https://queer.de/?54642
Teil 3 von 5
Un-Sichtbarkeit von LSBTI* in der Kunst: 20. Jahrhundert – bis Stonewall
Wir begleiten die Ausstellung "Wish you were queer. Un-Sichtbarkeit von LSBTI* in Kunst und Geschichte" im Museum im Prediger in Schwäbisch Gmünd mit einer Artikelserie und stellen Kunstwerke verschiedener Epochen exemplarisch vor.
- Von Martin Weinzettl-Pozsgai
9. August 2025, 05:22h 8 Min.
In der Kunst wurden Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche sowie ihre Lebenswelten durch die Jahrhunderte nur mit einem außerordentlich stark schwankenden Grad an bildlicher Präsenz und Sichtbarkeit dargestellt. Abhängig von Moralvorstellungen, abhängig von strafrechtlicher Verfolgung und Zensur, abhängig aber auch vom Zielpublikum der Kunst, also für wen sie geschaffen wurde, schwankte das Eindeutige des Dargestellten ganz wesentlich. Der Zwang zu Heimlichkeit, Selbstverleugnung und Verstecken brachte es mit sich, dass "Beweise" auch bildlicher Art entweder vernichtet oder in Codes und bewusst konstruierte Deutungsmuster verpackt wurden. In der Kunst früherer Jahrhunderte ist es also nötig, die bildkünstlerischen Objekte zu dechiffrieren, ihre Zeichen innerhalb der Bildkompositionen zu interpretieren.
Noch bis zum 26. Oktober 2025 nimmt die Ausstellung "Wish you were queer. Un-Sichtbarkeit von LSBTI* in Kunst und Geschichte" im Museum im Prediger, Schwäbisch Gmünd, das Selbstbild, die Wahrnehmung und die Lebenswelten von LSBTI* in den Blick. Dies ist der Anlass, die Entwicklung der Un-Sichtbarkeit von LSBTI* in der Kunst unter Einbezug von Hauptwerken der Schau in einer Artikelserie zu schildern. Anhand einer exemplarischen Besprechung von vier bis sechs Kunstwerken entlang der historischen Epochen ergibt sich ein Überblick über den chronologischen Ablauf durch die Jahrhunderte.
Christian Schad, "Bürger-Casino" für den "Führer durch das lasterhafte Berlin"

Christian Schad, Vorzeichnung für die Illustration "Bürger-Casino" im "Führer durch das lasterhafte Berlin", 1930 (Stadtmuseum Berlin, © VG Bild-Kunst Bonn, 2025)
Die Zeichnung war die Vorlage für eine von zehn Illustrationen, die der berühmte Künstler der Neuen Sachlichkeit, Christian Schad, für das 1931 erschienene Büchlein "Führer durch das lasterhafte Berlin" von Curt Moreck schuf. Sie zeigt einen Blick in das "Bürger-Casino", ein seit 1925 bestehendes Homosexuellenlokal in der Berliner Friedrichstraße.
Im Vordergrund schmiegt sich ein männliches Paar aneinander, in den Separées finden sich weitere Lokalbesucher. Die Innenarchitektur ist durch hölzerne Gitterwände, künstliche Weinranken und Lampions einer Weinstube nicht unähnlich. Im Hintergrund steht in einer geöffneten Tür ein Matrose, auch ist dahinter ein Boot zu erkennen, das vielleicht Teil der Raumdekoration war.
Die zehn von Schad stammenden Illustrationen geben einen höchst aufschlussreichen bildlichen Einblick in die queeren Szenenlokale in Berlin, und zwar zu einer Zeit relativer Liberalität, wie sie in den Jahren der Weimarer Republik herrschte.
Weil der Band deutschlandweit auch im Buchhandel käuflich erhältlich war, konnte das selbstbewusste Treiben in der Hauptstadt von queeren Personen in der Provinz durchaus wahrgenommen werden und dabei identitätsstiftend wirken. Einen Nutzen hatte es in jedem Fall für diejenigen, die aus der Region nach Berlin reisten und das Buch gleichsam als Reiseführer mitgenommen haben.
Jeanne Mammen, "Eifersucht" aus dem "Bilitis-Zyklus"

