Hauptmenü Accesskey 1 Hauptinhalt 2 Footer 3 Suche 4 Impressum 8 Kontakt 9 Startseite 0
Neu Presse TV-Tipps Termine
© Queer Communications GmbH
https://queer.de/?55343

Interview

"Der Ungehorsam steckt schon in der Zärtlichkeit selbst"

Victor Maria Diderich spielt im Theaterstück "Kein Wort von uns" die Hauptrolle. Im Interview spricht der queere Schauspieler über Verfolgung in der NS-Zeit, persönliche Betroffenheit und die Frage, wie sich Zärtlichkeit zwischen Männern auf der Bühne erzählen lässt.


Schauspieler Victor Maria Diderich (Bild: Niklas Berg)
  • 8. Oktober 2025, 11:58h 8 Min.

Am 11. Oktober feiert in Krefeld das Theaterstück "Kein Wort von uns" Uraufführung – pünktlich zum Coming Out Day. Geschrieben von Autorin Simone Saftig und inszeniert von Regisseur und queer.de-Autor Marvin Wittiber, ist es das erste deutschsprachige Stück, das sich explizit an junge Menschen ab 14 Jahren richtet und die Verfolgung von Männern nach Paragraf 175 im Nationalsozialismus thematisiert. Erzählt wird die Geschichte dreier Jungen, die in einem Lehrlingsheim zwischen Zwang, Loyalität, Zuneigung und Verrat um ihre Gefühle und Identitäten ringen.

Einer von ihnen ist Kaspar, gespielt vom queeren Schauspieler Victor Maria Diderich. Für ihn ist die Rolle mehr als nur historische Auseinandersetzung – sie ist auch ein sehr persönliches Erinnerungs- und Empowerment-Projekt. Wir sprachen mit ihm über queere Verfolgung, die politische Aktualität des Stücks und die Frage, warum Zärtlichkeit zwischen Männern für ihn ein Akt des Widerstands ist.

Du spielst in "Kein Wort von uns" die Hauptrolle Kaspar. Worum geht es in dem Stück – und warum ist die Geschichte aus deiner Sicht gerade heute wichtig?

Das Stück erzählt von drei Jungen, die zur Zeit des Nationalsozialismus in einem Lehrlingsheim leben. Es geht um die Verfolgung vermeintlich homosexueller Männer – also aller, denen gleichgeschlechtliche Handlungen nach Paragraf 175 vorgeworfen wurden. Die Figuren verkörpern drei Haltungen: systemtreu und homophob, unsicher und zerrissen, widersetzend und freiheitsliebend. Doch am Ende leiden alle unter der Repression.

Mich beschäftigt, wie aktuell das Thema ist. Queere Rechte sind weltweit bedroht – und auch ohne politische Rückschritte sind wir noch lange nicht am Ziel. "Kein Wort von uns" zeigt einen alternativen Umgang miteinander: eine queere Selbstverständlichkeit, vor allem auch eine zärtliche, liebevolle, konkurrenzlose Nähe zwischen Männern.

Kaspar erlebt Zuneigung zu einem anderen Jungen in einer Zeit, in der Paragraf 175 jede Nähe kriminalisierte. Wie stellt ihr diese Mischung aus Zärtlichkeit und Gefahr auf der Bühne dar?

Kaspar ist weder system- noch ideologietreu, hat aber den Hass des Systems internalisiert. In ihm kämpfen Anziehung und Abscheu, Liebe und Ekel, Lust und Verbot. Er schwankt zwischen Ausbruch des wahren Gefühls und der Unmöglichkeit, dem Verbot des Aussprechens und Auslebens. Auf der Bühne haben wir das choreografisch übersetzt: Wut zeigt sich als Gerangel, Zärtlichkeit als Spiel – ein Rahmen mit Regeln, den Kaspar braucht, um sich sicher zu fühlen. Und selbst diese Zärtlichkeit ist nie ganz entspannt.

Historische queere Biografien aus der NS-Zeit sind fast nur durch Täter*innen-Akten überliefert. Wie fühlt es sich an, in dieser Lücke eine Figur wie Kaspar zu verkörpern?

