https://queer.de/?55395
Queer History
Ein schwuler Schriftsteller zwischen den Fronten
In Hans Siemsens 1920 veröffentlichtem Buch "Wo hast du dich denn herumgetrieben?" mischen sich die Wunden des Ersten Weltkriegs mit den Narben eines verbotenen Begehrens.

Ein Angestellter der Kunsthalle Bremen zwischen zwei Gipsbüsten von Hans Siemsen, die 1923 von der Bildhauerin Renee Sintenis geschaffen wurden. Sie waren dort 2018 in der Sonderausstellung "What is Love? Von Amor bis Tinder" zu sehen (Bild: IMAGO / Eckhard Stengel)
- Von
12. Oktober 2025, 09:24h 4 Min.
Hans Siemsen, Sohn eines westfälischen Pfarrers, geriet früh zwischen die Welten. Paris lockte ihn 1913 in die Bohème des Café du Dôme, wo Kunst und Lebenslust im Widerspruch zur Enge seines Elternhauses standen. Dann kam der Krieg. 1917 wurde er an der Westfront verschüttet, verbrachte Monate im Lazarett. Von da an war er ein anderer: ein Sozialist, ein Skeptiker, einer, der die falschen Gewissheiten seiner Zeit durchschaute. "Wo hast du dich denn herumgetrieben?" – dieser lakonische Titel seines zweiten Buches von 1920 klingt wie eine Frage an den Heimkehrer, aber auch an den Suchenden, der sich in keiner Ordnung mehr heimisch fühlt.
Das Buch erschien 1920 bei Kurt Wolff in München. Es gehört zu den frühen Werken Siemsens. Es setzt sich aus kurzen Prosaskizzen, Reiseerinnerungen und autobiografischen Fragmenten zusammen. Dabei vermischt Siemsen Beobachtung, Reflexion und Erlebnisbericht.
Krieg als seelische Landschaft

Cover der Originalausgabe von "Wo hast du dich denn herumgetrieben?" (Bild: wikipedia)
Ein zentraler Inhalt sind Siemsens persönliche Erfahrungen aus dem Krieg und seine Folgen – seelisch, gesellschaftlich und kulturell. In dem Buch reflektiert der Autor Siemsen, wie der Krieg das Selbstverständnis, die Umgebung und die Wahrnehmung des Ich verändert. Während er keine große Schlachtbeschreibung liefert, dominieren Stimmungen: Desillusion, Schmerz, das Bewusstsein von Verlust, von Unterbrechung und Unausgesprochenem.
Siemsen beschreibt den Krieg nicht als Heldengeschichte, sondern als seelische Topografie. Da ist kein Donner der Kanonen, sondern ein dumpfer Nachhall: das Verschüttetsein, die Depression, die Ausweglosigkeit, die er in die Skizzen seines Buches einschreibt. Es ist die Welt eines jungen Mannes, der dem Tod zu nahe gekommen ist, um das Leben noch naiv zu betrachten. "Wo hast du dich denn herumgetrieben?" – die Frage seines Vaters wird zum bitteren Refrain eines Heimgekehrten, der nicht mehr dazugehört.
Homosexualität im Schatten
Doch Siemsens Buch trägt noch eine andere Schicht: die der verbotenen Liebe. Zwischen den Kriegsfragmenten blitzen Andeutungen einer nicht gelebten Homosexualität auf. Nicht Bekenntnis, sondern Verschweigen, nicht Erfüllung, sondern Repression. In einer Gesellschaft, die Gesetze wie den Paragrafen 175 als eiserne Gitter über die Intimität junger Männer legte, konnte Siemsen nur andeuten. Gerade deshalb ist die Melancholie seines Buches so eindringlich: Die Wunden des Krieges mischen sich mit den Narben eines verbotenen Begehrens.
Genau das ist ein bemerkenswerter Aspekt von "Wo hast du dich denn herumgetrieben?" Siemsen spricht bereits hier Themen wie Homosexualität und nicht gelebte sexuelle Identität an. Das Umfeld, in dem Siemsen lebt, die Erwartungen seines Elternhauses und die gesellschaftliche Moral werden kritisch reflektiert. Die "nicht gelebte Homosexualität" ist Teil des stillen Leidens; Repression wird spürbar, nicht explizit dramatisiert.
Das Herumgetriebensein als Lebensform

Altes Passfoto: Hans Siemsen im französischen Exil (Bild: Sanary Tourisme)
"Wo hast du dich denn herumgetrieben?" – diese Frage ist kein Vorwurf mehr, sondern ein Programm. Siemsen bleibt zeit seines Lebens einer, der sich treiben lässt: durch die Bars und Kneipen Berlins, durch die Exilorte Paris und New York, durch Freundschaften, die mehr als Freundschaften waren. Sein Werk markiert die Unruhe eines Lebens zwischen Anpassung und Widerstand, zwischen der Gewalt des Krieges und der Gewalt der Moral.
Siemsen nutzt seine persönlichen Kriegs- und Nachkriegserfahrungen, um gegen Militarismus, nationalistische Propaganda und repressive gesellschaftliche Normen zu schreiben. Die Forderung nach Menschlichkeit, nach Offenheit und gegen staatliche Kontrolle über Identität und Sexualität findet sich immer wieder. "Wo hast du dich denn herumgetrieben?" bildet einen frühen Moment dieser Kritik.
Vermächtnis einer Unruhe
Heute, im Rückblick, liest sich Siemsens Buch wie ein doppeltes Zeugnis: Es erzählt vom Krieg als innerem Zerfall und von einer Liebe, die nicht gelebt werden durfte. Dass dieses Werk in Vergessenheit geraten konnte, liegt nicht nur an den politischen Brüchen seines Lebens, sondern auch daran, dass es zu früh, zu leise, zu indirekt sprach. Doch gerade in dieser Zartheit liegt seine Kraft. "Wo hast du dich denn herumgetrieben?" ist weniger eine Antwort als eine offene Frage – an eine Zeit, die ihre Jugend an den Fronten verschüttete, und an eine Gesellschaft, die ihre Liebenden in den Schatten verbannte.
"Wo hast du dich denn herumgetrieben?" ist kein Kriegsroman im klassischen Sinne. Vielmehr ist es eine essayistische Skizze, in der sich ein Autor an die Ränder des Sagbaren wagt – an die Ränder seiner eigenen Identität, seiner Zeit und seiner Gesellschaft. Der Erste Weltkrieg erscheint hier nicht als Schlachtfeld, sondern als seelische Wunde; nicht als politisches Territorium, sondern als Erfahrung von Verlust, Not und Fremdheit.
Für das Verständnis der Literatur der Weimarer Zeit, der Prosaformen und der sexuellen sowie politischen Emanzipationsbewegungen ist Siemsens Werk von hoher Bedeutung. Es zeigt, wie Individuen sich in Umbruchszeiten orientieren – und wie Literatur helfen kann, Brüche zu markieren, Tabus zu berühren und die Stimme derer hörbar zu machen, die "herumgetrieben" sind – geografisch, psychisch, kulturell.
Links zum Thema:
» Reprint von Siemsens Buch bei amazon.de
Mehr zum Thema:
» Zum 50. Todestag von Hans Siemsen (23.06.2019)
Mehr queere Kultur:
» auf sissymag.de
Informationen zu Amazon-Affiliate-Links:
Dieser Artikel enthält Links zu amazon. Mit diesen sogenannten Affiliate-Links kannst du queer.de unterstützen: Kommt über einen Klick auf den Link ein Einkauf zustande, erhalten wir eine Provision. Der Kaufpreis erhöht sich dadurch nicht.















