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Buchtipp

Der schwule Meister der Melancholie

"Unsere Abende", der neue Roman von Alan Hollinghurst, ist ein reiches, klangvolles Werk – eine melancholische Meditation über Herkunft, Begehren und die Kunst, sich selbst zu erfinden.


Alan Hollinghurst gilt als einer der besten zeitgenössischen britischen Schriftsteller*innen. 1988 veröffentlichte er sein Romandebüt "Die Schwimmbad-Bibliothek". Für seinen vierten Roman "Die Schönheitslinie" wurde er 2004 mit dem den Booker Prize ausgezeichnet (Bild: IMAGO / opale.photo)

In seinem neuesten Roman "Unsere Abende" (Amazon-Affiliate-Link ) erzählt Alan Hollinghurst die Geschichte von David "Dave" Win, einem Mann, der sein Leben lang mit Rassismus, Homophobie und Klassenschranken ringt. Der vielschichtige Roman spannt den Bogen von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart und begleitet seinen Protagonisten vom Internat über die Bühnen der queeren Theaterszene bis ins Alter – als Rückblick eines Mannes, der nie aufgehört hat, um Zugehörigkeit zu ringen.

Als Stipendiat des wohlhabenden Philanthropen-Paars Mark und Cara Hadlow betritt Dave eine Welt der Elite, die ihn fasziniert und befremdet zugleich. "Es gehörte zum Abenteuer, hier zu sein, dass die Hadlows keine Erklärungen abgaben", erinnert er sich. Trotz des Aufstiegs durch die Gunst der Reichen bleibt er stets ein Außenseiter – geduldet, aber nie selbstverständlich. Sein eigentliches Zuhause findet er auf der Bühne: "Aber die ganze Zeit war das Theaterstück mein ganzes Leben", sagt er – und in diesem Satz bündelt sich alles, was ihn antreibt.

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Dave kämpft darum, gesehen zu werden


Hollinghurts Roman "Unsere Abende" ist im September 2025 im Albino Verlag erschienen

Gerade in der ersten Hälfte verliert sich der Roman jedoch immer wieder in kunsthistorischen und kulturellen Anspielungen, die wie eine exklusive Einladung an die Eingeweihten wirken. Hollinghurst schichtet Referenzen aufeinander – Malerei, Theater, Literatur – bis man fast vergisst, dass es um einen Jungen geht, der einfach nur wissen will, wer er ist. Erst in der zweiten Hälfte, wenn die subkulturelle queere Theaterwelt in den Vordergrund rückt, beginnt der Text wirklich zu atmen.

Dave, Sohn einer englischen Mutter und eines birmanischen Vaters, den er nie kennenlernte, erlebt Rassismus und Exotisierung in der Schule und im Theater gleichermaßen. Als Schauspieler kämpft er darum, gesehen zu werden – nicht als "der andere", sondern als Künstler. Immer wieder sucht er nach Solidarität, nach anderen BiPoC-Personen, nach einem Echo seiner eigenen Erfahrung. Und immer wieder wagt er vorsichtige homo­erotische Annäherungen, die selten von Dauer sind. Hollinghurst bleibt hier auffällig unpolitisch: Er beschreibt Diskriminierung präzise, ohne sie je wirklich zu konfrontieren. Oft scheint die Schönheit der Umstände wichtiger als ihr Aufbruch.

Einige Nebenfiguren wirken dagegen schemenhaft: etwa Giles, der Sohn der Hadlows, der später als rechtspopulistischer Politiker Karriere macht. Er steht als billiger Kontrast zu Dave – ein Symbol des weißen, männlichen Privilegs -, doch ihre gemeinsame Geschichte bleibt flach. "Die meisten seiner Vorstellungen über mein Leben und alles, was mir wichtig war, wären lächerlich falsch", denkt Dave über Giles – und man glaubt es ihm sofort, nur wünschte man, der Roman würde diesen Gegensatz stärker und bissiger ausspielen.

Ein Roman, der in seinen leisen Momenten am stärksten ist

Weitaus berührender ist Daves Beziehung zu seiner Mutter Avril, einer Schneiderin, die eine zarte, unausgesprochene Liebe zu ihrer Kundin Esme Croft pflegt. "Ich hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, weil ich an zwei Orten zugleich war: in der Schule mit all ihren wichtigen Gesetzen, und in der Welt einer Frau mittleren Alters, der diese Gesetze vollkommen egal waren", sagt Dave – und in diesem Satz liegt die ganze Wärme und Widersprüchlichkeit des Romans. Avril und Esme leben eine stille Form von queerer Intimität, die Dave prägt, auch wenn Hollinghurst diese weibliche Allianz nie wirklich ausformuliert.

Gegen Ende kehrt der Roman zur Melancholie zurück, die Hollinghurst so meisterhaft beherrscht. Dave blickt zurück, arbeitet an seinen Memoiren, und der Titel "Unsere Abende" bekommt neue Tiefe: Er steht für die Jugendabende voller Sehnsucht, die Abende auf der Bühne, und die ruhigen Abende mit Richard, seinem Ehemann. Diese Beziehung, geprägt von Reife und gegenseitiger Fürsorge, schenkt Dave endlich das, was er sein Leben lang gesucht hat – Verlässlichkeit. "Wir können keine Sicherheit bieten, weil wir oft keine Arbeit haben, und wenn wir Arbeit haben, sind wir oft nicht da, wenn wir gebraucht werden", sagt er – ein Satz, der zugleich über Künstler*innen, Liebende und ganze Generationen von Außenseitern spricht.

"Unsere Abende" ist kein makelloses Buch, doch es ist ein reiches, klangvolles Werk – eine melancholische Meditation über Herkunft, Begehren und die Kunst, sich selbst zu erfinden. Wenn man Geduld mitbringt für seine Langsamkeit und seine Anspielungen, wird man mit einem Roman belohnt, der in seinen leisen Momenten am stärksten ist: dort, wo Hollinghurst seinen Figuren erlaubt, einfach zu leben – ohne Erklärung, ohne Entschuldigung, aber mit Anmut.

Infos zum Buch

Alan Hollinghurst. Unsere Abende. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Bartholomae. 620 Seiten. Albino Verlag. Berlin 2025. Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen: 28 € (ISBN 978-3-8630-0394-4). E-Book: 19,99 €

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