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Debatte

Artikel 3 im Bundestag: Union unentschlossen, AfD zieht Pädo-Karte

Sollen queere Menschen verfassungsrechtlich geschützt werden? Eine Bundestagsdebatte zeigt, dass die Fronten eigentlich klar sind – nur CDU und CSU zieren sich.


Die Debatte dauerte etwas über eine Stunde (Bild: Parlamentsfernsehen)

Der Bundestag hat am Donnerstagvormittag wieder einmal über die Ergänzung von Artikel 3 des Grundgesetzes um das Merkmal "sexuelle Identität" debattiert – und es zeigt sich, dass es trotz jahrzehntelanger Debatten wohl noch ein weiter Weg bis zur Verabschiedung ist. Eingebracht hatten den Antrag die oppositionellen Grünen, dabei aber einen wortgleichen, überparteilichen Beschluss des Bundesrates vom 26. September als Vorlage genommen.

In dem Entwurf (PDF) heißt es, dass Artikel 3 im Grundgesetz im ersten Satz von Absatz 3 um den Zusatz "sexuelle Identität" erweitert wird. Aktuell lautet der Satz: "Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." 1994 wurde noch hinzugefügt: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."

Von SPD und Linken kam in der mehr als einstündigen Debatte grundsätzliche Zustimmung zu dem Antrag. Sprecher*innen der Union wiederholten zwar mantraartig, dass sie gegen Diskriminierung von queeren Menschen seien. Gleichzeitig behaupteten sie aber, dass eine Änderung eigentlich nicht notwendig sei – obgleich unter diesem Grundgesetz Homosexuelle etwa bis 1994 durch den Paragrafen 175 verfolgt worden sind.

"Es geht hier nicht um parteipolitische Debatten"

Nyke Slawik, die queerpolitische Sprecherin der Grünen, stellte den Antrag vor und appellierte an die Union: "Im Artikel 3 klafft eine Lücke, eine historische Wunde, ein bedrohliches Schweigen. Daher danke ich dem Bundesrat für sein starkes Votum und sage heute: Auch wir als Bundestag müssen uns unserer Verantwortung stellen!", so die Leverkusenerin. "Es geht hier nicht um parteipolitische Debatten, sondern um Haltung für Demokratie. Es geht um Menschlichkeit." Das habe der Bundesrat parteiübergreifend erkannt. "Denn das ist kein Gesetzentwurf der Grünen", erklärte Slawik. In der Länderkammer sei er schließlich von Ministerpräsident*innen der CDU (Kai Wegner aus Berlin, Daniel Günther aus Schleswig-Holstein und Hendrik Wüst aus Nordrhein-Westfalen) mit eingebracht worden. "Es gibt keinen Grund, länger zu warten."


(Bild: Parlamentsfernsehen)

Das sahen Redner*innen der Union freilich anders. Martin Plum, Ansgar Heveling (CDU), Christian Moser (CSU) und Tijen Ataoğlu (CDU) erklärten, das Grundgesetz verbiete schon heute Diskriminierung aufgrund sexueller Identität. "Diese Änderung ändert nichts. Sie wiederholt verfassungsrechtlich nur das, was längst gilt", erklärte etwa Blum. Queere Menschen seien "bereits jetzt vollständig abgesichert", so Heveling. Dabei verwiesen die Abgeordneten auf die Rechtsprechung und aktuelle Grundgesetzkommentare.

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"Flirt mit der extremen Rechten oder Grundgesetz stärken"

Der Ansicht, queere Menschen seien automatisch für immer gesichert, widersprach unter anderem der queerpolitische Sprecher der Linksfraktion, Maik Brückner. Er verwies dabei beispielsweise auf das EU-Land Ungarn, das die Rechte queerer Menschen – etwa durch das Homo-Propaganda-Gesetz aus dem Jahr 2021 – extrem einschränkt.


