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Essay
Roland Barthes – Fragmente einer Sprache der Liebe
Roland Barthes war vieles: Muttersohn, homosexueller Intellektueller, Mythenjäger, Poet des Fragments. Doch vor allem war er ein Philosoph, der uns lehrt, dass Denken nicht in Gewissheit beginnt – sondern im Schweben.

Roland Barthes (1915-1980) im Jahr 1960 (Bild: IMAGO / Photo12)
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17. August 2025, 13:53h 5 Min.
"Ich müsste mich zunächst nach den Gründen fragen, die das Collège de France bewogen hat, ein, ich würde sagen, unsicheres Subjekt aufzunehmen." Mit diesem Satz eröffnete Roland Barthes am 7. Januar 1977 seine Antrittsvorlesung in Paris. Kaum ein Selbstporträt ist treffender. Barthes, 1915 geboren, war ein Denker, der die Unsicherheit kultivierte: nicht aus Schwäche, sondern als Methode.
Unsicherheit bedeutete für ihn Beweglichkeit. Barthes war nie nur Literaturwissenschaftler, nie nur Philosoph, nie nur Essayist. Er bewegte sich in Übergängen – zwischen Analyse und Poesie, zwischen wissenschaftlicher Nüchternheit und literarischem Begehren. Wer ihn in eine Disziplin zwingen wollte, verstand nicht, dass sein Denken gerade aus der Weigerung erwuchs, sich festzulegen.
Der Mythenjäger
Berühmt wurde Barthes in den 1950er Jahren durch ein schmales Buch: "Mythen des Alltags". Es sammelte kurze Essays über scheinbar banale Phänomene – ein Automodell, Plastik, der Ringkampf -, die er als Träger moderner Ideologien entlarvte. "Ich glaube, dass das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen ist", schrieb er über den Citroën DS. In diesem Blick auf das Alltägliche zeigte sich Barthes' Genie: Er erkannte die Religion des Konsums, wo andere nur Fortschritt sahen.
Das Werkzeug dafür war die Sprache. Sie war ihm zugleich Faszination und Verdacht. In seiner Antrittsvorlesung bekannte er: "Die Sprache ist faschistisch. Denn Faschismus heißt nicht, am Sagen hindern, es heißt zum Sagen zwingen." In dieser Formulierung verdichtet sich sein lebenslanges Misstrauen gegen die Macht der Zeichen. Für Barthes war Sprache kein neutrales Medium, sondern eine Gewalt, die Wirklichkeit formt, ein System, das uns zwingt, auch da zu reden, wo wir schweigen möchten.
Vom Strukturalismus zum Subjekt
Lange galt Barthes als Strukturalist, als Meister einer Theorie, die nach verborgenen Mustern suchte. Doch in den 1970er Jahren vollzog er eine Wende. Er wandte sich ab vom System, hin zum Subjekt, von der Analyse zur Lust. Schreiben erschien ihm nicht mehr als nüchterne Entschlüsselung, sondern als Ort der Freude. "Ich gestehe dem Schreibakt eine enorme Macht zu", sagte er 1975 im Radio. "Dann, nach und nach, kristallisierte sich eine nacktere Wahrheit heraus: dass man schreibt, weil man es liebt."
In dieser Haltung entstand 1977 sein überraschender Bestseller: "Fragmente einer Sprache der Liebe". Ein Buch, das sich weigert, eine Geschichte zu erzählen, und stattdessen aus Bruchstücken besteht – aus Karteikarten, Miniaturen, Gedankenblitzen. Ein Lexikon der Leidenschaft, geboren aus persönlichem Schmerz: Barthes hatte die Zurückweisung eines Studenten erlitten, und aus dieser Wunde formte er Theorie.
Es war eine Revolution: Plötzlich sprach der Philosoph nicht mehr nur über Mythen oder Sprache, sondern über das Begehren selbst. Und er tat es nicht in der Logik des Systems, sondern im Rhythmus des Fragments.