Ich musste sehr genau unterscheiden, wessen Perspektive in den Texten spricht. Auf Täter*innen-Akten kann ich keine Figur bauen. Stattdessen habe ich Kaspar über seine Dialoge und Reaktionen erschlossen – und durch Einfühlen, Ausprobieren und Nachempfinden ergänzt. Und immer wieder durch die Frage: Wie hätte ich mich in dieser Situation gefühlt, wie hätte ich mich verhalten?


Promofoto für das Theaterstück: "Kein Wort von uns" spielt im Krefeld der 1930er Jahre (Bild: Lukas Marvin Thum / Düsseldrama)

Das Stück richtet sich explizit auch an ein junges Publikum ab 14 Jahren. Was hoffst du, dass gerade junge queere Zuschauer*innen aus dieser Inszenierung mitnehmen?

Ich habe zum ersten Mal bewusst realisiert, dass ich zu einer damals verfolgten Gruppe gehöre. In der Schule habe ich das nie gelernt. Obwohl ich mich viel mit dem Nationalsozialismus beschäftigt habe, blieb die Verfolgung nach Paragraf 175 fast unsichtbar. Ich hoffe deshalb, dass das Stück zur Aufklärung unserer queeren Geschichte beiträgt. Ich wünsche mir, dass junge queere Menschen ihre eigene Geschichte kennenlernen und zugleich vom Mut der Figuren inspiriert werden, die trotz schlimmster Umstände nach ihren wahren Gefühlen gehandelt haben, die queer waren, ohne den Begriff zu kennen. Da fällt mir ein Satz von Dieter Forte ein: "Glaubt an Eure Träume. Sie sind die Wirklichkeit. Glaubt Euren Gefühlen. Sie sind die Wahrheit."

Du bist Teil der #ActOut-Initiative. Welche Bedeutung hat dieses kollektive Coming-out in der Branche für dich und deine Arbeit als Schauspieler?

Vor #ActOut habe ich Formulierungen gesucht, um mein Privatleben zu verschleiern – aus Angst, man könnte mir heterosexuelle Rollen nicht zutrauen. Schauspieler*innen wurde geraten, sich deshalb nicht zu outen. Das ist absurd: Schauspiel heißt, eine Figur zu verkörpern, die nicht ich bin. 2021 hat #ActOut die Sichtbarkeit enorm gestärkt. Ich empfehle allen das Manifest auf act-out.org.

Du und der Regisseur seid die einzigen offen queeren Künstler im Team. Hast du das Gefühl, dass dadurch bestimmte Perspektiven oder Sensibilitäten in die Arbeit einfließen, die sonst fehlen würden?

Auf jeden Fall. Für dieses Stück ist ein queerer Blick entscheidend – sei es aus eigener Erfahrung oder aus intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema. Der Austausch zwischen Marvin und mir, unser Abgleich von Erfahrungen und Meinungen, war dabei ein essenzieller Input. Und ich finde es wichtig, dass nicht nur eine einzelne queere Stimme da ist: Jede Erfahrung ist individuell, und manchmal entsteht das Universelle gerade erst im Dialog zwischen verschiedenen Perspektiven.

Kaspar entdeckt Gefühle für einen anderen Jungen unter lebensgefährlichen Bedingungen. Konntest du beim Spielen eigene Erfahrungen oder Erinnerungen einfließen lassen – und wie hat das deine Arbeit geprägt?

Das ist immer eine persönliche Entscheidung. Ich gehe damit eher vorsichtig um, vor allem bei Themen, die mich ohnehin stark berühren und auch nach den Proben noch nachwirken. Natürlich helfen mir meine eigenen Erfahrungen als Abgleich und Inspiration. Im Spiel aber versuche ich, als Kaspar zu denken und zu fühlen. Statt persönliche Erinnerungen eins zu eins abzurufen, erschaffe ich – inspiriert von meinem Leben – neue Bilder und Erinnerungen für Kaspar. Die kann ich nachempfinden, ohne mich selbst zu sehr zu belasten.

Seit #ActOut hat sich einiges bewegt. Wie erlebst du die Repräsentation queerer Menschen auf deutschen Bühnen und Bildschirmen aktuell – und wo fehlt es noch?

