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Interview

"Ich frage mich: Wie sichtbar will ich sein, wie sicher bin ich dort?"

Auf welche Toilette gehe ich? Oute ich mich beim Arzt? Nach Mastektomie in die Sauna? Wir sprachen mit Lio Diona Aigner (Pronomen: they/them, er/ihn) über die täglichen Herausforderungen einer nichtbinären Person.


"Ich frage mich: Wie sichtbar will ich sein, wie sicher bin ich dort?" – Lio Diona Aigner (Bild: Ulrike Brandt)
  • Von Merit Steenbuck u. Jaqueline Busch
    24. Oktober 2025, 07:02h 7 Min.

Lio Diona Aigner (Pronomen: they/them, er/ihn), geboren in Österreich, studiert literarisches Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Neben dem Studium ist die nichtbinäre Person auf Lesebühnen aktiv, veröffentlicht Texte und engagiert sich in queeren Kulturprojekten.

Im Gespräch mit queer.de erzählt Lio von Kindheitserfahrungen, ersten Aha-Momenten auf TikTok, Alltagsproblemen zwischen Arztbesuchen und Toiletten und davon, warum Geschlecht kein starres Entweder-oder sein muss.

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Viele Menschen kennen die Begriffe "nichtbinär" oder "trans" nur aus der Ferne. Wie würdest du dich selbst jemandem beschreiben, der damit wenig vertraut ist?

Ich bezeichne mich als nichtbinäre trans Person. Manche nichtbinären Menschen verwenden "trans" nicht für sich – ich schon. Nichtbinär bedeutet, dass man sich weder ausschließlich als Mann noch als Frau sieht, sondern jenseits oder zwischen dieser Binarität. Trans heißt, dass man sich nicht mit dem Geschlecht identifiziert, das einem bei der Geburt zugewiesen wurde.

Du siehst Geschlecht also als Spektrum?

Ja, genau. Es gibt auch Menschen, die genderfluid sind und zwischen Identitäten wechseln. Man muss keinen festen Platz haben.

Gab es einen Moment, in dem dir klar wurde, dass du dich nicht in die traditionellen Geschlechterkategorien einordnen kannst?

Rückblickend schon als Kind. In meiner Grundschule gab es einen Mädchenwald und einen Bubenwald – und ich wollte in beide. Als ich 17 war, also 2020 im ersten Lockdown, habe ich auf TikTok zum ersten Mal nichtbinäre Menschen gesehen, die Aufklärungscontent gemacht haben. Vorher kannte ich zwar ein paar trans Personen aus meinem Umfeld, aber niemanden, der nichtbinär war. Da habe ich verstanden: Ich muss kein Mann sein wollen, wenn ich keine Frau sein möchte. Das war sehr befreiend.

Du nutzt they/them und er/ihn, am liebsten würdest du aber ganz ohne Pronomen auskommen. Viele sind unsicher, wie sie sprachlich mit nichtbinären Menschen umgehen sollen. Was rätst du?

Einfach probieren und üben. Fehler sind normal. Wichtig ist, sich darauf einzulassen. Ich selbst misgendere manchmal Menschen, weil ich sie schon so stark mit einem bestimmten Pronomen abgespeichert habe. Sprache ist nie perfekt, aber man kann daran arbeiten.

Gibt es Wörter oder Situationen, die für dich besonders verletzend sind?

Am meisten verletzt es mich, wenn ich mit meinem Deadname angesprochen werde. Aber auch viele Kleinigkeiten im Alltag können belastend sein. In Hildesheim lebe ich grundsätzlich in einem sicheren Umfeld – gleichzeitig passieren auch dort diskriminierende Situationen. Queere Freund*innen von mir wurden zum Beispiel schon aus Clubs geworfen, nur weil ihnen vorgeworfen wurde, sie seien auf die "falsche" Toilette gegangen. In Österreich ist es für mich noch schwieriger, weil ich dort nicht in einem so offenen, studentischen und queeren Umfeld lebe wie in Hildesheim. Dazu kommt, dass Österreich strukturell und gesetzlich beim Thema Queerrechte insgesamt noch hinterherhinkt.

Auch mit meiner Mastektomie, also die Entfernung meiner Brust, ist viel Angst verbunden. Ein großer Schritt hin zu meinem wahren Ich. Wenn ich ins Solebad oder in die Sauna gehe, frage ich mich: Wie sichtbar will ich sein, wie sicher bin ich dort? Die Hetze gegen trans Personen ist momentan so stark, dass das wirklich beängstigend ist. Und sie hat reale Folgen: Letztes Jahr wurde Nex Benedict, eine nichtbinäre Person in Oklahoma, von Mitschüler*innen verprügelt und starb am nächsten Tag an den Folgen. Dieser Fall hat mir noch mehr gezeigt, wie sehr die queer- und transfeindliche Gewalt zunimmt.


Die Mastektomie war für Lio "ein großer Schritt hin zu meinem wahren Ich" (Bild: Ulrike Brandt)

Erlebst du solche Situationen auch bei Behörden oder in der medizinischen Versorgung?