(Bild: Parlamentsfernsehen)

Auch den von der Union geforderten Gesprächsbedarf sieht er nicht: "Die Idee ist wirklich nicht neu", so Brückner. Schon der Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR habe einen derartigen Schutz vorgesehen. "Leute, das war vor 35 Jahren", erklärte Brückner. "Von einem Schnellschuss kann wirklich keine Rede sein. Es wird höchste Zeit, dass das endlich vorankommt. Bei jeder Fraktion außer der Union sei klar, wie sie abstimmen wird. "Sie haben die Wahl: Flirt mit der extremen Rechten oder Grundgesetz stärken", so Brückner weiter.

SPD-Redner*innen signalisierten grundsätzliche Zustimmung, kritisierten jedoch den Antrag der Grünen – wie es auch die Abgeordneten der Union taten. Vor der Einbringung müsse man erstmal über die Sache reden, so ihre Forderung. Die SPD-Politikerin Carmen Wegge warf der Ökofraktion vor, keinen Dialog mit anderen Fraktionen zu suchen, sondern "auf Konfration gesetzt" zu haben. Der Sozialdemokrat Hakan Demir stellte fest, dass derzeit die Zweidrittelmehrheit "noch nicht" erreicht sei, es aber Redebedarf gebe.


(Bild: Parlamentsfernsehen)

Immerhin: Als letzter Redner erklärte der CDU-Politiker David Preisendanz, dass er sich für eine Reform ausspreche: Für ihn wiege schwer, "dass wir in Artikel 3 bereits heute bestimmte Gruppen explizit aufführen, die Opfer von Diskriminierung sind". Homosexuelle Menschen seien "die einzige Opfergruppe der Nationalsozialisten, die nicht in Artikel 3, Absatz 3 aufgenommen wurden, und auch unter Geltung des Grundgesetzes strafrechtlich verfolgt wurden". Gleichzeitig behauptete auch er, dass eine "rechtliche Schutzlücke" eigentlich nicht existiere.


(Bild: Parlamentsfernsehen)

Die Grünen versuchten, ihren Antrag als "wahrhaft parteiübergreifend" darzustellen, wie Helge Limburg in der Debatte betonte. "Der Bundesratsbeschluss zeigt, dass Diskriminierungsschutz nicht eine bestimmte Parteifarbe hat", sagte der Niedersachse. In die Reihen der Union rief er: "Meine Damen und Herren: Was verlieren heterosexuelle Cis-Männer wie ich einer bin, durch eine Ausweitung der Diskriminierungsverbote? Was wird uns weggenommen: Nichts!"

AfD setzt auf Konfrontation – und verbreitet Lügen

Aggressiv zeigten sich die vier Abgeordneten der AfD, die zum Thema sprachen. Drei Redner, Fabian Jacobi, Stephan Brandner und Ulrich von Zons führten dabei Pädophilie als Grund an, warum sexuelle Identität nicht anerkannt werden dürfe. Pädosexualität und Zoophilie seien etwa "streng genommen Ausprägungen der sexuellen Identität", behauptete etwa von Zons. Jacobi erklärte: "Die Feststellung etwa, dass das sexuelle Interesse an Kindern eine Identität begründet, die dann von der Verfassung geschützt wäre, bedarf keiner Überdehnung des Begriffs. Sie liegt vielmehr nahe."

