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Weltliteratur
Sie dürfen nicht lieben, also morden sie
Erich Maria Remarques 1929 veröffentlichter Klassiker "Im Westen nichts Neues" ist nicht nur ein grandioser Antikriegsroman, sondern auch ein Buch der unterdrückten Zärtlichkeit.

Szene aus Edward Bergers gleichnamiger Verfilmung von Erich Maria Remarques Romans "Im Westen nichts Neues" (2022), die bei Netflix gestreamt werden kann (Bild: Reiner Bajo / Netflix)
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19. Oktober 2025, 12:52h 5 Min.
"Er hat eine kleine Falte über der Nase, die mir bekannt vorkommt."
Ein winziger Satz inmitten des Grauens. Paul Bäumer kniet über dem Sterbenden, einem französischen Soldaten, den er selbst getötet hat, und erkennt in dessen Gesicht etwas Vertrautes: die Spur eines Freundes.
In diesem Moment fällt die Fassade des Soldaten. Aus dem Krieger wird ein Mensch, der im Gesicht des Gegners das Echo des Freundes erkennt. Die Falte ist kein Zufall – sie ist die Metapher einer unbewussten Verbindung, einer Wiederkehr des Zärtlichen in der Hölle. Der tote Franz Kemmerich, der Jugendfreund aus der Schule, kehrt in der Stirnfalte des Sterbenden wieder: als Erinnerung an eine verlorene Intimität, die in Worten nicht ausgesprochen werden kann.
Kemmerich, der geliebte Freund. Er liegt seit Wochen tot, und doch steht er wieder auf – in der Falte eines Fremden, im Schatten des Feindes. Der Krieg bringt die Toten zurück, aber nicht als Gespenster, sondern als Spiegel. Was Paul erkennt, ist kein Gesicht, sondern ein Abdruck seiner eigenen Sehnsucht: die Erinnerung an eine Nähe, die der Krieg zugleich zerstört und ermöglicht hat.
Die unerlaubte Nähe
Im Frieden ist der Mann dem Mann nicht nah. Im Krieg schon. Zwischen Granaten, Blut und Dreck dürfen Körper einander berühren, dürfen Hände halten, dürfen Soldaten weinen.
"Ich halte seine Hand. Ich weiß nicht, warum ich sie halte."
Remarques Sprache zögert an dieser Stelle, als wüsste sie um das Ungehörige ihrer Zärtlichkeit. Thomas Kühne nannte dieses Phänomen "male bonding" – eine Gemeinschaft, die aus Scham geboren und von Todesangst getränkt ist. Doch Remarques Soldaten verbindet mehr als Kameradschaft. Es ist, als öffne der Krieg einen verbotenen Raum, in dem Berührung wieder möglich wird.
Hier liegt kein Begehren im sexuellen Sinn, sondern eine körperliche Fürsorge, die dem sonst verwehrten Ausdruck von Empathie und Liebe entspricht. In der zerschossenen Welt des Schützengrabens darf der Mann den Mann berühren – nicht als Liebender, sondern als Überlebender. Und doch schwingt in dieser Geste ein Rest des Verbotenen mit, etwas Zärtliches, das sich in der Sprache nicht fassen lässt.
Die Uniform ersetzt das Schweigen der Gefühle; das Gewehr, das Schweigen des Begehrens.
Kemmerichs Zimmer, die erste Beichte
Der Freund Kemmerich stirbt langsam, leise, an einem faulenden Bein. Paul sitzt bei ihm, legt den Arm um seine Schultern, "er weint, ich kann es nicht ertragen". Diese Szene, so unscheinbar, ist die erste Beichte des Romans. Hier bricht das Männliche in sich zusammen. Nicht Mut, nicht Tapferkeit, sondern eine Liebe, die keinen Namen hat, erfüllt den Raum.
Die Szene ist still, beinahe intim – der Körperkontakt, das Halten, das Weinen. In den frühen Lesarten wurde das als sentimentale Freundschaft verstanden. Doch neuere Deutungen – etwa bei Andrea Trocha-Van Nort (2016) und Dietmar Schönherr (Essay in Literaturkritik.de, 2021) – lesen hier eine homoerotisch grundierte Emotionalität, eine Zärtlichkeit, die über bloße Kameradschaft hinausgeht. Der Krieg ermöglicht, was der Frieden verbietet: Nähe unter Männern, unzensiert durch gesellschaftliche Rollenbilder.