Jeanne Mammen, Farblithographie "Eifersucht" für die "Lieder der Bilitis", 1930 (Jeanne-Mammen-Stiftung im Stadtmuseum Berlin, © VG Bild-Kunst Bonn, 2025)
Jeanne Mammen schuf 1930 im Auftrag des Berliner Galeristen Wolfgang Gurlitt die Vorzeichnungen für die Farblithographien einer deutschsprachigen Buchausgabe der "Lieder der Bilitis". Von den umgesetzten Lithographien nach Mammens Zeichnungen sind jedoch nur Probedrucke erhalten. Die geplante Auflage ist nie erschienen, die Machtergreifung der Nazis 1933 hat die prachtvolle Neuausgabe mit Mammens Szenenkompositionen verhindert.
Die Lieder der Bilitis sind eine Sammlung von im Wesentlichen lesbischer Gedichte des französischen, für seine feinsinnige Erotik bekannten Lyrikers, Pierre Louÿs (1870-1925), die 1894 in Paris veröffentlicht wurde. Da Louÿs behauptete, er habe angeblich neu entdeckte Gedichte einer antiken Lyrikerin mit Namen Bilitis aus dem Altgriechischen ins Französische übertragen, wird dieses Werk als Pseudoübersetzung betrachtet. Die bis dahin unbekannte Dichterin, die Louÿs dem Umkreis der Sappho zuordnet, hat wohl nie gelebt. Die Lieder sind in drei Abschnitte unterteilt, von denen jeder eine Phase von Bilitis' Leben repräsentiert.
Eine der Szenen, die die offen lesbische Künstlerin Jeanne Mammen für die Farblithographien vorgesehen hat, ist der Eifersucht gewidmet. In der Kunst ist diese bemerkenswerte Bildkomposition die erste bis heute bekannt gewordene szenische Interaktion zur Eifersucht bei einem gewöhnlichen (nicht-göttlichen oder nicht-mythologischen) gleichgeschlechtlichen Paar. Eine kniende Frau hält die andere vom Weggehen ab und im Gestus des Umklammerns schildert Mammen das Gefühl von Unsicherheit und Verlustangst, das so charakteristisch ist für diese schmerzhafte Emotion.
Herbert Rolf Schlegel, Porträt von W. K.

Herbert Rolf Schlegel, Porträt von W. K., wohl 1930 (Schwules Museum Berlin)
Herbert Rolf Schlegel stammte aus Breslau. Seine künstlerische Ausbildung erhielt er unter anderem in Düsseldorf und Kassel. Er war ein Vertreter der romantischen Version der Neuen Sachlichkeit. Sein Porträt zeigt W. K. aus Köln, der Literat und Übersetzer war. W. K. liebte es, sich in Frauenkleidern und entsprechenden Schuhen zu bewegen, zumindest im privaten Bereich. So hat der Künstler W. K. auch dargestellt, wahrscheinlich im Jahr 1930. In der Mimik und Gestik wirkt die Person außerordentlich glücklich und strahlt dadurch wertschätzendes Selbstbewusstsein aus.
Das unten rechts signierte Gemälde ist eines der frühesten Beispiele der malerischen Wiedergabe von Dress Crossing, also der Fetischisierung des Tragens von Frauenkleidung – und es ist sicherlich kein Zufall, dass dies ausgerechnet in den Jahren der liberalen Weimarer Republik geschah, dem ersten echten demokratischen Staat in Deutschland.
Im Hintergrund ist ein Bücherregal als Hinweis auf die Leidenschaft der porträtierten Person zu sehen. Nach mündlicher Überlieferung besaß W. K. eine umfangreiche Bibliothek queerer Belletristik. Einige der Bände besitzt das Schwule Museum Berlin, in dessen Beständen sich auch ein weiteres transvestitisches Porträt einer unbekannten Person befindet, das von Herbert Rolf Schlegel signiert ist.
Lotte Laserstein, Rückenakt (Madeleine)

Lotte Laserstein, Rückenakt (Madeleine), 1956 (Schwules Museum Berlin, © VG Bild-Kunst Bonn, 2025)
Das in Ölfarbe ausgeführte Gemälde mit dem Titel "Rückenakt (Madeleine)" zählt zu den Vorstudien, die Lotte Laserstein für das heute verschollene, lediglich fotografisch überlieferte Gemälde "Malerin und Modell" von 1956 anfertigte. Als eine der ersten Absolventinnen der Hochschule für Bildende Künste in Berlin schloss sie ihr Studium der Malerei 1927 mit Auszeichnung ab. Frauen hatten in Deutschland erst ab 1919 die Erlaubnis erhalten, an einer Akademie zu studieren. Doppelporträts von Künstlerin und Modell – hier noch in Vorbereitung, im fertigen Gemälde jedoch ausgeführt – sind ebenso charakteristisch für Laserstein wie das vermeintlich ihren männlichen Kollegen vorbehaltene Sujet weiblicher Aktdarstellungen.
Ihr erklärtes Lieblingsmodell war ihre langjährige Freundin Traute Rose, die sie 1925 kennengelernt hatte, und allgemein wird angenommen, dass beide eine lesbische Beziehung führten. Zwar gibt es (wie so oft in homophoben Zeitepochen) keine konkreten Dokumente, die Lasersteins sexuelle Orientierung wörtlich benennen. Lässt man jedoch die Kunstwerke für sich selbst sprechen, so vermitteln sie eindeutig tief empfundene Zuneigung und gleichgeschlechtliches Begehren.
Der "Rückenakt" von Madeleine entstand dann in Schweden. Als Jüdin im nationalsozialistischen Deutschland verfolgt, verließ Laserstein im Winter 1937 ihre Heimat und emigrierte nach Stockholm. Dort lernte sie im ersten Kriegsjahr die Ökonomin Margarete Jaraczewski, genannt Madeleine, kennen, die der Malerin Modell stand: Mit nacktem Oberkörper auf einem Sofa sitzend, stützt sie sich mit dem rechten Arm ab, während sie einen Brief liest. Das rote Haar ist hochgesteckt und lässt freien Blick auf den weiblichen Rücken. Mit delikatem Pinselstrich und gedeckten Farben setzt Laserstein ihr Modell besonders sinnlich in Szene.
Jürgen Wittdorf, Gruppe mit Fahrrädern

