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Bosnien und Herzegowina
Queere Akzente in Sarajevo
Auf dem diesjährigen Filmfestival in Sarajevo werden wieder queere Filme gezeigt. Damit wollen die Organisator*innen gesellschaftliche Veränderungen in Gang setzen.

Transparent für das Filmfestival in Sarajevo (Bild: Christian Höller)
- Von Christian Höller und Fabian Schäfer
21. August 2025, 10:53h 9 Min.
Das diesjährige Filmfestival in Sarajevo steuert gerade auf seinen Höhepunkt zu. Noch bis zum 22. August werden in der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina über 200 Filme aus 65 Ländern gezeigt, wobei der Schwerpunkt auf Filmen aus der Region liegt. Auch in diesem Jahr werden über 100.000 Besucher*innen erwartet. Es ist damit das wichtigste Filmfestival in Südosteuropa und die größte kulturelle Veranstaltung in Bosnien-Herzegowina.
Die Kinoaufführungen sind über die gesamte Stadt verteilt. Viele Filme werden auf bekannten Plätzen nach Einbruch der Dunkelheit unter freiem Himmel gezeigt. Danach wird in der Altstadt oft auf Partys bis in die Morgenstunden gefeiert. Den Organisator*innen ist es ein Anliegen, dass es sich um kein elitäres Festival handelt, sondern dass die lokale Bevölkerung eingebunden ist. Die Ticketpreise sind niedrig. Mit Ausnahme von manchen Premieren, die im Nationaltheater von Sarajevo zu sehen sind, ist es nicht allzu schwierig, Karten zu bekommen.
Die Organisator*innen setzen bei der Auswahl der Filme auf ein möglichst vielfältiges und diverses Programm. Damit sollen gesellschaftliche Veränderungen in Gang gesetzt werden. Auch soll der Austausch und der Dialog gefördert werden. Dies ist gerade in Bosnien-Herzegowina notwendig. Denn in der Region befinden sich nationalistische und queerfeindliche Gruppierungen im Aufwind. Umso erfreulich ist es, dass auf dem Filmfestival auch in diesem Jahr queere Filme zu sehen sind.
Drei junge "Tomboys" und eine trans Frau
Wie schwer es junge queere Menschen in den Ländern Südosteuropas haben, macht der in Sarajevo gezeigte Film "Fantasy" der slowenischen Regisseurin Kukla deutlich. Dabei handelt es sich um eine slowenisch-mazedonische Produktion. In dem Film geht es um drei "Tomboys" in den Zwanzigern und einer trans Frau. Als Tomboys werden Frauen und Mädchen bezeichnet, die nicht den von der Gesellschaft vorgegebenen klassischen Geschlechterrollen entsprechen. Eine der Hauptpersonen in dem Drama ist Mihrije (gespielt von Sarah Al Saleh), die von ihrem Umfeld als Frau gelesen wird. Mihrije kommt aus einer konservativen Familie, die nach Slowenien gezogen ist. Die Verwandten versuchen, für Mihrije einen Ehemann zu finden. Doch Mihrije will davon nichts wissen. Sie verbringt die meiste Zeit mit Sina (Mina Milovanović) und Jasna (Mia Skrbinac). Sina und Jasna werden ebenfalls als Frauen gelesen.
In dem Film treffen die drei Personen auf Fantasy (Alina Juhart) – eine trans Frau, die besonders viele heteronormativen Konventionen sprengt. Die drei Personen sind aus unterschiedlichen Gründen von Fantasy fasziniert. Die Begegnungen mit der trans Frau sorgen für zahlreiche Veränderungen. Die drei Personen setzen sich mit ihrer eigenen Identität, ihrem erotischen Begehren, den gesellschaftlichen Geschlechterrollen und mit Fragen der Selbstbestimmung auseinander. Der Film wurde vor Kurzem beim Filmfestival im schweizerischen Locarno zum ersten Mal gezeigt. In Sarajevo erfolgte nun die erste Aufführung in Südosteuropa. Das Interesse an dem Film war groß. Beim Filmfestival wurde zu "Fantasy" eine Pressekonferenz und eine Podiumsdiskussion veranstaltet. Das führte dazu, dass lokale Medien darüber berichteten.
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Auch "In Hell with Ivo wurde" aufgeführt
Ein anderer queerer Film, der in Sarajevo Beachtung fand, ist die Doku "In Hell with Ivo" über Ivo Dimchev. Der schwule Künstler stammt aus Bulgarien. Er ist Choreograf, Theatermacher, Song-Writer, Performer und Queer-Aktivist. Der Film hatte im Mai 2025 beim DOK.fest in München, Deutschlands größtem Dokumentarfilmfestival, Weltpremiere (queer.de berichtete). Nun wurde er erstmals in Bosnien gezeigt.
