Hauptmenü Accesskey 1 Hauptinhalt 2 Footer 3 Suche 4 Impressum 8 Kontakt 9 Startseite 0
Neu Presse TV-Tipps Termine
© Queer Communications GmbH
https://queer.de/?55100

Roman

Diesmal ganz anders: Édouard Louis vollendet sein "Familienfresko"

Der schwule französische Literaturstar Édouard Louis schrieb schon über sich, seinen Vater und seine Mutter. Im neuen Buch "Der Absturz" erzählt er die Geschichte des alkoholkranken und frustrierten Bruders.


Edouard Louis im März 2025 auf der Lit.Cologne (Bild: IMAGO / Panama Pictures)

Es beginnt mit dem Tod. Als sein Bruder stirbt, reagiert Édouard Louis gleichgültig. Er habe weder "Traurigkeit noch Verzweiflung noch Erleichterung noch Freude" gespürt, als seine Mutter ihm erzählt, dass ihr Sohn, sein Bruder, tot ist. Sie hatten sich jahrelang nicht gesehen. Er wurde nur 38 Jahre alt.

Sein Bruder hatte sich in einer Spirale befunden, die nur eine Richtung kennt: abwärts. Früh gelang er auf die berühmte schiefe Bahn. Sein Leben liest sich fast klischeehaft: Als Kind verlässt der Vater die Familie, als Jugendlicher reißt er von zu Hause aus, trinkt Bier, raucht Gras. Er klaut, wohnt mal hier, mal da, bekommt Probleme mit der Polizei und seinen Gelegenheitsjobs.

- w -

Er wird für seine Träume ausgelacht


Édouard Louis' neuer Roman "Der Absturz" ist am 17. September 2025 im Aufbau Verlag erschienen

Er führt Beziehungen, die aber immer in die Brüche gehen, nicht selten weil er zu viel trinkt und dann gewalttätig gegenüber seiner Freundin wird. Für seinen Stiefvater und die Mutter ist er ein Versager. Gleichzeitig bleibt er ein Träumer, will der beste Metzger Frankreichs werden oder Kathedralen renovieren. Wenn er mal wieder glaubt, dass bald alles anders wird und ganz groß träumt, lachen sie ihn aus.

Édouard Louis schreibt seine Geschichte. Der französische Autor wurde vor über zehn Jahren mit seinem autobiografischen Roman "Das Ende von Eddy" schlagartig bekannt. Heute gilt er als weltweit präsente Stimme, die die Verschränkungen von Klasse, Homophobie und Rechtsruck analysiert – anhand seiner eigenen Familie. So schrieb er nicht nur über sich selbst, sondern mehrfach über seine Mutter sowie über seinen Vater.

Der Bruder will Édouards Homosexualität aus ihm rausprügeln

Doch "Der Absturz" (Amazon-Affiliate-Link ) über den Bruder ist anders. Weil er so lange keinen Kontakt zu ihm hatte, erzählt er distanzierter. Er begab sich auf eine Spurensuche, sprach mit Ex-Partnerinnen, einer Ferienlagerbetreuerin sowie seiner Mutter, um dem Schicksal seines Bruders näherzukommen.

Seine eigenen Erinnerungen sind widersprüchlich: Sie sind von Ekel und Abscheu, Hass und Unverständnis auf Édouards Seite sowie einer eigenartigen Anziehung und Brüderlichkeit auf der anderen Seite geprägt. Als der Bruder später jedoch erfährt, dass Édouard schwul ist, will er die Homosexualität aus ihm rausprügeln. Das passt auch zu dem, was andere über ihn erzählen: Er sei sanft und lieb gewesen, aufopferungsvoll, ruhig, aber eben auch aufbrausend, aggressiv, gewalttätig, "an seinen Träumen erkrankt".

Was hätte er selbst tun können?

In "Der Absturz" macht Édouard Louis seine eigenen Unsicherheiten so deutlich wie nie zuvor. Er habe das Bedürfnis, den Bruder zu verstehen, seine Geschichte zu erzählen und dadurch zu erklären. Das ist sicher auch dadurch motiviert, dass er sich selbst im Leben des Bruders sieht, auch ihn hätte ein solches Schicksal ereilen können, hätte er nicht die Flucht geschafft. Da schwingt durchaus eine Art Schuldbewusstsein durch, wenn er sich fragt, was er selbst hätte tun können. Doch man spürt, dass er selbst weiß, dass er mit seinen Erklärungen an Grenzen stößt.

"Alle haben Recht und alle haben Unrecht", schreibt er. Es ist ein kompliziertes Schicksal, das nicht mit einer einfachen Gleichung aufzulösen ist. Wie viel strukturelle Ungleichheit liegt in dessen Tragik? Es liegt nicht nur, aber sicher auch an der Armut der Familie. Dasselbe gilt für die frühe Trennung vom Vater sowie für seinen Alkoholismus: "Waren die Träume die Ursache oder eine Folge seines Schicksals?"

Die Queer-Kollekte
Die queere Community braucht eine starke journalistische Stimme – gerade jetzt! Leiste deinen Beitrag, um die Arbeit von queer.de abzusichern.
Jetzt unterstützen!

Der "Abschluss eines Familienfreskos"

Édouard Louis findet die für ihn typische, unmittelbare, oft drastische Sprache, um die Grausamkeiten, Verletzungen und Schmerzen zu beschreiben. Immer dann, wenn seine Unsicherheit besonders groß ist, neigt er dabei zum Gedankenstrom. Sonja Finck übersetzte das Werk mit einem großen Gespür für Melodie und feine Unterschiede ins Deutsche.

Weil so viel unklar ist, listet der Autor verschiedene Fakten über den Bruder auf – die fehlende Unterstützung der Eltern, die Scheidung, die Alkoholsucht etc. Mit essayistischen Kapiteln, in denen er sich auf die Überlegungen etwa von Sigmund Freud, Joan Didion oder des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger stützt, ergibt das nach und nach eine Einkreisung seines Bruders, die ihm wie ein Pendel nahe kommt, den Kern aber nie trifft, weil es nicht treffen kann.

Kein Leben lässt sich durch Vereinfachungen erklären, Édouard Louis ist sich dessen bewusst und geht ehrlich damit um. Wieder einmal schafft er es, einem Menschen am Rand eine Stimme zu geben, aber ohne ihn zu verklären. Das Buch soll der "Abschluss eines Familienfreskos" sein. Man darf gespannt sein, was darauf folgt.

Infos zum Buch

Édouard Louis: Der Absturz. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Sonja Finck. 222 Seiten, Aufbau Verlag. Berlin 2025. Gebundene Ausgabe: 24 € (ISBN 978-3-351-03957-8). E-Book: 17,99 €. Auch als Hörbuch erhältlich.

Informationen zu Amazon-Affiliate-Links:
Dieser Artikel enthält Links zu amazon. Mit diesen sogenannten Affiliate-Links kannst du queer.de unterstützen: Kommt über einen Klick auf den Link ein Einkauf zustande, erhalten wir eine Provision. Der Kaufpreis erhöht sich dadurch nicht.

-w-