Paul liebt seinen Freund, aber diese Liebe darf kein Wort finden. Also hält er ihn fest, als könne er so das Unsagbare in der Welt halten.
Der Feind als Doppelgänger
Als Paul später Duval tötet, tötet er Kemmerich noch einmal. Der französische Soldat liegt in seinem Blut, und Paul spricht zu ihm, bittet ihn um Verzeihung, verspricht, seine Frau und sein Kind zu versorgen.
"Du bist ein Mensch wie ich", sagt er – ein Satz, der zugleich Liebeserklärung und Selbstanklage ist.
In Duval sieht er sich selbst und jenen Freund, den er verloren hat. Die Grenzen lösen sich auf: Feind und Freund, Leben und Tod, Nähe und Schuld. Duval wird zum Doppelgänger, zur Wiederkehr von Kemmerich, zu einem Spiegel, in dem Paul seine eigene Menschlichkeit erkennt. Er spricht mit dem Toten, flüstert ihm Versprechen zu, als wolle er ihn wachhalten. Diese Szene erinnert an das, was Georges Bataille die "intime Erfahrung" nannte – das Paradox, dass Nähe nur in der Grenzsituation, im Angesicht des Todes, vollkommen wird.
Hier erreicht Remarques Sprache eine Zärtlichkeit, die in ihrer Einfachheit erschüttert. Der Krieg hat alle Moral zerstört, aber nicht das Bedürfnis nach Berührung. In der Einsamkeit des Granattrichters wird der tote Feind zum einzigen, dem Paul noch menschlich begegnen kann.
Der Rest ist Zärtlichkeit
Vielleicht ist dies Remarques eigentliches Thema: die Zärtlichkeit, die der Krieg übriglässt.
Paul Bäumers Welt ist männlich, wortlos, verroht. Doch in den seltenen Momenten der Schwäche spricht sein Körper, nicht seine Zunge. Die homoerotische Lesart liest diese Szenen nicht als Bekenntnis zur Sexualität, sondern als Widerstand der Empathie gegen die Entmenschlichung. Zwischen Kemmerich und Paul, später zwischen Paul und Duval, zieht sich ein unsichtbarer Faden – der Faden der Zärtlichkeit im Unheil. Sie dürfen nicht lieben, also morden sie. Sie dürfen nicht weinen, also halten sie die Hand des Sterbenden.
Nicht Kameradschaft, nicht Vaterland – sondern die Berührung einer Hand, der Blick in ein Gesicht, das dem eigenen gleicht. Der Roman erzählt nicht von Helden, sondern von Männern, die das Liebenswerte im anderen gerade dann entdecken, wenn sie es vernichten müssen.
Schluss: "Ich wollte dich nicht töten"
Am Ende bleibt ein Satz, der mehr ist als Reue: "Ich wollte dich nicht töten. Hättest du mich überfallen, dann hätte ich dich auch nicht getötet."
In diesem paradoxen Geständnis liegt die Essenz der homoerotisch grundierten Deutung: Die Tat zerstört, was sie zugleich sichtbar macht – das Begehren nach Nähe, nach Berührung, nach einem Du. Der Krieg entblößt den Mann, zwingt ihn zur Zärtlichkeit, um ihn dann daran zu zerbrechen.
So wird "Im Westen nichts Neues" nicht nur zum Anti-Kriegsroman, sondern zum Roman der unterdrückten Zärtlichkeit, zur Tragödie einer Liebe, die nie ausgesprochen werden durfte.
Vielleicht, weil der Frieden sie nie erlaubt hätte.
Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues (Kap. 2 und 9)
Thomas Kühne: Male Bonding and Shame Culture (2008)
Modris Eksteins: Rites of Spring (1989)
Andrea Trocha-Van Nort: "Literature, Identity and Officership" (2016)
Cornelissen, Christoph (Hg.): On World War I, 1914-2019 (2019)
Dietmar Schönherr: "Zärtliche Kameraden", in: Literaturkritik.de (2021)
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