Freilich ist das eine Lüge: Pädosexuelle Handlungen sind in Deutschland immer – auch nach einer möglichen Verfassungsänderung – strafbar, da Kinder nicht einwilligungsfähig sind. Das Bundesverfassungsgericht hatte etwa 2008 in einer Entscheidung geschrieben, das Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung "findet seine Grenze, wo die sexuelle Selbstbestimmung anderer betroffen ist, insbesondere bei Kindern". Das trifft auch auf Sex mit Tieren zu. Auch sind Begriffe wie "sexuelle Orientierung" oder "sexuelle Identität" schon länger durch diverse Gesetzen oder Landesverfassungen etabliert-

Brandner sorgte in seiner Rede – mal wieder – für einen Eklat, als er gerade darüber sprach, dass sich manche Menschen zu "Tieren hingezogen fühlen" und nebenbei die Grünenpolitikerin Claudia Roth beleidigte ("Sie glauben gar nicht, an was ich denke, wenn ich Sie sehe"). Bundestagspräsidentin Julia Klöckner schritt mit den Worten ein: "Das geht hier jetzt zu weit." Nach der Brandner-Rede sagte die CDU-Politikerin: "Menschen mit unterschiedlicher sexueller Identität lächerlich zu machen, […] das gehört sich für dieses Hohe Haus nicht und deshalb rüge ich das."


(Bild: Parlamentsfernsehen)

Die AfD-Vizefraktionschefin Beatrix von Storch zeigte in ihrer Rede ihre pauschale Ablehnung gegenüber queeren Menschen. Trans Frauen bezeichnete sie etwa abwertend als "Männer, die rumheulen, weil man sie mit falschem Pronomen anspricht". Gleichzeitig brandmarkte die Berlinerin die Union, weil sie angeblich zu queerfreundlich geworden sei: "Wer eine andere Politik will, die ganz sicher Gender-Gaga in den Mülleimer – gerne in die Biotonne – schiebt und nicht ins Grundgesetz, dem bleibt nur die AfD."

"Wandernder Altherrenwitz"

Der SPD-Abgeordnete Helge Lindh brandmarkte in einer frei gehaltenen Rede die AfD: Dass sie so oft über "sexuelle Perversion" spreche, sage etwa mehr über die Partei aus als über queere Menschen. Er warf den Rechtsextremen "Demagogie" vor und bezeichnete die Partei als "wandernden Altherrrenwitz". Zudem kritisierte er, wie die AfD über queere Menschen spreche: "Es geht hier um das Leben und die Freiheit von Menschen, nicht um eine Ideologie", so Lindh.

Nun wird das Thema in den Ausschüssen besprochen. Für eine Verabschiedung wäre eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Da die rechtsextreme AfD über fast ein Viertel der Sitze verfügt, müssten also – die Zustimmung von SPD, Grünen und Linken vorausgesetzt – auch die überwiegende Mehrheit der Unionsabgeordneten dafür stimmen. Das dürfte schwierig werden. Zur Erinnerung: Bei der Abstimmung zur Ehe für alle votierten 2017 drei Viertel der Unionsabgeordneten dafür, am Ehe-Verbot für Schwule und Lesben festzuhalten (queer.de berichtete). Auch eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat gilt nicht als sicher, da ein Koalitionspartner das jeweilige Bundesland dazu zwingen kann, sich bei der Abstimmung zu enthalten – und im Bundesrat wird eine Enthaltung wie eine Nein-Stimme gewertet.

Das Thema von Artikel 3 ist bereits wiederholt im Bundestag debattiert worden. Queere Organisationen fordern die Einführung aber bereits seit gefühlten Ewigkeiten. Vor knapp 20 Jahren machte der queere Verband LSVD etwa eine Kampagne für die Einführung, bei der er auch von Promis unterstützt worden ist – etwa von Showmaster Jürgen von der Lippe oder Hitparaden-Legende Dieter Thomas Heck (1937-2018), der ein engagiertes CDU-Mitglied war (queer.de berichtete). Unklar ist daher, warum die Union nach jahrzehntelanger Debatte immer noch Redebedarf sieht.

Übrigens: Bei einer Bundestagsanhörung im Jahr 2020 waren sich alle (!) Sachverständigen einig, dass es positiv wäre, sexuelle Identität ins Grundgesetz aufzunehmen (queer.de berichtete). Vielleicht sollten sich einige Unionsabgeordnete noch einmal diese Einschätzungen anhören.

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