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Interview

"Queer­feindlichkeit ist die Einstiegsdroge für rechtes Gedankengut"

Wir sprachen mit Nikolas Lelle von der Amadeu Antonio Stiftung über rechtsextremen Hass gegen queere Menschen, die Sexualisierung von Verschwörungserzählungen und die Anfälligkeit der sogenannten politischen Mitte.


"Unsere Stadt bleibt hetero": Rechtsextremer Protest gegen den CSD Bonn im August 2025 (Bild: IMAGO / Middle East Images)
  • Von Marcel Malachowski
    4. Oktober 2025, 11:02h 8 Min.

Die Amadeu Antonio Stiftung beschäftigt sich seit der Nachwendezeit mit Rechtsextremismus in Deutschland. Sie ist benannt nach Amadeu Antonio, einem der ersten Todesopfer rechtsextremer Gewalt in der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung 1990.

Ziel der Stiftung ist die Stärkung einer demokratischen Zivilgesellschaft, die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet. Auch Queerfeindlichkeit ist zunehmend Thema. Wir sprachen darüber mit Dr. Nikolas Lelle, Leiter der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus.


Nikolas Lelle (Bild: Peter van Heesen)

Früher galten ja Leute, die kuriose Verschwörungsfantasien vertraten, als lustiger Party-Gag, wenn die Musik gerade schlecht war und der Alkohol langsam ausging. Mittlerweile aber wird damit wie in den 1930er Jahren Weltpolitik gemacht. "Die größte Verschwörung ist ja eigentlich der Kapitalismus", sagte Jan Böhmermann einmal und meinte wohl die tägliche Entmenschlichung von Milliarden Menschen, die in Armut leben müssen durch die Verschwörung der Mehrheitsgesellschaft, nichts von ihren unverdienten Privilegien abgeben zu wollen. Warum wird aber die größte Verschwörung ignoriert – und stattdessen immer öfter schlicht irgendwelcher Quatsch vor allem über Queers und Juden zusammenfantasiert?

Kritische Gesellschaftstheorie ist kompliziert und anstrengend. Den Kapitalismus als Verschwörung zu erklären, halte ich nicht für zielführend. Sicher beruht diese Gesellschaftsordnung auf Ausbeutung und produziert Armut und, ja, das alles wird gleichzeitig verschleiert, aber hier verschwört sich niemand. Karl Marx sprach vom Waren-Fetisch, um zu erklären, warum wir alle, die wir unseren täglichen Anteil daran haben, diese kapitalistische Ordnung am Laufen zu halten, genau das nicht begreifen – und wir deshalb nicht fähig sind, die Geschichte in die eigene Hand zu nehmen. Diese Art gesellschaftstheoretischer Reflexion ist mühsam.

Verschwörungserzählungen dagegen sind einfach und attraktiv: Sie versprechen Durchblick und Geheimwissen, behaupten, den Vorhang gesellschaftlicher Verschleierung mit einfachen Fragen herunterzureißen. In Verschwörungserzählungen werden komplexe gesellschaftliche Prozesse personalisiert erklärt: Hinter allem stecken benennbare Personen und Personengruppen. Die Corona-Pandemie wurde in die Welt gebracht, um sich zu bereichern, der Ukraine-Krieg begann, um uns abzulenken, CSDs finden statt, um Kinder zu "verschwulen", und den 7. Oktober haben die Israelis inszeniert, um ethnische Säuberung zu betreiben – so lauten gängige Narrative. Diese Erzählungen behaupten zu wissen, wer die Schuldigen sind, die nur zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Das ist natürlich Unfug – aber dennoch brandgefährlich, weil es zu Gewalt animiert.

Seit einigen Jahren stehen ja auch und immer öfter Queers im Mittelpunkt solch kurioser und oft absurd sexualisierter Verschwörungsfantasien. Diese kommen sowohl aus dem MAGA-Lager als auch fast identisch aus dem Iran oder von Religionsgelehrten aus Ägypten. Ist das nicht auf den ersten Blick widersprüchlich, dass verfeindete Lager dieselben Verschwörungsfantasien vor allem über Juden und Queers haben? Und noch kurioser, dass diese dann etwa von namhaften Mode-Influencerinnen auf TikTok weiterverbreitet werden?