Auch Ämter und Arztbesuche sind oft schwierig. Für geschlechtsangleichende Operationen braucht man zahlreiche Gutachten. Einmal dachte ich, ich spare mir den Weg nach Wien, als ich bei meinen Eltern auf dem Land war und ging zu einer Psychiaterin in meinem Heimatort. Dort war ich die erste nichtbinäre Person, die die Ärztin je gesehen hatte. Ich wurde die ganze Zeit misgendert und musste meine Existenz von Grund auf erklären. So etwas ist extrem unangenehm und kann sehr belastend sein, gerade wenn es um dringende Arzttermine geht, bei denen man vorher nicht weiß, wie sicher der Ort ist.

Was bedeutet die Mastektomie für dich?

Ich habe mir diese Operation seit meinem 13. Lebensjahr gewünscht. Für mich war es ein lebensverändernder Eingriff. Ich litt unter starker Gender Dysphorie, die auch zu Depressioen oder Suizidalität führen kann. Meine Eltern haben mich unterstützt, auch wenn es ein Prozess war. Meine Mutter hat die OP vor zwei Jahren noch "Genitalverstümmelung" genannt. Heute begleitet sie mich zu Terminen und engagiert sich in einer Elterngruppe in Wien, bei "Courage". Das hat für uns beide viel verändert.

Du lebst wegen deines Studiums in Deutschland, kommst aber aus Österreich. Gibt es Unterschiede für dich als queere Person?

In Österreich ist es für mich schwieriger. Es gibt kein Selbstbestimmungsgesetz. Den Geschlechtseintrag kann man nur alle zehn Jahre ändern, und "divers" ist nur für intergeschlechtliche Menschen vorgesehen. Ich habe überlegt, meinen Eintrag auf "männlich" zu ändern. Aber in Österreich gibt es die Wehrpflicht. Dann müsste ich zur Musterung, mich outen und erklären, dass ich trans bin. Das ist kein sicherer Ort. In Deutschland ist es einfacher geregelt. Trotzdem gibt es auch hier Unsicherheit: Die AfD greift das Selbstbestimmungsgesetz an. Deshalb habe ich nie das Gefühl, dass unsere Rechte wirklich stabil sind.

Spürst du, dass sich die politische Stimmung gegenüber queeren und trans Personen verändert?

Ja, Transfeindlichkeit ist wieder salonfähig geworden, und das hat ganz konkrete Folgen. Unter Trump wurde es zum Beispiel schwieriger, mit "X" oder ohne Geschlechtseintrag in die USA einzureisen. Und auch in den Großbritannien sieht man, wie Gesetze sich weiter in Richtung Queer- und Transfeindlichkeit entwickeln.

Eine befreundete nichtbinäre Person wollte deren Geschlechtseintrag streichen lassen. Doch dann wurde them eine Landkarte gezeigt, auf der vermerkt war, in welche Länder man ohne Eintrag nicht einreisen kann. Das waren sehr viele. Darunter auch solche, die they noch bereisen wollte. Deshalb hat they sich am Ende doch für einen binären Eintrag entschieden. Insgesamt fühlt es sich an, als ob unsere Existenz politisch verhandelbar gemacht wird. Wir sind vielleicht ein Prozent der Bevölkerung, und trotzdem werden an uns Kulturkämpfe ausgetragen. Laverne Cox hat das mal gut auf den Punkt gebracht: "They're worried about the wrong 1%."

Wie wichtig wäre es, Geschlechtervielfalt auch in Schulen zu behandeln?

Sehr wichtig. Wir als Community leisten so viel Aufklärungsarbeit. Wenn das in allen Schulen stattfinden würde, müssten wir uns nicht ständig selbst erklären. Kinder lernen ja sowieso, dass Menschen unterschiedlich sind. Warum also nicht auch beim Thema Geschlecht?

Ich glaube, es wäre eine schöne Utopie, wenn Geschlecht selbstverständlich vielfältig wäre. Viele indigene Kulturen haben das schon immer gelebt und nichtbinäre Menschen sogar verehrt. In Nordamerika zum Beispiel gibt es die "Two-Spirit", Menschen, die jenseits der Kategorien "Mann" und "Frau" leben. In den meisten wurde jedoch mit der Kolonialisierung die Binarität gewaltsam durchgesetzt. Europa hat Trans- und Homofeindlichkeit weltweit gesetzlich verankert, und nun wird genau diese in Deutschland als Rechtfertigung verwendet, um zum Beispiel geflüchtete Menschen nicht einbürgern zu lassen.

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Hast du Medienempfehlungen für Menschen, die sich mit dem Thema befassen wollen?

Ja. "Sex Education" ist eine tolle Serie, weil dort viele queere Lebensrealitäten gezeigt werden. Und "Blutbuch" von Kim de l'Horizon, eine nichtbinäre Person, die 2022 den Deutschen und Schweizer Buchpreis gewonnen hat. Das Buch habe ich sehr geliebt.

Gibt es ein Zitat, das dir Hoffnung gibt?

Ja, von Dan Savage, einem Aktivisten aus der Aids-Krise: "During the darkest days of the AIDS crisis, we buried our friends in the morning, we protested in the afternoon, and we danced all night. The dance kept us in the fight because it was the dance we were fighting for. It didn't look like we were going to win then, and we did. It doesn't feel like we're going to win now, but we could."

Das ist mein Lieblingszitat. Es zeigt: Natürlich leiden wir unter dem zunehmendem Rechtsruck. Aber gleichzeitig ist Queersein auch bunt, voller Spaß und Gemeinschaft. Wir tanzen. Und genau dafür kämpfen wir.

-w-