 175 ist ein Prüfstein

Ein Land kann sich wandeln. Aber es braucht den Mut, sich seiner Schatten zu erinnern. Der § 175 ist Geschichte. Aber er ist kein abgeschlossenes Kapitel. Er ist ein Prüfstein – für unser Verhältnis zur Freiheit, zur Körperlichkeit, zur Pluralität.

Das Recht auf Differenz war nie selbstverständlich. Es wurde erlitten, erkämpft, erzwungen. Vielleicht sollten wir das öfter erzählen – nicht, um uns schlecht zu fühlen. Sondern damit wir verstehen, dass Demokratie nicht durch Mehrheiten lebt, sondern durch die Anerkennung der Abweichung.

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