Islamismus und Rechtsextremismus sind Ausdruck derselben historischen Entwicklung: Die Polykrisen der vergangenen Jahrzehnte wurden nie emanzipatorisch gelöst, sondern führten zu einem globalen Rechtsruck. In dem gedeihen solche autoritären Bewegungen, die immer auf den Hass auf Minderheiten setzten und setzen und so tun, als würden sie Normalität herstellen: "Deutschland, aber normal" nannte die AfD ihre Kampagne dazu. Zu dieser repressiven Normalität gehören LGBTIQ+ nicht. Im Gegenteil, in den Köpfen von Rechten oder Islamisten sind Queers eine Gefahr, die es zu bannen gilt. Denn ihre Existenz zeigt, dass das Normale gar nicht so normal ist, sondern gesellschaftlich hergestellt. Um diesen politischen Feind zu diskreditieren sind Verschwörungserzählungen ein probates Mittel. Sie verfangen durch ihre Einfachheit.

Besonders die Figur einer angeblichen "Sexualisierung" von Minderjährigen alleine durch die Anwesenheit durch Dragqueens oder andere Queers ist ja eine sehr beliebte Verschwörungsfantasie. Mal schlicht gefragt: Wie kommen Menschen eigentlich auf so einen Quatsch? Ist das nicht schlicht ein Zeichen von Wohlstandsverwahrlosung: Zu viel Wohlstand, zu viel Zeit – und aus lauter Langeweile, weil auf Netflix gerade nichts läuft, werden dann irgendwelche Absurditäten auf Telegram eingetippt?

Wir müssen uns fragen, was diesen Menschen diese Erzählungen verheißen, und sollten das Phänomen dabei nicht entpolitisieren. Es geht vielfach schlicht darum, Angst zu verbreiten, um Hass zu schüren. Queer­feindlichkeit kommt gut an, darauf können sich viele einigen, auch Menschen, die sich für die politische Mitte halten. Denn die Themen Sexualität, Familie, Kinder sind mit unbewussten Vorstellungen von Normalität und Identität verbunden und können deshalb leicht politisch instrumentalisiert werden. So schaffen es rechte und rechtsextreme Narrative auch Zustimmung zu finden bei Leuten, die politisch sonst anders ticken. Queer­feindlichkeit ist die Einstiegsdroge für rechtes Gedankengut.

Sexualisierte Verschwörungsfantasien waren ja schon im Rassismus der letzten Jahrhunderte und auch im Antisemitismus vor allem dann des frühen 20. Jahrhunderts ein beliebtes Motiv. Müsste man da mit Freud nicht feststellen: Irgendwie geht es letztlich doch nur immer nur um Sexuelles? Aber auch als Verdrängung und Entlastung der Mehrheitsgesellschaft, um nicht über die wirklichen gesellschaftlichen Machtverhältnisse reden zu müssen, die dann Täter*­innen und Opfer umkehren?

Zu Sigmund Freuds Zeiten war das Sexuelle noch stärker tabuisiert. Heute leben wir in einer Zeit mit Sex-Kolumnen, leicht zugänglicher Online-Pornografie, mit Unterwäschewerbung von Heidi Klum und ihrer Tochter. Sexuelles ist so präsent wie nie. Die kulturindustrielle Nutzung von Sexualität hat aber nicht dazu geführt, dass Sexualität weniger verdrängt ist als noch zu Zeiten Freuds. Es dürfte heute noch genauso viele unbewusste und damit uneingestandene sexuelle Sehnsüchte geben, die, weil sie verdrängt sind, nur über Abwehr und Hass ausagiert werden können. Sexualisierte Verschwörungsfantasien erlauben es, über die Themen zu sprechen, ohne sich dabei verdächtig zu machen. Es gibt im Antisemitismus wie in der LGBTIQ+-Feindschaft auch immer eine Faszination für das gehasste Objekt. Dessen angeblich abartigen Praktiken werden beschrieben. Es muss immer wieder darüber geredet werden. Am Ende geht es hier um das, was Adorno und Horkheimer einmal pathische Projektion genannt haben.

