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So bedeutsam war der queere Beitrag zur Moderne
Das queere Kulturhighlight der Saison
Queere Positionen in der modernen Kunst wurden lange unsichtbar gemacht. Die Kunstsammlung NRW zeigt mit "Queere Moderne. 1900 bis 1950" nun die erste Ausstellung Europas zum Thema. Sie ist hochkarätig und wegweisend.

Lieblingsgemälde von Thomas Mann: Ludwig von Hofmanns Ölgemäde "Die Quelle" aus dem Jahr 1913 in der Ausstellung "Queere Moderne" (Bild: Fabian Schäfer)
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28. September 2025, 06:10h 5 Min.
Es beginnt mit Fragezeichen: Hat Kunst ein Geschlecht? Was macht Kunst queer? Welches Leben ist politisch? Was ist ein queerer Blick? Diese und weitere Fragen stehen auf einem riesigen Transparent am Anfang der Ausstellung "Queere Moderne. 1900 bis 1950" im K20, einem der Ausstellungshäuser der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen.
Es sind Leitfragen, die Diskussionen anregen und Orientierung bieten können beim Besuch dieser Schau. Sie lassen sich nicht eindeutig beantworten, und gerade das macht sie so interessant – und komplex, je länger man darüber nachdenkt und je mehr Werke man gesehen hat.
Zwei Highlights schon am Anfang

Werk "Rosa Bonheur mit einem Stier" von Édouard Dubufe (Bild: Linda Inconi-Jansen)
Doch zunächst geht es einen Schritt zurück in der Geschichte: Im ersten Kapitel, dem Prolog, wird etwa das Werk "Rosa Bonheur mit einem Stier" des französischen Malers Édouard Dubufe von 1857 präsentiert: Der lesbischen Tiermalerin ist selbstbewusst ein männlich konnotierter Stier zur Seite gestellt. Der kurze Blick zurück ist sinnvoll und notwendig, denn er macht deutlich: Queerness mag ein moderner Begriff sein, doch von der Heteronormativität abweichende Lebens- und Liebesentwürfe bestanden bereits lange zuvor.
Das anschließende Kapitel "Modernes Arkadien" zeigt, wie Künstler*innen queere Themen in ihren Werken verhandelten, ohne den Moralvorstellungen zu widersprechen oder mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. Hier hängen zwei absolute Highlights: "The Critics" von Henry Scott Tuke, das als Cover des kürzlich erschienen Bandes "Eine kurze Geschichte der queeren Kunst" diente sowie "Die Quelle" von Ludwig von Hofmann.
Das Gemälde, das Thomas Mann am Schreibtisch sah
Das homoerotische Gemälde mit den nackten Jungs vor strahlendem Blau gilt als Lieblingsgemälde von Thomas Mann. Der Schriftsteller kaufte es 1914 und hängte es in sein Arbeitszimmer, ob in München, Kalifornien oder zuletzt in der Nähe von Zürich.
Hier, wie immer wieder in der Ausstellung, finden auch außereuropäische Positionen Platz, die zudem eine intersektionale Perspektive ermöglichen: Die Skulpturen des Schwarzen US-Amerikaners Richmond Barthé etwa lassen "den Schwarzen männlichen Körper zu einem Verhandlungsort seiner Homosexualität werden", heißt es im Wandtext.

Ausstellungsansicht mit Skulpturen von Richmond Barthé (Bild: Achim Kukulies)
Gertrude Stein und ihre "zweite Familie"
Wie wichtig nicht nur einzelne Künstler*innen, sondern der Austausch in Salons war (und ist), verdeutlichen die Abschnitte "Sapphische Moderne" genau wie "Queere Avantgarden und intime Netzwerke": Die Akteur*innen hatten Einfluss über ihren Zirkel – und über den Atlantik – hinaus, wie Tirza True Latimer in ihrem Text im Katalog (Amazon-Affiliate-Link ) beispielhaft an Gertrude Stein und ihrer "zweiten Familie" beleuchtet.
Der künstlerische Austausch beleuchte "Dimensionen der Moderne, die lange verborgen waren", schreibt die Kunsthistorikerin. Und: "Ich behaupte, dass diese Initiativen nicht nur zur Entwicklung alternativer Sprachen beitrugen, sondern auch zu alternativen Wertesystemen innerhalb der Moderne". Ein aufschlussreicher Beitrag, genau wie die anderen Essays im Katalog, der im Hirmer-Verlag erschienen ist.

