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Gegen den Rechtsruck

Das richtige Buch zur richtigen Zeit

Judith Butlers neues Buch "Wer hat Angst vor Gender?" über die globale Anti-Gender-Bewegung ist eine herausfordernde und alles andere als leichte Lektüre, aber mit Sicherheit die wichtigste Neuerscheinung des Jahres.


Judith Butler im Mai 2025 bei einer Lesung aus ihrem Buch in Athen (Bild: IMAGO / NurPhoto)

"Wer hat Angst vor Gender?" (Amazon-Affiliate-Link ) – so der Titel des neuesten Buches von Judith Butler, soeben erschienen im Suhrkamp Verlag. Auf jeden Fall zu viele. Aber warum? Mit welchen Ängsten haben wir es hier zu tun? Offensichtlich mit derart massiven, dass dabei stets die Schnappatmung ein- und der Verstand aussetzt. Ein gefährlicher Zustand, der bekanntlich irrationales Handeln befördert. Butler spricht hier treffenderweise von "Karikaturen der Angsterzeugung".

In welche Hysterie manche verfallen, wenn es beispielsweise um gendergerechte Sprache geht, führt gerade unser Kulturstaatsminister Weimer vor, der mit Sicherheit nicht begriffen hat, worum es dabei eigentlich geht. Aber wie auch? Weder wird begriffen, dass "Sehr geehrte Damen und Herren" gendern pur bedeutet, noch dass die Kategorie Frau selbst schon gegendert ist und dass es am Ende nicht nur um Frau und Mann geht. Aber dazu müsste eins bei eingeschaltetem Gehirn mindestens Butler gelesen haben. Ich wette… Ach, lassen wir das.

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Traum von der Wiederherstellung einer patriarchalen Ordnung


"Wer hat Angst vor Gender?" erscheint am 18. August 2025 im Suhrkamp Verlag

Wäre Herr Weimer nur ein x-beliebiger Kulturkämpfer, könnten wir über seine Äußerungen hinweggehen mit einem "gelesen und gelacht", aber der Mann übt ein politisches Amt aus. Dass er dabei gerade auf plump peinliche Art den Trump spielt und in Richtung staatliche Kultureinrichtungen einen Ton anschlägt, mit dem vor gut neunzig Jahren die sogenannte Gleichschaltung eingeläutet wurde, macht die Angelegenheit allerdings brisant. Und ausgerechnet im Namen der Kultur. Welcher eigentlich?

Wer also hat Angst vor Gender und warum? Schlagen wir nach bei Butler, denn dort erfahren wir, was es auf sich hat mit dem Kulturkampf und wie es mit dessen Bindung an die politische Macht aussieht:

Dieses Buch ist der Versuch zu verstehen, wie sich die verschärfte Opposition gegen Gender in den Aufstieg autoritärer Regime einpasst, die sich ihre Unterstützung holen, indem sie von einer Wiederherstellung patriarchaler, heteronormativgeprägter Ordnung fantasieren.

Wobei zu ergänzen wäre, dass diese autoritären Regime längst selbst die Anti-Gender-Politik befeuern und die kulturkämpferische Opposition zu Mitläufern macht. Dass Butlers Kritiker*­innen bestens trainiert sind in absichtlichem Missverstehen, gehört mit dazu und versteht sich fast von selbst. Deren Argumentation kultiviert den verkürzten und selektiven Blick. Wo Fake Trumpf ist, fallen Realitätsverdrehungen erst gar nicht mehr auf.

Progressive Politik wird für Elend verantwortlich gemacht

Die häufigste Unterstellung lautet, Gender würde die Biologie leugnen. Niemand leugne jedoch die Materialität der Körper mit der Anerkennung, dass ein Mensch die ursprüngliche Geschlechtszuweisung ebenso bestätigen wie verwerfen kann, so Butler. So falsch diese Unterstellung ist, so unzerstörbar scheint sie zu sein. Aber sie ist ja auch Ausgangspunkt einer viel größer dimensionierten Unterstellung. Denn die politische Rechte sieht, wie wir alle wissen und tagtäglich erfahren, Diversität, Gleichheit und Inklusion als Bedrohung. Damit werde "progressive Politik ganz allgemein für jede Form von gesellschaftlichem Elend und Instabilität verantwortlich gemacht".

Und so wurde die berühmte Kästchen-Frage mit Namen Gender Mittel zur globalen Panikmache. In Russland wird Gender gar als Bedrohung der nationalen Sicherheit gewertet, als Gefahr für Kinder, als Bedrohung für Ehe und Familie. Gender wurde in den letzten Jahren zum "Sammelplatz für Ängste". Butler geht dabei der Frage nach, wie es der extremen Rechten gelingen konnte, solche Untergangsängste für ihre Zwecke zu missbrauchen. Butler versucht dies in aller Ausführlichkeit und Gründlichkeit zu beantworten.

Von der katholischen Kirche bis zu den TERFs

In insgesamt zehn Kapiteln werden nach und nach alle relevanten Akteur*­innen der Anti-Gender-Bewegung aufgerufen, um sie einer detaillierten Analyse zu unterziehen. Die katholische Kirche gehört ebenso dazu wie eine konservative bis rechte Politik, und schließlich spielen TERFs darin eine zentrale Rolle. Deren Problem mit Geschlechts­identität, indem sie etwa die geschlechtliche Identität anderer für nichtig erklären, verweise im Grunde auf die "Angst vor der Aufhebung der eigenen geschlechtlichen Identität". Eine alte psychologische Regel.