Die queer­feindliche Hamas hat über zwanzig Jahre lang ein mafiöses und korruptes System von feudalistischer Ausbeutung und diktatorischer Unterdrückung der Palästinenser*­innen geschaffen, hat systematisch Frauen unterdrückt, sogar ihren Kleidungsstil vorgeschrieben und ein Anführer der Hamas sagte laut Memri nach dem 7. Oktober: "Wir sind stolz, nun unser eigenes Volk im Kampf opfern zu dürfen". Wie ist es zu erklären, dass Linke sich selbst noch nach dem 7. Oktober mit dieser Hamas solidarisch erklären?

Diese Linken sehen all das nicht. Die neue Anti-Israel-Bewegung gibt ihnen das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Viele sind Geisterfahrer des guten Willens – und sehen nicht was sie anrichten, wenn sie behaupten "die Palästinenser" seien per se Unterdrückte und befänden sich in einem legitimen Befreiungskampf. Die Hamas gilt diesen Leuten als schlagkräftigste Befreiungsarmee. Die Symbole dieser Islamisten, wie das rote Terror-Dreieck, finden sich deshalb jetzt auch auf Transparenten von linken Besetzungen. Die Entwicklung ist fatal: Hier wird Islamismus normalisiert. Auch hier gilt es das Phänomen nicht zu entpolitisieren, aber wir müssen verstehen, dass Antisemitismus nach dem 7. Oktober wieder zu einem kulturellen Code wurde, also wieder in Mode kam. Die Verklärung der Hamas und des palästinensischen Terrors geht damit einher.

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Haben sich denn Verschwörungsfantasien nach dem 7. Oktober noch einmal verstärkt oder verschärft?

Man kann seit der Corona-Pandemie beobachten, dass Verschwörungserzählungen zunehmend genutzt werden, um Geschichte zu erklären. Die diskursive Beschleunigung und Simplifizierung, die auf Social Media-Dynamiken beruht, ist ein guter Nährboden für solche Fantasien. Im postfaktischen Zeitalter wird es sowieso zunehmend schwieriger zu entscheiden, was wahr und was falsch ist. Keine guten Zeiten für kritische Gesellschaftstheorie.

Bezogen auf den 7. Oktober wurde sichtbar, dass auch israelbezogener Antisemitismus an vielen Stellen auf Verschwörungsnarrative zurückgreift, was zunehmend gängige Verharmlosungen dieser Variante des Judenhasses unterläuft. In Berlin stand lange neben dem Jüdischen Museum auf einem Altglas-Container geschrieben: "Hamas = Mossad".

Hat nicht die Smartphonisierung der Gesellschaft tatsächlich all das verschlimmert? Es wirkt, als würden sich viele auf der Straße oder in der U-Bahn verängstigt und unsicher hinter ihren Smartphones verstecken, um nicht einmal aus dem Augenwinkel ihre verstörende und verunsichernde Umwelt wahrnehmen zu müssen. Ohne Kulturpessimist à la Neil Postman zu sein, aber ist das nicht ein Anzeichen völlig gestörter und zurückentwickelter sozialer Interaktionsfähigkeit, die dann letztlich dazu führt, dass sich Leute fantasielos, aber gewaltvoll irgendwelche Verschwörungsfantasien in der digitalen Welt zusammenreimen anstatt inspirierende und sozial bereichernde Fantasie interaktiv in die analoge Welt gleich neben ihnen einzubringen?

Sicher bestimmen Smartphones unser Leben wie nie, und das verändert auch, wie Menschen im Alltag einander begegnen. Die Interaktion findet in den Sozialen Medien statt und nicht im S-Bahn-Abteil, in dem man gerade sitzt. Dass das der Grund für mehr Verschwörungsfantasien ist, glaube ich aber nicht. Die gehörten schon immer zu krisenhaften Zeiten, weil sie einfache Antworten in schweren Zeiten versprechen. Wir sollten uns sehr genau Social-Media-Dynamiken ansehen, um zu begreifen, wie der virale Antisemitismus funktioniert und auf die Straße übersetzt wird. Und ja wir sollten auch ein Plädoyer halten für mehr gelingende soziale Beziehungen, für ein solidarisches Miteinander, für Nicht-Arbeit und Müßiggang.

-w-