Ivo Dimchev bricht als Künstler viele Tabus. Deswegen wird er in sozialen Medien angefeindet. Er erhält Morddrohungen und Hassnachrichten. Die Regisseurin Kristina Nikolova war vom Künstler so beeindruckt, dass sie ihn fünf Jahre lang mit der Kamera begleitet hat. Sie thematisiert auch seine nicht immer einfache Kindheit in Bulgarien. In dem Film kommen seine Eltern zu Wort. Dimchev erzählt, dass er von seinem Vater geschlagen worden sei, was der Vater abstreitet.
Weitere queere Filme
Und es liefen noch weitere queere Filme in Sarajevo: Im Hauptprogramm, aber außerhalb des Wettbewerbs, feierte "Man of the house" seine Weltpremiere. In dem Spielfilm des in Albanien geborenen Regisseurs Andamion Murataj geht es um Fran, eine sogenannte Schwurjungfrau. Ihr stellt sich plötzlich die Frage: Soll sie ihre männliche Rolle aufgeben, um eine Mutter für ihre Nichte zu werden? Das Thema der albanischen Burrneshas ist immer wieder ein Thema in Dokus und Spielfilmen (queer.de berichtete).
Besondere Einblicke in einen sonst verborgenen Mikrokosmos liefert die Dokumentation "Prison Beauty Contest". Der bosnische Regisseur Srđan Šarenac begleitete einen Schönheitswettbewerb in einem brasilianischen Frauengefängnis. Daran nehmen auch inhaftierte trans Männer teil, in der für sie eigens geschaffenen Kategorie "Gentleman".
Vernarrt in die Eiskönigin
Der Film zeigt die Vorbereitungen auf den Wettbewerb, aber auch der Gefängnisalltag sehr genau. Und was Angel als trans Mann im Frauengefängnis erlebt – Faszination und Bewunderung auf der einen, Skepsis auf der anderen Seite – ist besonders interessant, auch auf einer Meta-Ebene. Alle Teilnehmenden eint eins: Sie wollen gewinnen, vor allem aber wollen sie raus aus dem Knast.
Ein eher in Untertönen queerer Film, der in Sarajevo lief, ist "The Ice Tower" der Französin Lucile Hadžihalilović. Der märchenhafte Spielfilm ist eine Neuinterpretation von Hans Christian Andersens Märchen "Die Schneekönigin" – und überzeugt vor allem durch den starken Cast, insbesondere Marion Cotillard als Schneekönigin. Als sie der jungen Ausreißerin Jeanne begegnet, entsteht eine anfangs angenehme, aber zusehends gefährliche – auch erotische – Anziehung. Der Film gewann bei der diesjährigen Berlinale den Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung, wurde sonst aber eher gemischt aufgenommen.
Gegen das konservative und religiöse Establishment
Mit "Fantasy" und "In Hell with Ivo" zeigt das Filmfestival in Sarajevo ganz bewusst Produktionen, mit denen das lokale konservative und religiöse Establishment keine Freude hat. Die Offenheit ist möglich, weil das Festival vor allem von westlichen Firmen gesponsert wird wie Coca-Cola, die italienische UniCredit-Bank und die österreichische Uniqa-Versicherung. Zwar ist Homosexualität in Bosnien-Herzegowina nicht verboten, doch die Akzeptanz in der Gesellschaft ist gering. Hinzu kommt, dass Bosnien-Herzegowina im Wesentlichen aus zwei großen Landesteilen besteht. In der Föderation Bosnien und Herzegowina wohnen hauptsächlich Muslim*innen und Kroat*innen. Dann gibt es die serbisch dominierte Republik Srpska, in der queere Personen massiver Gewalt ausgesetzt sind. In Banja Luka, der Hauptstadt der Republik Srpska, wurden queere Aktivist*innen in der Vergangenheit von einem Mob von Extremisten angegriffen. Drei Menschen mussten im Krankenhaus behandelt werden (queer.de berichtete).
Außerdem fordert der bosnische Serbenführer Milorad Dodik eine gesetzliche Regelung, dass sich Aktivist*innen von queeren Organisationen von allen Schulen und Bildungseinrichtungen fernhalten müssen (queer.de berichtete). Noch besser wäre es aber, so Dodik, wenn homosexuelle Menschen woanders hinziehen. Er wolle die Republik Srpska vor homosexuellen Einflüssen schützen. Der bosnische Serbenführer verfolgt bei vielen Themen eine ähnliche Politik wie der queerfeindliche ungarische Regierungschef Viktor Orban und Russlands Präsident Wladimir Putin.
Kontroversen um CSD
In der von Muslim*innen und Kroat*innen bewohnten Föderation Bosnien und Herzegowina ist die Situation für queere Personen ein wenig besser. Zwar stehen auch dort viele Bewohner*innen dem Thema Homosexualität ablehnend gegenüber. Doch in der Hauptstadt Sarajevo veranstalten queere Aktivist*innen seit 2019 eine CSD-Demonstration (queer.de berichtete). In der Vergangenheit nahmen daran zwischen 1.000 und 2.000 Menschen teil. Es gab es immer wieder Gegenproteste von rechtsextremen, nationalistischen und religiösen Gruppierungen. Daher wird der CSD von einem Großaufgebot der Polizei geschützt.