Jürgen Wittdorf, Gruppe mit Fahrrädern, 1961 (Sammlung Boris Kollek, Berlin)
Mit seinem Holzschnittzyklus "Für die Jugend" schuf der Künstler Jürgen Wittdorf 1960-1962 eine homoerotische Arbeit, die als einzigartig in der Kunst der DDR dasteht. In ihr manifestiert sich die private Leidenschaft des Grafikers. In der quälenden Phase des persönlichen Eingeständnisses der eigenen Homosexualität und noch vor seinem eigentlichen Coming out geschaffen, beruht die Intensität der Bilder und der Vorzeichnungen auf der erotischen Leidenschaft Wittdorfs für den männlichen Körper, die ihr einziges Ventil in der Kunst fand.
Eines der Zyklusblätter, die Gruppe mit Fahrrädern von 1961, zeigt fünf junge Männer, die lässig im Kreis stehen und an oder auf ihren Rädern lehnen. Die männlichen Posen und Kleidungsstile werden in ihrer Unterschiedlichkeit feinsinnig durchdekliniert. Es gibt zwar Blicke, die einen der anderen Radfahrer treffen, aber keiner wird erwidert.
Diese scheinbar zufällige Konstellation hat Wittdorf mit Bedacht konstruiert. Obwohl die Gruppe so dicht beieinander steht, kommt es bewußt zu keinerlei Berührung. Das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit und die gleichzeitige Einsamkeit der Personen werden so unterschwellig und doch offensichtlich ins Bild gesetzt.

Jürgen Wittdorf, Vorzeichnung zur Gruppe mit Fahrrädern, um 1960 (Sammlung Boris Kollek, Berlin)
In seinen Vorzeichnungen hatte Jürgen Wittdorf die Modelle auch völlig unbekleidet an und auf ihren Fahrrädern stehen. Dieses Wissen unterstreicht die homoerotische Komponente seiner Arbeit. Die Studie zeigt drei junge Männer, alle mit ihren Rennrädern wiedergegeben und in verschiedenen Stellungen und Ansichten. Es ist ein ungewöhnlicher Anblick, denn weder im Alltag noch im Urlaub an der Ostseeküste trifft man gemeinhin komplett nackte Menschen auf ihren Rädern an.
Alle Körperpartien einschließlich des Geschlechts mit der Schambehaarung sind detailliert ausgearbeitet. Nichts wird im Unklaren gelassen, alles gewissenhaft beobachtet. So offenbart die Zeichnung in ihrer Verdichtung einiges zu den damals, vor seinem Coming out, noch verborgen gehaltenen Gefühlsregungen Wittdorfs. Natürlich durfte und konnte dieses Begehren nicht in die öffentlichen Werke eines Künstlers Eingang finden, denn auch in der DDR gab es strafrechtliche Verfolgung gleichgeschlechtlicher Sexualität. So verzichtete er bei der späteren Umsetzung der beiden linken Figuren mitsamt ihren Posen und Gesten in den Holzschnitt folgerichtig auf die attraktive Nacktheit der Männer und kleidete sie an.
Gleichwohl ist die Zeichnung ein anschauliches Beispiel für das zwar unterdrückte, doch zugleich sublimierte Verlangen des Künstlers. Im Winter 1962/63 wurde der Holzschnitt schließlich mit weiteren Blättern aus dem Zyklus "An die Jugend" auf der Deutschen Kunstausstellung im Albertinum Dresden vorgestellt. Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) verlieh Wittdorf dafür im Januar 1963 ihren Kunstpreis, und der Zyklus erschien im selben Jahr als Grafikmappe in einer Auflage von 10.000 Exemplaren mit einem offiziellen Vorwort der FDJ.
Am 21. August hält Dr. Martin Weinzettl um 18:30 Uhr im Museum im Prediger Schwäbisch Gmünd einen Vortrag zum Thema "Lebenselixier Wasser. Das Bad als Thema homoerotischer Bildwelten von Albrecht Dürer bis heute".
Und am 12. September gibt es im Museum um 19:00 Uhr eine Talkrunde zur "Sichtbarkeit von LSBTI* in der zeitgenössischen Kunst" mit dem Berliner Maler Norbert Bisky, mit Hannah Römer, Künstlerin und Studentin der Akademie der bildenden Künste Stuttgart, sowie mit Andreas Pucher von der Stuttgarter Galerie Thomas Fuchs.
Links zum Thema:
» Digitaler Flyer zur Ausstellung "Wish you were queer. Un-Sichtbarkeit von LSBTI* in Kunst und Geschichte" im Museum im Prediger
Mehr zum Thema:
» Un-Sichtbarkeit von LSBTI* in der Kunst – Teil 1: Mittelalter und Renaissance (19.06.2025)
» Un-Sichtbarkeit von LSBTI* in der Kunst – Teil 2: Barock bis Romantik (12.07.2025)
Mehr queere Kultur:
» auf sissymag.de