Die Ausstellung "Queere Moderne" ist bis zum 15. Februar 2026 im K20 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (Grabbeplatz 5, Düsseldorf) zu sehen (Bild: Fabian Schäfer)
Queerness ist mehr als Sex
Auch dem Aspekt des queeren Begehrens trägt die Ausstellung Rechnung, etwa mit Jean Cocteaus pornografischen Zeichnungen oder Beauford Delaneys Akt ohne Titel. Dass er als Schwarzer einen weißen Mann malte, verschiebt "die damals vorherrschenden Macht- und Blickverhältnisse und spielt mit Fragen von Intimität und Repräsentation".
Ein großes Verdienst der Ausstellung aber ist, dass Queerness nicht auf Sexualität reduziert wird. Sie wird nicht versteckt, doch der Zugang ist breiter: Die Werke werden als "Zeugnisse einer tiefgreifenden Erweiterung ästhetischer und gesellschaftlicher Horizonte" verstanden und präsentiert.
Vor wenigen Jahren wohl zu gewagt
Das wird vor allem in einem unerwarteten Kapitel deutlich: "Queere Lesarten von Abstraktion" erschließt sich auf den ersten Blick womöglich nicht. Doch man erfährt, dass der Schöpfer der strengen geometrischen Kompositionen, Piet Mondrian, der Abstraktion geschlechtliche Attribute zuschrieb und an einer Hierarchie der binären Geschlechter festhielt. Marlow Moss, im eigenen Leben mit tradierten Geschlechterrollen brechend, brach mit den doppelten Linien auch Mondrians Logik.

Ausstellungskapitel "Queere Lesarten von Abstraktion" (Bild: Linda Inconi-Jansen)
Vor wenigen Jahren noch wäre so eine Ausstellung als zu gewagt angesehen worden, sagt Gastkuratorin Anke Kempkes am Eröffnungsabend. In manchen Teilen auch der westlichen Welt kann es bald wieder so sein, schwingt da unweigerlich mit. Und so betont auch Direktorin Susanne Gaensheimer die aktuelle Relevanz, queerem Schaffen Sichtbarkeit zu ermöglichen.
Ein gelungener Rundumschlag
Der Bezug zur Gegenwart wird glücklicherweise nicht überstrapaziert, doch auch das vorletzte Kapitel "Queerer Widerstand seit 1933" verweist ins Heute: Freiheiten gingen verloren, und Künstler*innen wie Jeanne Mammen, Hannah Höch, Toyen, Claude Cahun und Marcel Moore oder Jean Cocteau fanden ihre eigenen Strategien zwischen innerer Emigration, Opposition oder Kollaboration. Ästhetik und Politik waren und sind verschränkt.
Der Ausstellung, laut Eigenaussage die erste ihrer Art in Europa, gelingt ein Rundumschlag: Sie verdeutlicht den lange übersehenen bis unterdrückten queeren Beitrag zur Moderne, verzettelt sich aber nicht in theoretischen kunsthistorischen Diskursen. Die Werke werden präzise und verständlich kontextualisiert, einzig der Abschnitt "Surreale Welten" hätte noch mehr Erläuterungen bedürft. Ob zudem jede beabsichtigte Sichtachse den erwünschten Mehrwert erzielt, bleibt fraglich.
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Leidenschaft und Erkenntnisinteresse
"Queere Moderne. 1900 bis 1950" ist weit davon entfernt, nur gefällig zu sein, stützt sich aber auch auf Leuchtturm-Werke und deren ganz eigene Anziehungskraft. Die aus vielen renommierten Museen und Privatsammlungen nach Düsseldorf geholten Werke fast aller Gattungen machen die Ausstellung nicht nur hochkarätig, sondern zu einem bislang einmaligen Ort, um queere Kunst besser zu verstehen.
Man merkt der Schau, dem kuratorischen Konzept und nicht zuletzt dem Katalog die Leidenschaft, aber auch das Erkenntnisinteresse an, mit der das Team daran gearbeitet hat. Die Ausstellung kam außerdem in Zusammenarbeit mit einem queeren Beirat zustande. Gemeinsam mit "Sex Now" im NRW-Forum macht sie Düsseldorf zum queeren Kunst-Hotspot der Saison.
Links zum Thema:
» Mehr Infos zur Ausstellung auf der Homepage der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
» Der Katalog zur Ausstellung bei amazon.de
Mehr queere Kultur:
» auf sissymag.de
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