In den letzten Jahren hat sich einiges getan: Es gibt mehr queere Rollen und sichtbarere Vorbilder – auf der Bühne wie auf dem Bildschirm. Das ist ein guter Weg. Aber oft bleibt Queerness noch immer der Konflikt selbst, das Problem, um das sich die Handlung dreht. Wir sind noch nicht da, wo Figuren einfach queer sein können – ohne Kommentar. Das mag die traurige Realität abbilden, aber Kunst kann mehr. Sie kann Akzeptanz schaffen, indem sie nicht nur zeigt, was ist, sondern auch, was sein könnte. Dafür braucht es auch mehr queere Figuren in nicht explizit queeren Stücken oder Filmen – Menschen, die einfach leben, wie sie leben.

- w -

Drei junge Schauspieler tragen dieses Stück. Du bist der einzige offen queere im Ensemble. Spürst du in den Proben, dass deine beiden Kollegen nicht betroffen sind – und verändert das etwas in eurer gemeinsamen Arbeit?

Meine Kollegen gehen sehr sensibel und empathisch mit dem Thema um, sie hören zu und wollen verstehen. Aber ich trage es sicher anders mit mir herum. Für mich ist es persönlich: Die Zitate der Täter*innen treffen mich, sie lösen Wut, Ekel und Angst aus. Wenn ich nach den Proben nach Hause komme und meinen Mann umarme, merke ich, dass ich nicht einfach abschalten kann. Im Abgleich zu meinem eigenen Leben finde ich unweigerlich Parallelen – das macht es schwerer als ein reines Mitfühlen von außen.

"Kein Wort von uns" wird als "Akt zärtlichen Ungehorsams" beschrieben. Was bedeutet dieser Ausdruck für dich persönlich?

Ich finde den Ausdruck wunderschön! Es gibt in unserer Gesellschaft – gerade zwischen Männern – bis heute viel zu wenig Zärtlichkeit. "Zärtlicher Ungehorsam" bedeutet für mich, meinen Gefühlen zu vertrauen, auch wenn sie als verboten gelten. Der Widerstand steckt schon in der Zärtlichkeit selbst, die damals als "verweichlicht" oder "volksschädlich" galt. Die Figuren widersetzen sich also doppelt: gegen das System – und nicht mit dessen Mittel der Gewalt, sondern mit dem verbotenen Mittel der Zärtlichkeit.

Wenn du Kaspar heute wirklich treffen könntest – was würdest du ihm sagen?

Kaspar hat so, wie er im Stück beschrieben wird, nie existiert. Aber er steht für viele junge queere Menschen, die nach Paragraf 175 verfolgt wurden. Ich würde ihm sagen: Dein Widerstand war nicht umsonst. Der Paragraf 175 wurde 1994 endlich abgeschafft, und im Jahr 2025 erzählen wir deine Geschichte auf der Bühne. Vielleicht würde es ihn freuen, dass er damit Menschen inspiriert und ermutigt. Ich würde ihn einladen, mit meinem Mann und mir händchenhaltend auf einer Wiese zu liegen – und ihm danken, dass er die Zärtlichkeit verteidigt hat.

Zur Person

Victor Maria Diderich wurde 2000 in Köln geboren. Von 2020 bis 2024 absolvierte er seine professionelle Schauspielausbildung an der Schauspielschule der Keller in Köln. Er sammelte erste Theatererfahrungen am Theater Bonn spielte am Theater der Keller in "Rettet den Kapitalismus!" und "Frühlings Erwachen: Baby, I'm Burning!". 2023 wurde Victor mit dem Kölner Theaterpreis PUCK als bester Nachwuchsschauspieler ausgezeichnet. An der Landesbühne Rheinland-Pfalz im Schlosstheater Neuwied spielte er "Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute" von Jens Raschke. In "Kardinalfehler" von Alistair Beaton und Dietmar Jacobs ist Victor als Priesterseminarist an verschiedenen Theatern zu sehen. Er spielte bereits einige Episodenhauptrollen in Fernsehserien (u. a. "SOKO Köln", "Der Staatsanwalt", "IaF – Die jungen Ärzte") und Nebenrollen in Fernsehfilmen (u. a. "Eine Klasse für sich", "Laim und das Hasenherz", "Käthe und ich").
-w-