Butler rät davon ab, die Anti-Gender-Bewegung lediglich als Backlash zu interpretieren, denn damit werde übersehen, dass sie stärker von dem Wunsch der "Wiederherstellung einer patriarchalen Traumordnung" angetrieben werde mit den bekannten männlichen und weiblichen Rollenklischees. So gesehen ist Backlash Teil eines größeren restaurativen Projekts.

Das Buch will mehr als nur Argumentationshilfe sein, obschon auch das zu Butlers Absicht zählt:

Ich hoffe also, dass es mir gelingt, die phantasmatische Dimension von "Gender" zu verstehen, wie es jenen erscheint, die nach seiner Verbannung aus den Schulen, der Zensur von Texten und der Entrechtung und Kriminalisierung von transgender oder genderqueeren Menschen rufen.

Die toxische Melange aus Dummheit und Bosheit ist nur schwer erträglich

Butler gelingt dies auf 400 Seiten mit beeindruckender analytischer Schärfe, wie ich meine. Was allerdings auch heißt, dass wir tief eintauchen müssen in ein gruseliges Denken, das unentwegt von Dämonisierung und Verteufelung angetrieben wird, aber eben auch von offenkundigen reaktionären politischen Zielen. Weil Butler dafür den rechtsextremen Bullshit ausführlich auflistet, mag das für empfindliche Leser*­innen zur unerträglichen Lektüre werden. Aber auch für Hartgesottene ist diese toxische Melange aus Dummheit und Bosheit nur schwer erträglich. Wichtig ist Butler der globale Blick:

Hier geht es darum, die globalen Konturen der Anti-Gender-Bewegung nachzuzeichnen, ihre wichtigsten Argumente und phantasmatischen Gebilde vorzustellen und einen Eindruck zu vermitteln, wie beides ineinandergreift.

Die Rede von der "gefährlichen Gender-Ideologie" ist übrigens eine päpstliche Erfindung der 1990er Jahre, an der Joseph Ratzinger mitgearbeitet und als Papst Benedikt fleißig weitergestrickt hat, um so ideologische Vorarbeit für seine Nachfolger zu leisten. Wir wissen es nur zu gut, wie sehr Rom an einer vermeintlich gottgewollten Geschlechterdifferenz festhält. Gender könne nicht getrennt vom biologischen Geschlecht betrachtet werden, woraus sich die absurde Behauptung ergibt: Transgender versuche, "die Natur auszulöschen".

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Randvoll mit kritischen Befunden, dazu materialreich und quellenbasiert

Dass solche Kirchenpolitik ganz auf der Linie von Trump & Co. liegt, freut die mächtig angewachsene Fraktion der Patriarchats-Fanatiker. Dass TERFs auf derselben Linie ihren biologistischen Tanz aufführen ist bitter, aber leider eine Tatsache. Es schmerze, schreibt Butler, wenn Feministinnen "rechtsgerichtete Karikaturen der Gender Studies zitieren und validieren", wenn sie dieselbe Art von Diskriminierung und Zensur wie die Rechten betreiben. Am Ende gehe es um die "Derealisierung von Transpersonen".

Dem liege nicht nur ein eingeschränktes Verständnis von der Materialität unserer Körper zugrunde, es werde auch die soziale Konstruktion von Geschlecht permanent missverstanden. Verkannt werde, dass Geschlechterkategorien eben nicht zeitlos seien. Wären sie das, könnte man Feminismus und Geschichte glatt in die Tonne treten. Butler zitiert hier die US-amerikanische Historikerin Joan W. Scott:

"Mann" und "Frau" sind zugleich leere und übervolle Kategorien. Leer, weil sie keine ultimative, transzendentale Bedeutung besitzen. Übervoll, weil sie selbst dann, wenn sie festgelegt erscheinen, immer noch alternative, geleugnete oder unterdrückte Definitionen mit sich tragen.

Was ist daran so schwer zu verstehen? Und trotzdem besteht wohl nur wenig Hoffnung, dass diejenigen, die dies verstehen, mehr werden. Im Gegenteil, der Blick in die Zukunft sieht nicht allzu rosig aus. Umso wichtiger ist es zu begreifen, dass autoritäre Regime aus demokratischer Verfasstheit erwachsen und als Bewegungen mit Behauptungen auftreten wie "Kinder zu retten" und "Frauen zu schützen". Auch sei die Rede vom Kulturkampf zu kurz gedacht, es gehe um ökonomische Lebensverhältnisse, um allgemeine Grundrechte.

Judith Butler hat mit "Wer hat Angst vor Gender?" das richtige Buch zur richtigen Zeit geschrieben. Es ist randvoll mit kritischen Befunden, dazu materialreich und quellenbasiert. Es ist eine herausfordernde und alles andere als leichte Lektüre, aber mit Sicherheit die wichtigste Neuerscheinung des Jahres, verbunden mit der Erkenntnis, dass die Genderfrage auch die Frage von Sein oder Nichtsein von Freiheit beinhaltet.

Infos zum Buchh

Judith Butler: Wer hat Angst vor Gender? Aus dem Amerikanischen von Katrin Harlaß und Anne Emmert. 405 Seiten. Suhrkamp Verlag. Berlin 2025, Taschenbuch: 24 € (ISBN 978-3-518-12834-3). E-Book: 23,99 €

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