Muttersohn und Trauernder
Wer Barthes verstehen will, muss seine Biografie lesen wie ein Subtext. Der Vater fiel im Ersten Weltkrieg, bevor der Sohn ihn kennenlernen konnte. Die Mutter, Henriette, wurde sein Mittelpunkt. Sie war Gefährtin, Vertraute, erste Leserin – eine fast symbiotische Beziehung, die Barthes' Leben prägte.
Als sie 1977 im Alter von 84 Jahren starb, erschütterte das sein Gefüge. Er pflegte sie in den letzten Monaten selbst und blieb nach ihrem Tod zurück wie entwurzelt. In seinen Notizen taucht nun die Trauer als Hauptthema auf. "Verzweiflung: das Wort ist zu theatralisch, es hat teil an der Sprache", schrieb er. Sprache, die ihm zuvor Mittel der Analyse war, erschien nun als Barriere – als etwas, das den Schmerz nur in Klischees übersetzt.
Doch aus diesem Verlust erwuchs eine neue Poetik. Wie Proust hoffte er, dass der Tod der Mutter ihn zu einer Literatur führen würde, die dem Unaussprechlichen Gestalt gibt. Er begann mit einem "Tagebuch der Trauer", einer Sammlung von Splittern, die eher an fotografische Schnappschüsse erinnern als an Erzählung. Das Subjekt erschien hier nicht mehr als Konstruktion der Sprache, sondern als verletzbares Ich.
Homosexualität als Codierung
Barthes lebte seine Homosexualität in einem Frankreich, das dafür keine öffentliche Sprache hatte. Er war Liebhaber junger Intellektueller, Teil einer "Zweitfamilie", die ihn zugleich stützte und spiegelte. Doch er outete sich nie. Sein Begehren erschien in Umwegen, in Anspielungen, in der Wahl seiner Themen. In den USA wurde er so zum Vordenker der Queer Studies: ein Philosoph, der Homosexualität nicht aussprach, sondern als Schreibweise lebte – in Brüchen, in Masken, in der Lust am Verborgenen. Sein Denken war ein Denken des Begehrens – gegen das Normative, gegen das Eindeutige, gegen die Zensur des Subjekts. In den Fragmenten, in der Lust am Maskenspiel, in der Weigerung, das Eigene eindeutig zu formulieren, liegt sein queerer Impuls.
Am 25. Februar 1980 verließ Barthes eine Einladung zum Mittagessen, als er beim Überqueren der Rue des Écoles von einem Lieferwagen angefahren wurde. Die Verletzungen schienen nicht lebensgefährlich, doch er starb vier Wochen später. Ein banaler, beinahe absurder Tod – und doch passend für einen Denker, der den Zufall immer als Komplizen verstand.
Die Aktualität des Fragenden
Roland Barthes bleibt ein schillernder, widersprüchlicher Autor. Der brillanten Klarheit seiner Begriffe – "Tod des Autors", "Mythen des Alltags" – steht die Verletzlichkeit eines Menschen gegenüber, der sich selbst als "unsicher" begriff. Seine Texte bewegen sich zwischen Theorie und Literatur, zwischen Analyse und Begehren.
Heute, im Zeitalter digitaler Bilder und algorithmischer Mythen, ist Barthes so aktuell wie nie. Er zeigt, dass jedes Bild eine Falle sein kann, dass jedes Wort Macht trägt, dass das Subjekt nicht in Eindeutigkeit lebt, sondern in Bruchstücken. Und er lehrt, dass Philosophie nichts anderes ist als die Liebe zur Unsicherheit.
Roland Barthes war vieles: Muttersohn, homosexueller Intellektueller, Mythenjäger, Poet des Fragments. Doch vor allem war er ein Philosoph, der uns lehrt, dass Denken nicht in Gewissheit beginnt – sondern im Schweben.
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