Vor allem die hohen Sicherheitskosten sind für die Organisator*innen eine Herausforderung. Denn die bosnischen Behörden übernehmen nur einen Teil davon. Daher sind die Veranstalter*innen auf Spenden angewiesen. Sarajevo war früher eine multikulturelle Stadt. Doch mit dem Bosnien-Krieg (1992 bis 1995) hat sich viel geändert. Vor dem Krieg bezeichneten sich 50,5 Prozent der Einwohner*innen von Sarajevo als bosnische Muslim*innen. Heute liegt der Anteil bei über 80 Prozent.
Die Sichtbarkeit von queeren Menschen sorgte in islamischen Kreisen für heftige Kontroversen. Als der CSD einmal wegen Corona nicht stattfinden konnte, schrieb Muhamed Velić, ein bekannter islamischer Gelehrte, dass er Allah für die Absage danke. Allah, so der Imam, soll dafür sorgen, dass Corona und der CSD nicht mehr nach Sarajevo zurückkehren werde. Er bekam dafür in sozialen Medien viel Zuspruch. Gleichzeitig wurde Velić von Vertreter*innen der Zivilgesellschaft für seine offen zur Schau gestellte Queerfeindlichkeit kritisiert. Die Auseinandersetzung spitzte sich immer mehr zu, dass Husein Kavazović, der Großmufti von Sarajevo und damit das geistliche Oberhaupt der dortigen Islamischen Glaubensgemeinschaft, ein Machtwort sprach. Ein Sprecher von Kavazović erklärte, dass der Gelehrte seine persönliche Meinung geäußert habe. Die Position der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Bosnien sei eine andere.
Noch immer sichtbare Spuren des Krieges

Einschusslöcher an einer Hausfassade in Sarajevo (Bild: Christian Höller)
Vor allem junge queere Menschen aus Bosnien ziehen nach Westeuropa, weil sie in dem Land wenig Zukunftsperspektiven sehen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Hinzu kommt die politische Unsicherheit. Immer wieder kommt es zu einer Staatskrise, weil Bosniens queerfeindlicher Serbenführer Dodik nicht zurücktreten möchte und mit einer Abspaltung der Republik Srpska droht. Dodik verstößt seit vielen Jahren gegen die Verfassung von Bosnien-Herzegowina. Viele Menschen befürchten, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt.
Dabei gibt es in Sarajevo noch immer Spuren des Bosnien-Krieges, der vor 30 Jahren endete. Die Stadt wurde großteils wiederaufgebaut. Trotzdem sind an vielen Häuserfassaden Einschusslöcher zu sehen. Der Bosnien-Krieg hat in der Bevölkerung tiefe Wunden und Traumata hinterlassen. Sarajevo wurde von den Serben 1425 Tage belagert. Es war die längste Belagerung im 20. Jahrhundert. Besonders berüchtigt war die "Sniper Alley" (Allee von Heckenschützen). Dort wurden Zivilist*innen gezielt von serbischen Heckenschützen erschossen oder verletzt. Beim Krieg starben in ganz Bosnien schätzungsweise rund 100.000 Menschen.
Das Filmfestival in Sarajevo hat seinen Ursprung im Krieg. Es fand zum ersten Mal während der Belagerung statt, um die eingeschlossenen Menschen psychisch zu unterstützen. Dazu war viel Mut erforderlich. Die Filmrollen mussten über einen geheimen Tunnel in die Stadt gebracht werden. Das Interesse war groß. Denn die Menschen wollten für einen kurzen Moment den Krieg vergessen. Aus Sicherheitsgründen fanden die Aufführungen an möglichst vielen Abenden statt. Trotz der Gefahr kamen insgesamt 15.000 Menschen zum ersten Festival.
Der Anteil queerer Filme beim Sarajevo Film Festival ist sicher geringer als bei anderen Festivals. Bei der Preisverleihung am Freitagabend waren queere Filme dafür umso erfolgreicher: Das Ensemble von "Fantasy" bekam das "Herz von Sarajevo" für die beste schauspielerische Leistung. Die Doku "In Hell With Ivo" gewann den Spezialpreis der Jury. Der Preis für die beste Regie ging an Ivana Mladenović. Ihr Film "Sorella di Clausura" kann zumindest queer gelesen werden: Stela verliebt sich in einen alternden Balkan-Sänger – an allen anderen Männern hat sie dafür wenig Interesse. Immer wieder werfen sie ihr deshalb vor, eigentlich gar keinen Bock auf Schwänze zu haben. Bei der Melodrama-Parodie schwingt Asexualität zumindest mit. Und der Entwicklungspreis von Eurimages, dotiert mit 20.000 Euro, geht an "Places Half Empty", ein "kontroverses und intimes Porträt einer queeren Beziehung im Kontext von Orbáns Ungarn".
Der Bericht wurde nachträglich ergänzt um weitere queere Filme und die Preisverleihung.
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